Im Februar in Eboracum unter freiem Himmel schwimmen zu gehen erforderte einen gewissen Wagemut. Daya schien die Kälte nichts auszumachen, und Silus wollte sich nicht von dieser jungen Frau bloßstellen lassen. Also zogen er, Atius und Daya in dem dreißig Schritt langen Schwimmbecken, das im Sommer der beliebteste Teil des Bades, im Winter jedoch verlassen war, ihre Bahnen. Dass außer ihnen niemand hier war, überraschte nicht, waren doch der Schnee, der im Januar noch dicht gefallen war, soeben erst geschmolzen und das Wasser gerade so warm, dass es nicht fror. Silus biss die Zähne zusammen und kämpfte sich mit regelmäßigen Brustschlägen voran. Daya war eine halbe Bahn vor, Atius unmittelbar hinter ihm. Sein Kamerad fluchte laut, schluckte Wasser und hustete.
Sie hatten zehn Bahnen vereinbart. Eine lag noch vor ihm. Er rang bereits nach Luft und die Kälte lähmte seine müden Glieder. Silus schwamm so schnell er konnte, fiel jedoch immer weiter hinter Daya zurück, die schließlich das andere Ende des Beckens erreichte und aus dem Wasser stieg. Sie blieb am Rand stehen und wartete auf Silus. Wasser tropfte von ihrem schlanken, nackten Körper. Als er endlich ankam, hielt sie ihm die Hand hin und half ihm aus dem Becken.
Eine kühle Brise wehte gegen seinen nassen Körper. An der Luft war es noch kälter als im Wasser.
»Bei den Göttern, das war grausam«, sagte Silus.
»Dann schnell ins Caldarium«, sagte Daya und rannte los. Atius stieg am anderen Ende des Beckens aus dem Wasser, ohne seine zehn Bahnen zu Ende zu schwimmen. Er funkelte Daya wütend hinterher, dann sah er Silus an. Der zuckte mit den Schultern und folgte ihr.
Sie liefen eilig durch das Frigidarium und Tepidarium in das Caldarium, sodass sich ihre Körper nicht an den Temperaturunterschied gewöhnen konnten. Die Hitze traf Silus wie ein Schlag. Plötzlich bekam er keine Luft mehr und musste sich anstrengen, um seine Lunge zu füllen. Daya sprang ohne zu zögern direkt in das warme Tauchbecken. Dabei spritzte Wasser auf die Legionäre, die auf den Steinbänken saßen und die Wärme genossen. Sie blickten auf und fluchten. Silus biss die Zähne zusammen und sprang ihr hinterher.
Es war, als tauche er in einen Kessel mit kochendem Wasser. Er konnte die Hitze des Beckens normalerweise selbst dann kaum ertragen, wenn er sich vorher im Caldarium aufgewärmt hatte. Direkt aus der Eiseskälte hineinzuspringen, ohne sich vorher wie ein zivilisierter Mensch in Frigidarium, Tepidarium und Caldarium langsam an die Hitze zu gewöhnen, bereitete ihm so brennende Schmerzen, dass er aufschrie. Silus verließ das Becken so schnell, wie er hineingesprungen war.
»Willst du mich umbringen?«, keuchte er.
Daya blieb noch einen Augenblick im heißen Wasser. »War das nicht fantastisch?«, sagte sie mit einem breiten Grinsen. »Atius, was ist mit dir?«
»Scheiß drauf«, sagte Atius und ließ sich auf eine Steinbank fallen.
»Und so etwas macht dir auch noch Spaß?«, fragte Silus.
»Warum nicht?«, sagte Daya. »Ich lebe, um an meine Grenzen zu gehen. Warum ständig im Tepidarium sitzen, wenn Frigidarium und Caldarium auf einen warten?«
»Worte, die von wenig Lebenserfahrung zeugen«, sagte Atius. »Der Augenblick wird kommen, in dem du dich nach lauwarmem Wasser sehnst.«
Endlich schien Silus’ Körper zu begreifen, dass die Hitze nicht nur vorübergehend war, und öffnete seine Poren. Schweiß lief seine Stirn und seinen Rücken hinunter. »Du bist eine Meisterin im waffenlosen Kampf, eine schnelle Schwimmerin und scheinst weder Hitze noch Kälte zu spüren. Daya, gibt es irgendetwas, das du nicht kannst?«
»Keine Ahnung«, sagte Daya. »Bis jetzt ist mir noch nichts untergekommen.«
»Ich wette, dass sie nicht im Stehen pinkeln kann, ohne sich die Füße nasszumachen«, murmelte Atius.
»Na los, denkt euch etwas für mich aus«, forderte sie Daya heraus.
Atius sah sie nachdenklich an. »Da fällt mir tatsächlich etwas ein. Komm mit.«
Er führte Daya ins Gymnasium, wo bereits mehrere Legionäre und Hilfstruppensoldaten eifrig dabei waren, Gewichte zu heben, Kniebeugen und Liegestütze zu machen oder sich während der winterbedingten Untätigkeit anderweitig in Form hielten.
In der Ecke des Gymnasiums lagen zwei runde Steinkugeln. Ihr Umfang war so groß, dass sie ein Mann mit beiden Armen gerade so umfassen konnte. Atius bezog hinter einer Kugel Position und bedeutete Daya, sich hinter die andere zu stellen.
»Also gut, worum geht‘s?«, fragte Daya wenig eingeschüchtert. Die junge Frau war Atius an Körpergröße sowie Muskelmasse weit unterlegen. Dennoch schien sie nicht an ihrem Sieg zu zweifeln.
»Ganz einfach«, sagte Atius. »Wir heben die Kugel auf und tragen sie bis zum anderen Ende des Raumes. Wer zuerst dort ist, hat gewonnen.«
»Und um welchen Einsatz spielen wir?«
»Wenn du verlierst, musst du mir die beste Hure im Umkreis von hundert Schritt um das Badehaus suchen und mir eine halbe Stunde mit ihr spendieren.«
»Und wenn ich gewinne?«
»Das ist ja wohl recht unwahrscheinlich, oder? Soll ich dir dann einen Lustknaben suchen?«
Sie sah ihn verächtlich an.
»Na schön, dann kaufe ich dir Schmuck in demselben Wert.«
Daya sah zwar nicht so aus, als würde sie sich viel aus solchen Dingen machen, nahm den Vorschlag aber achselzuckend an. Die Wette würde keinen von beiden ruinieren. Die vornehmen Kurtisanen, die es auf hochrangige Offiziere und reiche Bürger abgesehen hatten, trieben sich normalerweise nicht im Badehaus herum. Doch bei diesem Wettkampf ging es nicht um Geld.
»Silus, du bist der Schiedsrichter«, sagte Atius. »Gib das Kommando.«
»In Ordnung«, sagte Silus. »Der erste, der seine Kugel zwischen den beiden Säulen dort hindurchträgt, hat gewonnen. Macht euch bereit, auf drei. Eins, zwei, drei, los!«
Daya und Atius gingen in die Knie, schlangen die Arme um die Steinkugeln und hoben sie auf. Gleichzeitig machten sie die ersten Schritte.
Dayas Start war beeindruckend. Silus hatte schon seine Zweifel gehabt, ob die junge Spionin das Gewicht überhaupt stemmen konnte. Sie hatte auch sichtlich ihre Schwierigkeiten damit, doch sobald sie die Kugel in den Armen hielt, setzte sie langsam, aber stetig einen Fuß vor den anderen.
Doch ihr fehlte die schiere Masse, die Atius mitbrachte. Obwohl auch der größere und ältere Mann keuchte und die Zähne zusammenbeißen musste, waren seine Schritte länger und sicherer. Atius‘ Armmuskeln und die Halsschlagader traten hervor, die Beine waren starr wie Baumstämme.
Bis zu den Säulen waren es etwa zwanzig Schritt. Ungefähr bei der Hälfte lag Atius etwa drei Fuß in Führung. Die Anstrengung war beiden anzusehen. Obschon es im Gymnasium nicht besonders warm war, lief ihnen der Schweiß in Bächen am Körper hinab.
Als Atius etwa drei Viertel des Weges geschafft hatte, war Daya gerade einmal bei der Hälfte. Ihre Beine fingen an zu zittern, ihr Atem ging schwer und pfeifend, ihr Rücken krümmte sich. Da glitt ihr die Steinkugel aus den Händen und fiel auf den Boden, wobei sie ihren Fuß nur knapp verfehlte. Der Aufprall war so heftig, dass eine Fliese brach. Atius sah sich um, doch sein Grinsen verzog sich schnell zur Grimasse. Er setzte die eigene Kugel ab und holte ein paarmal tief Luft.
»Gibst du dich geschlagen?«, fragte er höhnisch.
Anstatt zu antworten ging Daya erneut in die Knie, hob die Kugel unter größten Mühen wieder auf und stapfte mit entschlossener Miene weiter. Entsetzt sah Atius, wie die junge Frau auf ihn zukam, und griff nach seinem eigenen Gewicht. Die Kugel mit bereits ermüdeten Muskeln zu tragen war so anstrengend, dass er bei jedem Schritt grunzte. Das Ziel war noch ein paar Schritt entfernt, dann noch ein paar Fuß. Atius sah sich um.
Die junge Frau holte auf. Das war unmöglich. Nun trennten sie nur noch ein paar Fuß. Atius fing an zu zittern. Seine Beine bebten, und auf dem schmerzverzerrten Gesicht zeichnete sich Verzweiflung ab. Er machte einen Schritt. Noch einen. Silus rechnete damit, dass er die Kugel jeden Augenblick fallen ließ. Und dann würde er sie wohl nicht wieder aufheben können.
Und dann hatte er es endlich geschafft. Er überquerte die Ziellinie und ließ den Stein auf den Boden krachen.
»Atius hat gewonnen!«, verkündete Silus. »Gut gemacht, Daya, großartige Leistung. Du kannst jetzt aufhören.«
Daya antwortete nicht. Sie hatte den Blick fest auf die Ziellinie gerichtet und ging einen Schritt nach dem anderen darauf zu.
»Es ist vorbei, Daya. Du hast verloren«, sagte Atius. »Du hast dich weitaus besser geschlagen als ich gedacht hätte. Ruh dich aus.«
Sie ging mit bleichem Gesicht und bedenklich wackelnden Beinen weiter, als hätte sie die beiden nicht gehört. Die Ader an ihrem Hals pochte in rasendem Tempo.
Silus erschrak. »Daya, hör auf, du tust dir noch weh! Schluss damit.«
Die anderen Besucher des Gymnasiums, die dem Wettkampf anfangs nur flüchtiges Interesse entgegengebracht hatten, hielten in ihren Übungen inne und beobachteten sie. Manche riefen ihr zu, sie solle innehalten. Andere lachten. Wieder andere feuerten sie an. Wie nicht anders zu erwarten wurden Wetten abgeschlossen, ob sie es schaffte oder nicht, und einer setzte sogar darauf, dass sie noch vor dem Ziel tot umfiel.
Schritt.
Für.
Schritt.
Alle sahen wie gebannt zu. Die Zeit schien sich zu dehnen, während sich diese unglaublich hartnäckige junge Frau so langsam wie eine Schildkröte auf die Ziellinie zuarbeitete.
Noch drei Fuß.
Zwei.
Einer.
Sie taumelte über die Linie, ließ die Kugel fallen, brach daneben zusammen und lag keuchend auf dem Rücken da. Ein Sklave eilte mit einem feuchten Tuch zu ihr und tupfte ihren Kopf und Körper damit ab.
Atius und Silus starrten sie staunend an.
»Bei Christus«, sagte Atius. »Was wolltest du uns denn damit beweisen? Du hattest doch schon verloren.«
Allmählich klärte sich ihr Blick wieder und sie sah zu den beiden auf. »Na bitte«, sagte sie zwischen tiefen Atemzügen. »Jetzt gibt es immer noch nichts, das ich nicht schaffe.«
Silus schüttelte lachend den Kopf. »Du bist mir vielleicht eine, Daya. Ich weiß nur nicht so recht, was für eine.«
Er hielt ihr die Hand hin, und als Daya sie ergriff, zog er die junge Frau auf die Füße. Dabei wurde ihr einen Augenblick schwindlig, und sie hielt sich mit der Hand an Silus‘ Schulter fest. Dann stellte sie sich gerade hin und grinste.
»Wie wär’s mit einem Wettlauf?«
»Ich glaube, für heute haben wir uns genug verausgabt«, sagte Silus. »Lassen wir uns massieren.«
»Und danach hätte ich gerne meine Hure«, sagte Atius.
Silus saß an einem Tisch vor dem Bordell, nahm einen Schluck von seinem Bier und betrachtete Daya neugierig. Sie knabberte Esskastanien und trank Wasser dazu. Silus schätzte, dass er etwa fünfzehn Jahre älter war als die angehende Arcana, die über scheinbar unbeirrbares Selbstvertrauen verfügte: Sie hatte den Rücken durchgedrückt, die Gliedmaßen entspannt, und sah sich aufmerksam, geradezu wachsam, aber nicht ängstlich um.
Daya hatte zu ihrem Wort gestanden und Silus‘ Freund eine wunderschöne Hure ausgesucht, eine schon etwas ältere kaledonische Sklavin, und sie bereits für eine halbe Stunde mit Atius bezahlt. Silus beschloss, während des Wartens seine Neugier zu befriedigen. »Also, Mädchen, wo kommst du her?«
Daya nahm einen Schluck Wasser, sah sich um und starrte Silus dann schweigend an.
»Mädchen, hat es dir die Sprache verschlagen?«
»Redest du mit mir?«, fragte Daya.
»Mit wem denn sonst?«, fragte Silus verwirrt.
»Na ja, du hast ein Mädchen angesprochen, aber hier ist weit und breit keines zu sehen.«
Silus seufzte. »Schon gut, schon gut. Aber junge Frau darf ich dich doch nennen?«
Daya legte den Kopf schief und dachte einen Augenblick darüber nach, dann nickte sie. »Damit kann ich leben.«
»Fein, nächster Versuch: Ist das ein syrischer Akzent?« Silus riet einfach darauf los – weder hatte er Britannien jemals verlassen noch viele Vertreter anderer Völker und Kulturen kennengelernt.
Daya schüttelte den Kopf. »Ich bin aus Mauretania. Vom Volk der Mauri.«
Silus versuchte, sich die Karten der Welt in Erinnerung zu rufen, die ihm sein Vater als Kind gezeigt hatte. Er glaubte sich vage daran zu erinnern, dass Mauretania im Westen an die Provinz Africa grenzte. »Und was hat dich hier ans andere Ende des Imperiums verschlagen?«
»Warum willst du das wissen?«
Silus zuckte mit den Achseln. »Mädchen, junge Frau, wie auch immer, jetzt pass mal auf: Du interessierst mich einen Scheiß, aber mir ist langweilig und ich friere mir hier den Arsch ab und wollte einfach nur ein bisschen plaudern. Wir können auch stumm dasitzen, wenn dir das lieber ist.«
Daya nahm einen weiteren Schluck Wasser und Silus fand sich damit ab, sich bis zum Ende von Atius‘ halber Stunde zu langweilen.
»Meine Mutter und ich wurden von Piraten entführt, als ich noch klein war. Mein Vater wurde getötet, als er versuchte, uns zu befreien. Wir wurden in die Sklaverei verkauft.«
Silus nickte und wartete ab, ließ Daya so viel Zeit, wie sie brauchte, um ihre Geschichte so ausführlich zu erzählen, wie sie es wollte. »Ein Händler aus Byzanz hat uns gekauft. Er war viel auf Reisen und nahm meine Mutter als Mätresse mit. Sie wurde schwanger und starb im Kindbett. Meine kleine Schwester wurde nur ein paar Tage alt.«
So weit, so gewöhnlich, dachte Silus. Ähnliche Schicksale spielten sich jedes Jahr tausendfach im Imperium ab. Dennoch tat sie ihm leid. Auch Silus hatte eine harte Kindheit durchstehen müssen, doch er war nie Sklave gewesen, und auch seine Frau und seine Tochter waren frei geboren. Er wollte sich gar nicht vorstellen, wie sehr die Seele darunter litt, wenn man jemandes Besitz und der Willkür seines Herrn oder seiner Herrin hilflos ausgeliefert war, wenn man zur Arbeit gezwungen und geschlagen oder missbraucht wurde oder jederzeit getötet werden konnte.
»Das tut mir leid«, sagte Silus und wusste genau, wie hohl es klang.
Daya machte eine wegwerfende Geste. »Ich blieb im Domus des Händlers in Rom und wurde von den Haussklaven aufgezogen. Die Herrin des Hauses hatte meiner Mutter immer gegrollt, weil sie ihrem Ehemann so nahe gewesen war, und konnte mich deshalb wahrscheinlich auch nicht ausstehen. Ich musste Hausarbeit erledigen und wurde für jede Kleinigkeit geschlagen oder ausgepeitscht. Die Herrin war nicht ganz richtig im Kopf. Sie trank Unmengen von unverwässertem Wein, schlug im Jähzorn blindwütig um sich. Einmal hat sie eine Sklavin die Treppe hinuntergestoßen. Sie brach sich das Bein und konnte danach nur noch humpeln. Der Vater der Sklavin, der Majordomus des Hauses, verlor darüber die Beherrschung und schlug die Herrin. Er wurde gekreuzigt.«
Das war schon ungewöhnlicher, dachte Silus. Kein Mädchen sollte so aufwachsen müssen! Ein stämmiger Mann mittleren Alters ging an ihnen vorbei in das Bordell, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Daya sah ihm hinterher, bis er außer Hörweite war.
»Und dann?«, fragte Silus. »Wie hast du es geschafft zu entkommen?«
»Der Herrin ging das Geld aus, aber sie trank weiterhin nur den besten Wein. Sie hätte einen Liebhaber gebraucht, der sie aushält, aber die alte Säuferin wollte niemand. Also musste sie ihr Hab und Gut verkaufen. Möbel. Schmuck. Mich.«
»Verstehe. Und wer war dein nächster Herr? Oder war es eine Herrin?«
»Dieses grässliche Weib war meine letzte Besitzerin.«
Silus hob die Augenbrauen. »Das heißt, du bist …«
Daya nickte. »Weggelaufen.«
Silus stieß einen leisen Pfiff aus. »Weiß Oclatinius, dass er dabei ist, eine entlaufene Sklavin zu rekrutieren?«
»Selbstverständlich«, gab Daya erbost zurück.
Selbstverständlich, dachte Silus. Oclatinius würde niemanden in die Reihen der Arcani aufnehmen, den er nicht vorher auf Herz und Nieren geprüft hatte.
»Aber damit ist deine Geschichte noch nicht zu Ende, oder? Von einer in Italien entlaufenen Sklavin zur angehenden Arcana in Nordbritannien ist es in jeder Hinsicht ein weiter Weg.«
»Warum bist du so neugierig? Ich habe das doch alles schon Oclatinius erzählt.«
»Ich sage doch, mir ist langweilig. Außerdem könnte es ja sein, dass wir irgendwann zusammenarbeiten. Da habe ich das Recht zu wissen, mit wem ich es zu tun habe, findest du nicht?«
»Du hast kein Recht zu gar nichts«, fauchte Daya. »Ich habe nur einem einzigen Mann die Treue geschworen. Alle anderen müssen sich mein Vertrauen erst verdienen.«
Silus öffnete den Mund zu einer Erwiderung, schloss ihn aber wieder. Er war nie Sklave gewesen und wusste deshalb auch nicht, wie man mit so einer Demütigung umging. Beschwichtigend hob er die Hände. »Erzähl mir doch einfach, was du für richtig hältst.«
Daya überlegte, dann nickte sie. »Ich konnte zwischen leeren Gemüsesäcken auf einem Fuhrwerk, das auf dem Rückweg zu seinem Latifundium war, aus Rom fliehen. Als wir ein paar Meilen von der Stadt entfernt waren, entdeckte mich der Fuhrmann und rannte mir hinterher, aber ich zählte damals bereits fünfzehn Sommer und er war zu fett, um mich zu erwischen. Ich versteckte mich auf dem Land und bestahl die Bauern, um nicht zu verhungern.«
»Das war mutig. Und kein Zuckerschlecken. Angeblich ist mit den Sklavenjägern in Italien nicht zu spaßen. Gibt es hier nicht auch Banditen? Allein kannst du doch unmöglich lange durchgehalten haben.«
»Stimmt. Ich wurde leichtsinnig, und eines Tages hat mich ein Sklavenhändler erwischt. Ein grausamer Kerl. Er hat mich geschlagen, mir einen Eisenring um den Hals gelegt und mich in einen Käfig auf seinem Karren gesteckt, um mich zurück nach Rom zu bringen.«
»Hat man dich ein zweites Mal versklavt?«
»Nein. Ich wurde gerettet.«
»Gerettet? Wer bitte schön rettet denn eine entlaufene Sklavin? Spartacus ist schon lange tot.«
»Bulla Felix«, sagte Daya nüchtern.
»Wie bitte?«
»Seid gegrüßt, Brüder«, sagte Atius, der mit rotem Gesicht und wirren Haaren aus dem Bordell geschlendert kam.
Silus sah mit offenem Mund erst Atius und dann wieder Daya an. »Wie war das?«
»›Seid gegrüßt‹, habe ich gesagt«, sagte Atius.
»Doch nicht du, du Idiot«, sagte Silus, woraufhin Atius leicht gekränkt wirkte. Silus beachtete ihn nicht. Er ließ Daya nicht aus den Augen
»Bulla Felix hat mich gerettet«, sagte Daya und nahm einen großen Schluck Wasser.
Atius war verwirrt. »Wer? Was? Wann?«
»Atius, setz dich, bestell dir was zu trinken und hör einfach nur zu. Daya erzählt gerade, wie sie nach Britannien gekommen ist. Sie ist eine entlaufene Sklavin und wurde von Bulla Felix gerettet.«
»Wer ist das denn?«, fragte Atius.
Silus wartete darauf, dass Daya es ihm erklärte, doch sie machte keine derartigen Anstalten. Silus seufzte. »Bulla Felix war ein Bandit, der zwei, drei Jahre lang mit einer Bande von sechshundert Mann die italienische Halbinsel unsicher gemacht hat«, erzählte er Atius. »Wie lange ist das jetzt her, fünf Jahre?«
Daya nickte.
»Und Bulla Felix hat dir auch das Kämpfen beigebracht?«
»Genau«, sagte Daya. »Er hat mich unter seine Fittiche genommen und mich ausgebildet. Er war ein wahrhaft großer Mann. Tapfer, kultiviert, stark und ein hervorragender Krieger. Er hat nur das geraubt, was er für gerecht hielt und die Beute unter den Einheimischen verteilt.«
»Ah, ein Schurke mit goldenem Herzen«, bemerkte Atius abfällig.
»Du weißt nicht, wovon du redest«, sagte Daya mit tiefer, bedrohlicher Stimme. »Also hüte deine Zunge.«
»Atius, es gibt doch so viele Geschichten über Bulla Felix«, sagte Silus. »Kaum zu glauben, dass du noch nie von ihm gehört hast. Einmal hat er zwei von seinen Männern gerettet, die zum Tod in der Arena verurteilt waren, indem er sich als Provinzstatthalter verkleidet und dem Gefängniswärter weisgemacht hat, dass er Gefangene für eine ganz bestimmte Arbeit bräuchte. Der Wärter persönlich hat Bullas Männer ausgesucht, weil sie am ehesten auf seine Beschreibung zutrafen, und ihm ausgehändigt. Einmal hat er einen Zenturio, der auf der Jagd nach ihm gewesen war, gefangengenommen und ihm nach einem Scheinprozess den Kopf nach Sklavenart geschoren. Dann hat er ihn freigelassen und seinen Herren ausrichten lassen, dass sie ihren Sklaven zu essen geben sollen, wenn sie nicht wollen, dass sie auch Banditen werden.«
»Na schön, wahrscheinlich würde ich mich ganz gut mit ihm verstehen, wenn ich ihn mal kennenlerne«, sagte Atius.
»Er ist tot«, sagte Daya, und in ihrer Miene war ehrliche Trauer zu erkennen.
»Habt ihr miteinander geschlafen?«, fragte Atius geradeheraus.
»Nein!«, sagte Daya energisch. »Wir sind nie …« Sie verstummte und errötete, was so gar nicht ihrem Wesen entsprach.
»Der Kaiser war außer sich vor Wut«, sagte Silus, um den unangenehmen Augenblick nicht noch in die Länge zu ziehen. »Niemandem gelang es, Bulla Felix zu fassen, und er ließ keine Gelegenheit aus, die Obrigkeit zum Gespött zu machen. Severus schickte einen Militärtribun mit einer Prätorianereinheit los. Er stellte den Tribun vor die Wahl, entweder mit Bulla zurückzukehren oder selbst hart bestraft zu werden.«
»Dann haben die Prätorianer zur Abwechslung mal etwas Sinnvolles getan?«, fragte Atius.
»Die haben nichts dazu beigetragen«, sagte Daya. »Er wurde verraten.«
»Wirklich?«, fragte Silus. »Ich dachte, die Prätorianer hätten ihn schließlich aufgespürt.«
Daya schüttelte den Kopf. »Bulla hatte eine Affäre mit der Frau eines seiner Soldaten. Der erfuhr davon und rächte sich, indem er den Prätorianern verriet, wo sie ihn finden konnten.«
»Also hat ihn Severus am Ende doch bezwungen«, sagte Atius. »Wie alle, die sich ihm in den Weg gestellt haben.«
«Bulla wurde den wilden Tieren in der Arena vorgeworfen«, sagte Daya. »Viele seiner Leute waren heimlich dort, um Zeuge seines Todes zu werden. Er war tapfer bis zum Ende. Der Kaiser persönlich war zugegen, und ich war ihm so nahe, dass ich sein Gesicht sehen konnte. Er hatte weder Mitleid mit seinem besiegten Feind, noch bewunderte er ihn. Er hatte nur Verachtung für ihn übrig.«
Sie hielt kurz inne. »Danach gingen alle ihrer Wege. Ohne Bulla waren wir nichts.«
»Ganz offensichtlich war er ein guter Anführer«, sagte Silus. »Jetzt weiß ich aber immer noch nicht, wie es dich hierher verschlagen hat.«
Daya schwieg. Sie schien einen inneren Kampf auszufechten. Silus und Atius warteten, bis sie aus freien Stücken bereit war, weiterzuerzählen.
Sie öffnete den Mund, dann schien sie etwas hinter Silus zu bemerken. Silus drehte sich um. Zwei Prätorianer in voller Rüstung näherten sich ihnen in schnellen Schritten. Er wunderte sich erst, weshalb sie das Bordell in dieser Aufmachung besuchten, bevor er begriff, dass sie ihretwegen hier waren.
Die Soldaten blieben vor ihm stehen und salutierten. »Zenturio Gaius Sergius Silus?«
Silus hatte sich noch nicht daran gewöhnt, als Zenturio angesprochen zu werden. Da er keine Zenturie kommandierte, verstand er es als reinen Ehrentitel. Er nickte.
»Oclatinius Adventus entbietet seine Grüße. Er hat uns gesagt, dass Ihr hier zu finden seid.«
»Und was will er?«
»Gehe ich recht in der Annahme, dass es sich bei diesen beiden in Eurer Begleitung um Atius und Daya handelt?«
»Ja. Und nun sprich.«
»Oclatinius will Euch sofort in seiner Amtsstube sehen.«
Silus kniff die Augen zusammen. »Weshalb?«
»Oclatinius hat vorausgesehen, dass Ihr diese Frage stellen würdet, und mir aufgetragen, sie mit ‚Befehl ist Befehl, du unverschämter Scheißkerl‘ zu beantworten.«
Atius prustete los, doch sein Gelächter verebbte schnell unter dem strengen Blick des anderen, bislang schweigenden Prätorianers.
»Er hat uns ermächtigt, euch Folgendes auszurichten: Der Kaiser Lucius Septimius Severus Augustus Parthicus Britannicus ist tot.«
Silus, Atius und Daya sahen sich in stummer Fassungslosigkeit an.
Atius fand als erster die Sprache wieder. »Scheiße.«