Kapitel 6 – Die verräterische Fluchtkarte

Yxes konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, was hier um sie herum geschah, und was die Jungen über die Kriegssituation gesagt hatten. Die Vorgänge im anderen Waisenhaus machten ihr Angst. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sich ein Waisenhaus einfach auflöste.

Während sie gedankenversunken in ihrem Zimmer saß und aus dem Fenster blickte, trat ihr Bruder ins Zimmer: »Yxes, wird unser Waisenhaus auch schließen?«

Verwundert drehte sich Yxes zu ihrem Bruder um und antwortete: »Nein, das glaube ich nicht.«

»Bist du sicher?«, fragte Altin misstrauisch.

»Wieso fragst du?«, wollte Yxes wissen.

»Derf hat gesagt, dass einige Betreuerinnen verschwunden sind. Die Erzieherinnen Evy und Iza habe ich schon seit einigen Tagen nicht mehr gesehen«, antwortete Altin.

Nervös biss sich Yxes auf die Lippe, denn Altin hatte ihre Befürchtung ausgesprochen, die nun in Worte verpackt nicht mehr nur in ihrem Kopf herumgeisterte, sondern solide im Raum stand. Um sich selbst und ihren Bruder zu beruhigen, antwortete sie, ohne darüber nachzudenken, was sie sagte: »Die sind feige! Der Rest wird nicht gehen!«

»Hast du den Leiter des Waisenhauses gefragt?«, wollte Altin wissen.

»Äh ... nein«, antwortete Yxes.

»Kannst du ihn fragen?«, bat Altin sie.

»Wenn du willst«, brummte Yxes und stand auf. »Hoffentlich ist er überhaupt da.«

Arise, die gerade ins Zimmer eintrat, begleitete Altin und Yxes kurz entschlossen, und sie hatten Glück, den Direktor in seinem Büro vorzufinden. Er saß tief über seinen Schreibtisch gebeugt und kritzelte etwas auf ein Blatt Papier, ohne die drei zu bemerken. Auf seinem Schreibtisch stand ein kleines Schild, auf dem Direktor Hanzel stand.

»Frieda, ich habe eine kürzere Strecke gefunden, die uns erlaubt, in Yskùl anzuhalten, und deine Schwester ...«, begann der Mann, aber als er aufblickte und die drei Kinder statt Frieda erblickte, brach er abrupt ab und versuchte, das Blatt, auf dem er gerade noch skizziert hatte, unauffällig unter einen Stapel Papier zu schieben, aber Yxes hatte schon gesehen, was es war. Es war eine Straßenkarte, auf der mit roten Linien ein Weg markiert war und die die Aufschrift Fluchtkarte trug.

Die plötzliche Gewissheit ließ ihr Tränen in die Augen treten, und ihre Sicht verschwamm.

»Setzt euch doch!«, sagte der etwas dickliche Mann zögernd, und als sie saßen, fragte er plötzlich etwas unwirsch: »Was wollt ihr?«

»Äh ...«, begann Altin. »Wir haben gehört, dass das andere Waisenhaus ...«

»Wohin fliehen Sie?«, unterbrach Yxes, die nun wieder klar sah, ihren Bruder laut.

»Was?!«, fragten da Arise und Direktor Hanzel gleichzeitig.

»Ich habe die Fluchtkarte gesehen. Sie haben nicht vor, uns alle mitzunehmen, oder?«, stellte Yxes ihn zur Rede.

Erst schien es, als wollte er widersprechen, aber dann fuhr er sich mit einer resignierten Bewegung über den Kopf und durch die wenigen, sich langsam grau färbenden Haare und sagte langsam: »Eine große Gruppe erregt viel mehr Aufmerksamkeit, und es ist schwieriger zu fliehen. Außerdem sind die kleinen Kinder eine viel zu große Belastung und ...«

»Sie wollen uns hier zurücklassen?!«, brach es aus Arise entsetzt heraus.

»Sie gehen ganz alleine mit Frieda?«, schrie Altin aufgebracht.

»Ein paar Kollegen und ich und einige von ihnen nehmen jeweils ein oder zwei Kinder mit, aber mehr dürfen wir uns wirklich nicht erlauben!«, rief Direktor Hanzel.

»Wieso?«, fragte Yxes tonlos und schloss die Augen.

»Das habe ich doch schon gesagt, weil ...«, begann der Direktor, aber Yxes unterbrach ihn wütend: »Wieso heimlich?«

Der Direktor schwieg eine Weile, und keiner sprach.

»Ich will nicht die Enttäuschung der Kinder sehen müssen, die ich so lange beschützt habe«, seufzte der dicke Mann schließlich und sah Yxes beinahe flehentlich an. »Kann man das einem alten Mann wie mir verübeln?«

»So alt sind sie noch gar nicht«, antwortete Yxes mit zitternder Stimme, dann fragte sie: »Wann?«

»In vier Tagen«, antwortete der Direktor müde. »In drei, wenn es früher geht.«

»Sie müssen uns mindestens einen Tag früher Bescheid geben!«, sagte Yxes und versuchte, eine ruhige Stimme zu bewahren, »damit wir vorbereitet sind!«

»Wird sich dann nicht Panik ausbreiten?«, meinte der Direktor.

»Was meinen Sie, was es für ein Chaos geben würde, wenn Sie einfach verschwinden würden? Geben Sie uns wenigstens noch Hoffnung, dass es eine Chance für uns gibt, auch noch zu fliehen!«, knurrte Arise.

»Wohin fliehen Sie?«, fragte Yxes.

»Warum willst du das wissen?«, fragte der Direktor argwöhnisch.

»Weil ich wissen will, wo wir Ihrer Meinung nach am sichersten sind«, antwortete Yxes.

»Ich möchte nicht auf meinem Weg von dem ganzen Waisenhaus verfolgt werden.«

»Nur die Richtung, verflucht noch mal!«, rief Yxes, und die Wut, die in ihrer Stimme nun mitklang, ließ den Direktor antworten: »In den Süden, an die Boote.«

»Gut«, sagte Yxes und entspannte sich wieder, während sie versuchte, sich zu sammeln. Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und überlegte. Kurz war es still, und Yxes hörte ein Schluchzen und danach ein verweintes »Wie konnten Sie nur?« von Arise.

Als Yxes aufblickte, musste sie unwillkürlich an die Spuren der Verwüstung denken, die die Herbststürme manchmal hinterlassen hatten, nachdem sie auf ihrem Weg vom Meer durch ihre Gegend gezogen waren: Arise war zu einem Häufchen Elend geworden, die sich Tränen aus dem Gesicht wischte, und Altin hockte in der Ecke des Raumes auf dem Boden, das Gesicht unter seinen Haaren und Händen versteckt, und ein gelegentliches Zucken verriet, dass auch er weinte. Yxes selbst spürte, wie ihr eine heiße Träne über die kalte Wange lief. Der Direktor hatte den Kopf gesenkt und starrte auf seinen Schreibtisch. Er hatte nichts mehr zu sagen.

Arise stürzte aus dem Zimmer des Direktors. Altin und Yxes, die sich plötzlich leer und müde fühlten, erhoben sich ebenfalls und verließen den Raum. Sie wich den Blicken der Kinder aus, die ihnen begegneten.

Zurück in ihrem Zimmer lag Arise bereits auf ihrem Bett und schluchzte in ihr Kissen. Neben ihr saß Asure mit einem Buch auf den Knien und strich besorgt durch Arises blondes Haar. »Du liebe Güte, ihr seid ja alle drei total verweint! Was ist denn so Schreckliches passiert?«

Yxes’ Kraft war nicht grenzenlos, und nachdem sie sich im Büro des Direktors noch einigermaßen unter Kontrolle gehabt hatte, konnte sie jetzt ihre Tränen einfach nicht länger zurückhalten.

Sie warf sich in Asures Arme und fing hemmungslos an zu schluchzen, drückte Altin und Asure an sich und versuchte, Asure zu erklären, was passiert war, brachte aber kein Wort heraus. Für eine Weile schwiegen sie, dann riss sich Altin von ihnen los und steuerte auf die Tür des Raumes zu.

»Wo willst du hin?«, brachte Yxes noch fertig zu schluchzen.

»Nirgendwohin!«, rief Altin und donnerte die Tür hinter sich zu.

»Könnt ihr mir jetzt endlich sagen, was los ist?«, fragte Asure.

»Alles ist zu Ende ... keine Hoffnung ... Vielleicht werden wir nie mehr alle zusammen sein ...«, schluchzte Arise, und Asure runzelte die Stirn, aber Arise war noch nicht fertig. »Was soll nur aus uns werden? Werden wir alle sterben? Wo sollen wir hin?«

»Wovon redest du nur?«, rief Asure und sah Yxes hilflos an, die sich die Tränen aus dem Gesicht wischte und dann mit belegter Stimme sagte: »Bigboss ergreift die Flucht.«

»Hanzel?«, fragte Asure ungläubig.

»Ja, mit Frieda und ein paar anderen. Manche nehmen noch ein Kind mit. Eins!«

Asure wurde blass, und ihre Augen starrten ins Leere, sie lehnte sich zurück und hielt wie betäubt Yxes’ und Arises Hände.

Das Waisenhaus war ihre Leben lang der Mittelpunkt ihrer Leben gewesen. Keines der drei Mädchen konnte sich eine Zukunft ohne diesen bis jetzt so sicheren Hafen vorstellen – und dabei stand sie bereits auf der Schwelle.