Die Festung Zarm’buck befand sich im Westen von Flabka, nördlich des neutralen Täfkans. Zarm’buck war ganz in schwarz gestrichen. Am Tage durfte die Festung ruhig auffallen, aber nachts, wenn die ganze Welt unter einer dunklen Decke verborgen war, tauchte sie in das nächtliche Schwarz und wurde eins mit der Dunkelheit. Einer Laune des Architekten war es zu verdanken, dass die Festung weitaus mehr Türme als nötig besaß.
Die Festung gehörte einer adeligen Familie des Landes Flabka. In Flabka war es nicht verboten, Menschenhandel zu betreiben, und so hatte sich die Familie Zarm’buck eine Reihe Sklaven angeschafft. Da es mehr Kinder auf dem Markt gab als Volljährige, hatten sie auch eine Menge Kinderbedienstete. Die meisten waren einmal Straßenkinder oder Waisen gewesen. So auch Synarek.
Synarek wusste nichts über sein früheres Dasein, denn seine Erinnerung ließ ihn im Stich, wenn er darüber nachforschte, wer er war. Fest stand nur, dass er ein Waisenkind war, aus einem Waisenhaus genommen und an dieses Haus verkauft. Synarek verbreitete eine düstere Aura, und sein etwas längeres schwarzes Haar, das ihm strähnenweise über den kalten, grau-blauen Augen hing, unterstrich diesen Eindruck noch.
Seine dunklen Lippen waren schmal und sein Blick oft finster, und wann immer man ihn ansah, schien es, als ob er tief in Gedanken in einer anderen Welt weilte, außer wenn man ihn direkt ansprach und er einem die volle Aufmerksamkeit schenkte.
Er war so groß wie die meisten anderen Jungen in seinem Alter und wurde nur von wenigen anderen überragt.
Nachdem er einige Male versucht hatte, aus der Festung zu entkommen wurde Synarek im höchsten Turm einquartiert. Es kam vor, dass sie ihn darin einschlossen. Da es der höchste Turm war, konnte er nicht aus dem Fenster springen, ohne dabei sein Leben zu riskieren.
Die anderen Jungen waren auf die anderen Türme oder Korridore verteilt. Synarek war der Einzige in seinem Alter, der im großen Turm wohnte. Ein paar Stockwerke weiter unten wohnten ein paar junge Zauberlehrlinge, die vom Meister des Hauses in der Dämonenlehre unterrichtet wurden. Der Meister des Hauses war ein begabter Meister der Dämonenzauberei, und er unterrichtete schon seit vielen Jahren Schüler. Synarek hatte sie am Anfang gefürchtet und war ihren Blicken ausgewichen, als sie ihn morgens die Treppe hinunterlaufen gesehen hatten.
Doch mit der Zeit hatte er bemerkt, dass die Lehrlinge viel zu eitel waren, um einen einfachen Bediensteten wie ihn zu beachten, und seine Angst vor ihnen war gewichen. Trotzdem ging er ihnen lieber aus dem Weg, wie er am liebsten allen anderen Menschen aus dem Weg gegangen wäre.
Mittlerweile wurde er nicht mehr eingesperrt, da ein Wächter das Treiben im Turm kontrollierte, nachdem ein paar Lehrlinge Dummheiten mit ihren Dämonen angestellt hatten, als ihr Lehrer nicht da war. Der Wächter und seine Dämone hielten auch ein Auge auf ihn gerichtet.
Synareks Fluchtversuche und seine häufigen Schwierigkeiten mit den anderen Jungsklaven hatten schon öfters für Ärger gesorgt. Der Herr wollte ihn jedoch nicht freilassen, schließlich hatte er für ihn bezahlt. Sein Spitzname war Graf Geizhals. So war es unmöglich, sich vorzustellen, dass er Synarek einfach so gehen ließe, obwohl es wahrscheinlich für alle das Beste gewesen wäre. Man hatte schon versucht, ihn weiterzuverkaufen, aber niemand wollte ihn. Er war zu dürr, um wirklich harte Arbeit zu verrichten oder im Krieg zu kämpfen, außerdem schreckte sein Aussehen die Damen der Häuser ab. Und so befand er sich weiterhin in einem Turm, überwacht von einem Wachmann und Dämonen. Letztere konnte Synarek nicht sehen, aber manchmal, wenn er die Treppe hinunterlief, konnte er die Dämonen hören, ihr Zischen, und manchmal schien es ihm, als würden sie lachen. Gelegentlich glaubte er, Gespräche zu hören, doch er hörte nicht zu, er blendete sie einfach aus. Mehr als alles andere jedoch spürte er ihre Anwesenheit. Waren die Dämonen oder ihre Herren gut gelaunt, so konnte ihre Atmosphäre sogar ganz angenehm sein, waren sie aber schlecht drauf, so lag ihre Anwesenheit wie Gift in der Luft. Synarek und einige andere Bedienstete hatten Erfahrung damit, dass man besser brav war und alle Anweisungen genau so befolgte, wie der Meister es wollte, auch wenn er nicht da war, denn seine unsichtbaren Dämonen sahen alles und jeden und konnten jeden, der gegen irgendeinen Befehl innerhalb der Schlossmauern verstieß, sehr unangenehm bestrafen.
Synarek hatte ein sehr großes Interesse an den Dämonen entwickelt und sich schon oft gewünscht, er hätte die Fähigkeit, sie heraufzubeschwören, um sie für seine Zwecke zu benutzen und so viel wie möglich über sie zu erfahren. Er konnte kaum lesen, der einzige Grund, wieso er überhaupt lesen und sogar ein bisschen schreiben konnte, war, weil er für einige Jahre für den Meister persönlich Sachen hatte schreiben und abschreiben müssen. Meistens hatte er keine Ahnung gehabt, um was es in den seltsamen Dokumenten, teilweise auch Briefen, ging. Der Meister hatte ihn absichtlich in seinen jungen, unwissenden Jahren ausgewählt, so dass er den Sinn seiner Dokumente nicht verstand. Nachdem er etwas älter geworden war, wurde er auch gleich durch einen neuen, jüngeren Gehilfen ersetzt. Für Synarek war das Schreiben und Lesen eine Qual gewesen, doch manchmal erwies es sich als nützlich, es zu können. Um es nicht zu vergessen, hatte Synarek irgendwann einmal angefangen, an die Wände im großen Turm zu schreiben, die ihm gehörten. Eigentlich bewohnte er nur das riesige Zimmer im allerhöchsten Stock direkt unter dem Dach, aber da in den beiden Stockwerken darunter niemand wohnte, hielt er sich gelegentlich auch in dem Stock unter seinem auf, dessen Fläche in mehrere kleine Räume zerteilt worden war. Seit er nicht mehr eingesperrt wurde, hatte er angefangen, die Räume unter seinem Raum zu erkunden und auch hier Notizen an die Wände zu schreiben. Manchmal waren es Wörter, manchmal Sätze.
Der Hauptgrund dafür, das Lesen zu praktizieren, war für Synarek, dass er davon träumte, eines Tages vielleicht doch die Dämonen studieren zu dürfen. Dazu musste er sich durch dicke Bücher der Zauberei wälzen. Er hatte den Meister einmal zu einigen Schülern sagen hören, dass man so jung wie möglich damit anfangen sollte.
Laute und energische Schritte holten ihn aus seinen noch wirren Gedanken und lenkten seine Aufmerksamkeit zu der großen Tür, die sein großes, rundes Zimmer schloss. Er hatte die mottenzerfressenen Vorhänge über die kleinen, teilweise vergitterten Fenster gezogen, so dass es stockdunkel in seinem Zimmer war. Die Kerzen waren erloschen und die Tür geschlossen. Normalerweise funktionierte seine innere Uhr, und er wusste schon, bevor die große Glocke dreimal läutete, dass er aufzustehen hatte. Doch heute schwante ihm, dass er zu lange geschlafen hatte, denn normalerweise kam nie jemand zu ihm nach oben, schon gar nicht mit dieser Geschwindigkeit. Während er sich seufzend aufsetzte, wurde die Tür auch schon aufgeschlagen, und Licht drang von der Tür zu ihm herein, sodass er blinzeln musste. Instinktiv hielt er sich die Hand schützend vors Gesicht.
Eisiger Wind wehte durch die Tür herein.
»Idiot, was tust du noch hier?«, bellte eine dunkle Stimme ihn an, und der Junge erkannte sie als die von Zabban, dem Aufpasser über das junge Personal. Er schien rasend vor Wut.
»Tut mir leid«, knurrte Synarek und rappelte sich auf. »Ich habe das Läuten nicht gehört, es soll nicht wieder vorkommen.«
»Das will ich doch auch stark hoffen, sonst gibt es eine Menge Ärger!«, drohte ihm der Aufpasser und warf ihm einen finsteren Blick zu: »Sieh mich an, wenn ich mit dir rede!«
Widerwillig hob Synarek den Kopf und sah Zabban in die dunklen Augen.
»Beeil dich, ich will dich unten sehen, bevor die Lehrlinge zum Frühstück eintreffen«, donnerte Zabban, und als er sah, wie Synarek aufstand und sich noch etwas schlaftrunken in Bewegung setzte, machte er in der Tür kehrt und rannte mit hallenden Schritten die Treppen hinunter. Noch immer vom Licht geblendet torkelte Synarek zu der kalten Truhe, in der seine wenigen Habseligkeiten zusammengefalten lagen, alle versehen mit dem Wappen und in den Farben des Hauses Zarm’buck. Im Hof konnten die Bediensteten sich Wasser aus dem Brunnen holen, um ihre Wäsche zu waschen. Weil aber das Wasser knapp war und in erster Linie für die Adeligen und Lehrlinge verwendet werden sollte, durften die Bediensteten ihre Wäsche nur zweimal im Monat waschen, wenn der Meister gnädig gestimmt war, auch öfters. Deshalb versuchten sich die Diener stets so sauber wie möglich zu halten. Rasch schlüpfte er in die ersten Stücke aus seiner Truhe. Er formte seine Hände zu einer Schale und tauchte sie in eine kleine Schüssel mit Wasser, die neben der Truhe stand. Gesicht und Hände mussten jeden Morgen gewaschen sein.
Der Junge hob eine große Scherbe auf, die auf dem Boden lag, und betrachtete sich darin. Sie stammte von dem zerbrochenen Spiegel eines der Lehrlinge. Er hatte sie aufgehoben und gehütet. Nun sah er sich selbst müde und auf eine seltsame Weise tot darin. Die Haut war aufgrund der seltenen Begegnung mit der Sonne blass und sah ungesund aus. Sein Gesicht war schmal und sein Blick trüb. An diesem Morgen fielen ihm besonders seine Augenringe auf. Bildete er es sich ein oder glänzten sie leicht lila? Mehr wollte und konnte er nicht sehen, und er sprang hektisch auf und stolperte die Treppe hinunter, während er noch einmal über seine Kleidung strich. Als er den Speisesaal erreichte, hatte sich dort schon eine Menge anderer Bedienstete versammelt. Sie warfen ihm gehässige Blicke zu, als er durch die Tür geeilt kam, und er setzte einen scheinbar gelangweilten Blick auf.
»Du bist zu spät«, bemerkte eine trockene Stimme.
Synarek starrte die Rückseite des Sprechers an. Der Junge hatte kurzes rotes Haar, aber nicht so kurzes wie der Junge neben ihm, von dessen Haaren nur noch dunkle Stoppeln übrig waren. Sahnil, der rothaarige Sprecher, drehte sich langsam zu ihm um und warf ihm einen spöttischen Blick zu: »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?«
»Was willst du von mir hören?«, antwortete Synarek gelassen und blickte den Rothaarigen mit einem unergründlichen Blick an.
Synarek hatte keine Freunde. Die anderen hatten sich gegen ihn verbündet. Es gab immer einen Außenseiter, und hier war Synarek dieser Außenseiter.
Er war das Opfer, das nicht nur die schlechten Launen seines Herren, sondern auch die seiner Mitbediensteten ertragen musste. Das hatte ihm zu schaffen gemacht, als er jünger war. Jetzt war er kalt wie Eis.
Sahnil stieg von dem Hocker herunter, auf dem er gestanden hatte. Jetzt war er genau auf Augenhöhe mit Synarek, vielleicht sogar ein oder zwei Zentimeter kleiner als er.
»Werd nicht frech hier!«, sagte er drohend und ziemlich leise, während er sein Gesicht näher zu Synareks schob.
Synarek wich etwas zurück und sagte mit kalter Stimme: »Was ist meine Aufgabe?«
Als er jünger gewesen war, war alles noch schlimmer gewesen. Damals hatte er noch nicht diese düstere Aura, die andere abschreckte, und trug noch die Haare so kurz, wie die der anderen. Er war lange Zeit klein gewesen und dazu ungeschickt und schlaksig. Die anderen hatten einen Spaß gehabt, ihn herumzuschubsen, zu schlagen und einfach ihre ganzen angestauten Aggressionen an ihm auszulassen. Etwas, was Synarek beibehalten hatte, war, dass er nicht viel sprach. Vielleicht hatte ihn das, neben seiner Größe, zum Opfer gemacht.
»Hier.« Sahnil deutete auf den kleinen Küchentisch neben sich: »Nito hat schon angefangen, den Tisch zu decken, hilf ihm, und da du um einiges zu spät gekommen bist und Nito den Anfang ganz alleine machen musste, wirst du den Tisch alleine abräumen.«
Synarek antwortete mit einem Nicken und machte sich gleich an die Arbeit, schließlich wollte er so schnell wie möglich aus der Küche kommen.
Mit der Zeit war Synarek gewachsen, und mit ihm auch seine Haare und sein Hass. Still entzündete sich eine wütende Flamme in ihm. Seine geheimnisvolle, bösartige Aura wurde geboren. Seine neue Größe ermutigte ihn dazu zu widersprechen und sich zu verteidigen, was ihn auf der Beliebtheitsskala nicht weiter nach oben brachte.
Nito und Synarek deckten den Tisch schweigend und zogen sich dann zurück. Nachdem die Lehrlinge gefrühstückt hatten, räumte Synarek alleine ab und bekam seinen nächsten Auftrag. Gelangweilt zog er mit dem Putzzeug in den Drachenturm, den er von seinem Turm aus sehen konnte. Alle Türme trugen furchteinflößende Namen, die mögliche Eindringlinge abschrecken sollten.
Bevor Synarek in den großen schwarzen Turm verbannt worden war, hatte er selbst einmal im Drachenturm gelebt. In den unteren Räumen ähnelten sich die beiden Bauten, aber da der schwarze Turm viel höher war als der Drachenturm, war es dort viel kälter, besonders unter dem Dach, in Synareks Zimmer.
Die Kälte hatte viel Zeit gehabt, um von ihm Besitz zu ergreifen und es sich in ihm gemütlich zu machen. Sie wollte ihn nie wieder verlassen.
Während er die Gänge schrubbte, tauchten in ihm Bilder auf aus der Zeit, als er im Drachenturm gelebt hatte. Er erinnerte sich dumpf daran, wie ihn die anderen einmal die Treppe heruntergeschubst hatten und er mit schmerzendem Rücken unten liegen geblieben war. Als ob das nicht gereicht hätte, hatten sie ihm noch das eiskalte Wasser aus dem Putzeimer über den Kopf gekippt. Es war im Winter gewesen, und in der Folge hatte er sich erkältet. Zabban hatte ihn angebrüllt, was für ein Dummkopf er doch sei, ungeschickt, die Treppe herunterzufallen, und dann auch noch das Wasser zu verschütten und zu allem Überfluss auch noch zu erwarten, dass er im Bett bleiben dürfe. Sahnil habe ihm genau erzählt, was passiert sei. Ausgerutscht auf der Treppe sei er. Widerrede von Synareks Seite war verboten, denn Zabban wollte nichts hören. So hatte er mit schmerzendem Rücken und einer furchtbaren Erkältung arbeiten müssen. Jeder Husten hatte ihm einen feurigen Schmerz durch Hals und Rücken gejagt. Das war einer der Momente, in denen er dachte, er müsse sterben. Doch ihm wurde bald klar, dass es zwei Sorten von Menschen gibt. Die einen fielen bei Erkältungen um und mussten kuriert werden, die anderen litten genauso unter der Krankheit, doch ihr Immunsystem entwickelte irgendwann eine natürliche Abhärtung gegen bestimmte Krankheiten. Synarek gehörte zu dieser zweiten Sorte. Er hustete und schniefte wochenlang, bis sein Körper, gezwungen zu arbeiten, die Krankheit besiegte und ihn resistenter werden ließ. Synarek war selten krank, und wenn der seltene Fall eintrat, dann stets verbunden mit so hohem Fieber, dass an arbeiten nicht mehr zu denken war. Missmutig schrubbte er weiter und dachte daran, wie lange er jedoch noch Rückenschmerzen gehabt hatte.
Plötzlich spürte er ein unangenehmes Prickeln auf seinen Armen, seinem Rücken und seinem Nacken, sodass er stehen blieb. Ein Schauer fuhr durch seinen gesamten Körper, und er schloss für einen Moment die Augen. Nichts rührte sich. Er öffnete die Augen wieder, nur um sie sofort wieder zu schließen. Geflüster war zu hören, weit weg, so kam es ihm vor, aber doch klar zu verstehen.
»Es ist doch so langweilig hier, ich hasse es, ihnen zu dienen. Sobald ich wieder frei bin ...«
»... das kann allerdings noch dauern.«
»Wieso laufen hier nur ständig diese dämlichen Gartenzwerge mit Wascheimern herum?«
Synarek riss die Augen auf sah sich suchend nach den Dämonen um. Er wollte ihnen nicht zuhören, wollte sich von jeder Schuld fernhalten. Einem Gespräch zu lauschen, das nicht für seine Ohren bestimmt war, könnte unangenehm werden, doch die Worte der Dämonen stimmten ihn zornig. Gartenzwerge mit Wascheimern?
»Wir sind genauso versklavt, wie ihr es seid«, sagte er ins Leere.
Auf einmal war alles wieder still, der eisige Hauch verschwand ebenso schnell, wie er gekommen war, und nichts blieb.
Und doch blieb nichts, wie es war.