Kapitel 8 – Panik im Waisenhaus

Yxes war wieder einmal auf der Suche nach ihrem Bruder, während Asure und Arise auf die Jungen warteten, um mit ihnen eine Krisensitzung zu organisieren.

Altin schien unauffindbar, und nachdem Yxes auch den Garten erfolglos abgesucht hatte, ließ sie sich ratlos in das Gras sinken und stöhnte: »Altin, wo bist du?« In ihr stieg die Angst, er hätte als Reaktion auf das, was er gehört hatte, eine Dummheit begangen oder wäre weggelaufen.

Sie sah die Sonne am Himmel, die unberührt von dem Chaos unter ihr ihre Strahlen schickte und spürte, dass es trotz des Sonnenscheins kalt war. Jetzt, wo sie saß, hörte Yxes ihren eigenen Atem laut vor sich, obwohl etwas weiter weg eine Gruppe jüngerer Kinder geräuschvoll spielte.

Yxes wusste nicht, wie lange sie so im Gras gehockt und vor sich hin gestarrt hatte, aber auf einmal stand Altin vor ihr. Sie blickte stumm zu ihm auf, und ihr fehlten die Worte, irgendetwas zu sagen.

»Hallo«, sagte er leise. Er stand im Licht, und die Strahlen, die an ihm vorbeikamen, umrandeten seinen Körper und ließen seine Gestalt dunkel wirken.

»Ich habe dich gesucht«, flüsterte Yxes.

»Ich weiß«, antwortete er, »aber ich wollte alleine sein.«

Yxes stand langsam auf und sagte nur: »Asure und Arise planen gerade eine Krisensitzung mit den Jungs. Wir sollten dabei sein.«

Erst jetzt bemerkte sie einen langen Kratzer auf seiner Wange und, ihrer Frage zuvorkommend, seufzte er: »Äste können ziemlich fest zuschlagen, wenn man sie lässt.«

Erleichtert legte Yxes einen Arm um ihn, und gemeinsam näherten sie sich dem Eingang des Waisenhauses.

Minz, Tinz, Mo, Iwig, Arise, Asure, Narek und Derf standen dort zusammen. Allen war die Sorge ins Gesicht geschrieben, und Yxes fragte Derf sofort besorgt: »Wie geht es bei euch im Waisenhaus? Wie geht es Ry und Ellie?«

»Wir sind erschüttert von euren Nachrichten. Wir haben beschlossen, dass wir morgen eine Krisensitzung halten. Unsere Erzieher kümmern sich eh nicht mehr um uns, da können wir auch zu euch kommen und gemeinsam darüber reden, wie es weitergehen könnte, ja? Dann bringen wir auch die anderen mit«, antwortete Derf.

Narek fügte leise hinzu: »Ry und Ellie geht es bis jetzt ganz gut, keine Sorge.«

Yxes lächelte dankbar: »Wann kommt ihr ungefähr?«

»So um die Mittagszeit, wenn das in Ordnung ist«, antwortete Derf.

»Klar«, meinte Arise. Ihr Lächeln wirkte müde und trostlos.

»Wir müssen jetzt wieder rein, denn bei uns sind die Erzieher bis jetzt noch nicht weg«, erinnerte sie Minz.

Nachdem sie sich von Narek und Derf verabschiedet hatten, meinte Mo: »Ich kann es immer noch nicht ganz glauben, dass unser braver Bigboss die Fliege machen will!«

»Ich verstehe dich, ich hätte das auch nicht von ihm erwartet«, stimmte Asure ihm zu.

»Wenigstens hat er gesagt, dass er Richtung Süden gehen wird. Vielleicht gibt das einigen anderen Hoffnung, dass sie sich auch alleine auf den Weg machen können«, bemerkte Yxes leise.

»Tolle Hoffnung«, schnaubte Iwig grimmig.

»Wo würdest du denn hingehen, wenn du müsstest?«, fragte Arise und gestand sich ein, dass sie das wenn du müsstest auch hätte weglassen können.

»In den Norden, nach Iktabul. Schließlich haben sie einen stabilen Frieden, und von dort aus wird es nicht schwer sein, mit einem Boot zu fliehen. Im Süden wird es jetzt von Flüchtlingen wimmeln, und außerdem wird man da unten sicherlich ausgeraubt«, antwortete Iwig.

»Das kann dir im Norden genauso passieren. Da sind alle noch arm vom Krieg und haben Hunger«, meinte Tinz.

»Außerdem gehört Iktabul doch praktisch zu Flabka. Sie sind besiegt und unterzeichnen Verträge zu den unsäglichsten Konditionen«, ergänzte Minz.

Am nächsten Morgen wurde Yxes unsanft von einer hysterischen Arise geweckt: »Yxes, wach auf! Schnell! Yxes!«

»Was? Was ist denn?«, grummelte Yxes verschlafen. Sie registrierte, dass das übliche morgendliche Summen auf dem Flur vor ihrem Zimmer zu einem bedrohlichen Brummen angeschwollen war. Sie blinzelte und setzte sich auf: »Was ist los?«

»Hanzel hat gelogen«, sagte Asure und versuchte, ruhig zu bleiben, aber ihre Stimme zitterte. »Er ist weg! Das ganze Waisenhaus ist in Aufruhr, denn er hat einen Zettel hinterlassen. Deshalb kann man die Flucht nicht mal geheimhalten! Die Erzieherinnen sind fast alle abgefahren oder erst gar nicht aufgetaucht. Was machen wir denn jetzt?«

»Lass mich nachdenken!«, seufzte Yxes und legte die Hände auf die Stirn. »Wissen Derf und die anderen davon?«

»Iwig ist losgerannt, um ihnen Bescheid zu sagen«, erwiderte Asure.

»Inzwischen sehe ich mir mal die Situation im Haus an!«, entschied Yxes und stand auf.

Sie machte die Tür auf und wäre fast wieder rückwärts in den Raum gefallen. Wohin sie auch blickte, sah sie schreiende, durcheinander rennende Kinder, manche weinten, andere, selbst fassungslos, versuchten, sie zu trösten.

Yxes überlegte fieberhaft, was sie unternehmen konnte.

»Wir müssen sie beruhigen«, rief sie Asure über das Chaos hinweg zu. »Sag so vielen wie möglich, dass alle sich im Essenssaal zu einer Sitzung einfinden sollen!« Und mit diesen Worten stürzte sie sich selbst in die Menge, um damit anzufangen.

Es dauerte lange, bis alle im Speisesaal versammelt waren und erwartungsvoll in die Runde blickten. Yxes stand auf und räusperte sich.

»Ich habe euch alle in den Speisesaal gerufen, um ... ja, also um dieses neue Problem hier zu besprechen. Wie ihr alle wisst, haben uns unser ... ähm Chef und unsere Erzieherinnen verlassen und ... ja, wir sind jetzt irgendwie alleine«, begann Yxes unsicher.

Gemurmel ging durch die Reihen, aber Mo, der neben Yxes gesessen hatte, stand auf und verschaffte ihr Gehör: »Ruhe! Hört zu, was Yxes zu sagen hat!«

»Also, es gibt jetzt mehrere Möglichkeiten, also ...« Während Yxes die Wörter aus sich herausmühte, sah sie, wie Iwig, gefolgt von Ry, Ellie, Derf, Mokka, Narek und einem Jungen, den sie als Lauran kannte, den Raum betrat.

Es folgten fünf jüngere Kinder, die mit großen Augen in die Runde starrten.

Am Schluss trat noch ein Junge ein, ungefähr neun Jahre alt, der die Tür leise hinter der Gruppe schloss. Für einen Augenblick wanderten die Blicke der Anwesenden zu ihnen, doch als sie sahen, dass die Neuankömmlinge nur andere Kinder waren, kehrten ihre Blicke wieder zu Yxes zurück.

»... wir wissen, dass Herr Hanzel in Richtung Süden geflohen ist«, fuhr Yxes fort. »Das heißt aber nicht unbedingt, dass dies die beste Lösung ist. Ich schlage vor ...«

»Können wir nicht in ein anderes Waisenhaus fliehen?«, unterbrach sie ein junges Mädchen mit blonden Zöpfen.

»Fehlanzeige«, rief Derf von hinten in die Runde. »Wir kommen von einem der anderen Waisenhäuser, und unser Boss hat uns schon vor eurem verlassen. Ihr könnt natürlich noch das letzte ausprobieren, wenn ihr wollt, aber das liegt ziemlich abseits, und wer weiß, ob dort nicht vielleicht gerade dasselbe geschieht.«

Diese Nachricht machte eine Hoffnung zunichte und ließ sofort wieder Chaos ausbrechen.

Yxes ließ sich seufzend auf einen Hocker nieder. Ihr Bruder legte ihr eine Hand auf die Schulter, doch bevor er etwas sagen konnte, sagte Timol, der eingebildete Neuling: »So was kann auch nur in einem Waisenhaus passieren! Meine Eltern hätten mich niemals einfach so verlassen, und meine ...«

»Hör auf!«, schrie Yxes ihn an und war nur froh, dass genug Lärm um sie herum tobte, so dass nicht alle sie hören konnten, »Hör auf, von Dingen zu sprechen, von denen du nichts weißt!«

Timol öffnete den Mund, aber Yxes kam ihm zuvor: »Du weißt nicht, wie es hier aussah, als der Krieg noch weit weg war! Du hast keine Ahnung, wie es war, als die Betreuer noch hier waren und wir alle wie eine große Familie hier gelebt haben und das Leben normal war!«

»Außerdem«, fügte Mo kalt hinzu, der irgendwo hinter ihr saß, »sind deine Eltern tot. Sie sind in dem Krieg gestorben, vor dem unsere Erzieher wegrennen und in dem du vielleicht auch sterben wirst – sie haben dich genau so verlassen wie unsere Erzieher uns.«

»Du hast kein recht, so über meine Eltern zu reden!«, rief Timol trotzig.

»Und du hast ebenso wenig recht, dieses Waisenhaus, das unser Zuhause ist, runterzumachen.«

Timol stieg die Zornesröte ins Gesicht, drehte sich auf dem Absatz um und rannte aus dem Raum.

Yxes warf Mo einen überraschten Blick zu, dieser zuckte nur die Achseln. Minz ergriff in diesem Moment die Initiative und knallte eine leere Weinflasche mit voller Wucht auf den Tisch, während er gleichzeitig »Ruhe!« brüllte und so wieder für Ruhe sorgte. Auf dem Boden glänzten die Scherben der zerbrochenen Flasche.

»So geht das nicht, wir müssen jetzt alle zusammen halten und dazu gehört, nur nacheinander zu reden! Hebt die Hände, wenn ihr etwas sagen wollt. Yxes?«

Yxes richtete sich wieder auf: »Nun ja, das Beste wäre wahrscheinlich, wenn auch wir fliehen würden. Denn wenn eine Menge Leute fliehen, hat das sicherlich einen Grund. Wir sollten nicht hier bleiben.«

»Ach ja?«, rief ein Mädchen und richtete sich auf, es war Myra, und sie sah Yxes herausfordernd an. »Wohin denn?«

»Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Man kann in den Norden oder in den Süden fliehen, und von da aus kann man sich auch noch ganz weit weg verschiffen lassen, aber ich habe keine Ahnung, was uns da erwarten würde, also schlage ich erst mal vor, dass wir möglichst alle zusammen in die Hauptstadt gehen«, erklärte Yxes. »Ich weiß von einigen, dass wir unterschiedliche Ziele haben. Ein paar von uns wollen in den Süden, andere in den Norden, wieder andere ins neutrale Täfkan. Von der Hauptstadt aus soll es gute Verkehrsverbindungen geben, die uns an alle Orte bringen können. Außerdem bietet die Hauptstadt auch Schutz, denn dort ist die Basis des Militärs, wo neue Kämpfer ausgebildet werden.«

Myra warf ihre roten Locken zurück: »Ich finde, wir sollten hierbleiben!«

Yxes sah sie entgeistert an.

»Wieso?«, fragte Asure sie verwirrt. »Willst du etwa warten, bis der Krieg hierher kommt und du noch hier bist? Wir noch hier sind?«

»Der Krieg wird nicht plötzlich herkommen. Das hätten wir mitbekommen. Er kann überall sein, und wir können mit den ganzen Kleinen keine lange Strecken laufen, ohne dass sie sich verletzen, verlaufen oder sonst was! Außerdem, warum weggehen, wenn wir hier Betten und einen Kamin haben? Sicherlich gibt es hier auch noch ein paar Vorräte ... was wollt ihr auf der Straße finden?«

Yxes dachte noch über die Argumente nach, während Arise sich bereits wütend aufrichtete und rief: »Alle fliehen von hier, und du willst hier bleiben?«

»Auf der Straße findest du nichts als den Tod!«, rief Myra zurück.

Daria, das Mädchen mit den blonden Zöpfen stand neben Myra auf. »Ich bin auch dafür, dass wir bleiben sollten.«

Durch das nun ausbrechende Gehen-contra-Bleiben-Chaos hindurch drängten sich Iwig und sein Gefolge zu ihnen durch.

»Wir sind immer noch bereit mitzukommen«, rief Ellie zu ihnen herüber.

»Wenigstens das! Was ist mit euren kleinen Gefährten?«, fragte Asure und sah auf die jüngeren Kinder.

»Wir kommen auch mit!«, rief der neunjährige Junge und reckte die Faust in die Luft.

»Wie heißt du, kleiner Mann?«, fragte Asure ihn.

»Azzif, und du?«

»Mein Name ist Asure, und ich hoffe, dass du bereit bist für einen langen Marsch, denn der Weg zur Hauptstadt ist lang«, antwortete sie.

»Hast du Bedenken?«, fragte Altin sie besorgt.

»Nein, aber wir sollten bedenken, was Myra gesagt hat. Wir müssen die Kleinen, die mitkommen möchten, darauf vorbereiten, dass es länger werden könnte, und ums Essen müssen wir uns auch kümmern.«

»Falls es hier noch Vorräte gibt, haben wir das Recht auf einen Anteil davon!«, meinte Mo.

»Wir haben einen Sack Kartoffeln aus unserem Waisenhaus mitgenommen«, bemerkte Derf wie nebenbei.

»Das ist doch schon mal gut«, sagte Arise lächelnd.

»Erstmal sollten wir hier wieder Ordnung schaffen!«, meinte Tinz, und gemeinsam mit Minz machte er sich daran, Ruhe zu schaffen. Dazu ließ er eine weitere leere Weinflasche am Tisch zerschellen.

»Wir möchten wissen, wer sich für was entschieden hat«, rief Tinz in die Menge.

»So schnell kann man sich das doch nicht überlegen«, rief ein Junge, dessen Name Yxes nicht kannte.

Tinz kannte ihn aber: »Zaro hat recht!«

Derf hatte keinen Nerv für so etwas und sagte: »Meinetwegen, aber morgen brechen wir auf! Klar?«

Mit diesen Worten war die Sitzung im großen Speisesaal beendet, und das Chaos nahm wieder Überhand. Asure handelte rasch. Sie packte Yxes am Ärmel und zog sie so schnell es ging aus dem Raum.

»Was ist los?«

»Lass uns im Keller nachprüfen, wie es mit den Vorräten aussieht.«

Manchmal konnte Yxes einfach nur darüber staunen, an welche Dinge ihre Freundin dachte, die sie fast vergessen hätte. Die zwei Mädchen huschten in den Keller.

Der Keller war nicht besonders groß, und zu Yxes’ großer Enttäuschung waren fast keine Vorräte mehr zu finden. Der Chef oder die Erzieherinnen waren ihnen zuvorgekommen!

Sie waren auch nicht die Einzigen, die hierher kamen, denn kurz darauf tauchten Myra und Daria auf.

»Hey! Was tut ihr hier?«, rief Myra, deren Haare selbst in dem schummrigen Licht des Kellers leuchteten.

»Dasselbe wie ihr, nehme ich an«, antwortete Asure, und ihr orangenes Haar glänzte genauso im Licht der Fackel in Darias Hand wie Myras Haare.

Die einzige, deren Haare kaum zu sehen waren, war Yxes, denn ihre schwarzen Haare wurden von der Dunkelheit verschluckt und nur durch eine genaue Beleuchtung in ihr Gesicht sichtbar gemacht.

»Yxes und Asure«, stellte Daria fest. »Wo sind die Vorräte?«

»Das wüssten wir auch gerne, aber scheinbar haben unsere lieben Betreuer alles mitgenommen. Wir finden hier nichts mehr außer Kastanien und Äpfel. Davon gibt es eine Menge, außerdem noch ein paar Kartoffeln«, antwortete Asure.

»Sonst nichts?«, rief Daria entsetzt.

»Vergiss nicht, dass wir zu gegebener Jahreszeit auch wieder das Gemüse im Gemüsegarten aufzüchten können«, erinnerte sie Myra zornig.

Daria schluckte und nickte zögernd: »Wie wahr.«

»Es ist klar, dass die Vorräte aufgeteilt werden müssen«, fing Asure vorsichtig an.

»Ach ja? Und ihr wollt wahrscheinlich die Hälfte, oder?«, zischte Myra.

»Das kommt natürlich auf die Zahl der Leute an, die wir am Ende sein werden«, sagte Yxes.

Im Stillen starrten sich die Mädchen weiter an.