Kapitel 11 – Dämonenlied

»So ganz stimmt das nicht, werter Herr Zabban«, sprach er, während er sich aus der Türe löste und neben Zabban trat. Die Jungen verstummten. Synarek erhaschte einen Blick auf Louba, die in einer Ecke scheinbar vollkommen unbeteiligt in einem Kochbuch blätterte. Ob sie mithörte?

»Es ist so, dass ein Dämonenbeschwörer sehr wohl die Dämonen anderer Dämonenbeschwörer spüren kann, aber uns Sterblichen ist es nur gegeben, Dämonen ab einer bestimmten Stärke zu spüren, sofern diese nicht unbemerkt bleiben wollen. Abgesehen von den Dämonenbeschwörern gibt es eigentlich keine Menschen, die Dämonen spüren können. Manchmal, wenn ein starker Dämon seine Stärke zur Schau stellen will, können einige wenige Menschen dies spüren, aber so einen haben wir heute Abend gewiss nicht mitgebracht«, erklärte der ehemalige Student.

»Aber ich ...«, setzte Synarek an.

»Sei still, Junge!« Zabban wollte wieder zuschlagen, aber Madim hielt ihn am Arm zurück. »Junge, es gab schon viele, die meinten, Dämonen ohne Ausbildung beherrschen zu können! Das sind Wahnvorstellungen. Komm ja nicht auf die Idee, dir ein Buch der Dämonenlehre zu nehmen, denn nur mit einer Formel, aber ohne Wissen, wie man mit einem einmal beschworen Dämonen verhandelt, kann man schneller sterben, als du es dir vorstellen kannst.«

Zabban grinste: »Das sollte dir eine Warnung sein, Bursche.«

»Heißt das, dass nicht jeder ein Dämonenbeschwörer werden kann?«, wollte Synarek wissen. Seine Neugier war größer als seine Angst.

»Nein, nicht jeder«, antwortete Madim.

»Du am allerwenigsten«, sagte Sahnil spöttisch. »Du kannst ja nicht mal ein Tablett halten, ohne den ganzen Inhalt fallen zu lassen.«

Sahnils Freunde lachten, und Sahnil grinste zufrieden.

»Madim, könnten sie dem Jungen Manieren beibringen? Sie sind ein talentierter Dämonenmeister. Kann ihr Dämon ihm nicht einfach mal ein paar Schläge verpassen, die ihm eine wirksame Lektion wären? Wir schlagen ihn immer mit niederen Bergdämonen, aber vielleicht haben sie etwas Besseres?«

Madim sah Synarek wieder mit dem seltsamen Lächeln von zuvor an. »Ich werde sehen, was ich tun kann. Komm mit!«

Synarek folgte Madim mit düsterem Blick. Das schadenfrohe Lachen der anderen Küchenjungen begleitete seinen Abgang.

»Brauchen Sie einen Raum, Meister?«, rief Zabban ihnen hinterher.

»Nein, ich nehme ihn mit auf mein Zimmer«, antwortete Madim.

Synarek hätte versucht wegzulaufen, wenn er nicht direkt neben sich einen Dämon gespürt hätte. Er dachte über Zabbans Worte nach. Hatte er wirklich kein Gespür für Dämonen? Aber was bedeutete das Gefühl denn sonst? Es war immer dagewesen, wenn Dämonen ihn ausgepeitscht hatten.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als sie vor einer Tür stehen blieben, die der junge Mann vor ihm aufschloss. Bevor er die Tür ganz öffnete, hauchte er ein leises Wort. »Wir wollen ja nicht in eine Falle laufen, habe ich recht?«

Kaum dass sie den Raum betreten hatten, musste Synarek sich schütteln, so stark spürte er die Wogen magischer Wellen auf sich zubranden. Kalte und heiße Schauer durchfuhren ihn, und auf seiner Haut bildete sich eine Gänsehaut. Alles, sogar die Luft, schien zu vibrieren.

»Alles in Ordnung?«, fragte der junge Mann und deutete auf einen Sessel. »Nimm Platz!«

Zögernd setzte sich Synarek und sah den Mann misstrauisch an. Wieso ließ er ihn sitzen? Er musterte den Raum, der viel größer und wohnlicher war, als er erwartet hatte. Ein Schreibtisch stand unter einem runden Fenster, mehrere Sessel gruppierten sich im Kreis um einen kleineren Tisch, auf dem noch eine Tasse stand. Ein großer Kleiderschrank stand nahe der Eingangstür, und hinter einem Vorhang vermutete Synarek ein Bett. Die Wände schmückten Gemälde, hauptsächlich Ansichten der Landschaft, die man von hier aus sehen konnte.

»Nett haben Sie es hier«, sagte Synarek langsam.

»Was spürst du?«, wollte Madim unvermittelt wissen.

Synarek zuckte überrascht zusammen und zögerte mit seiner Antwort, doch dann befand er, dass es sicherlich besser für seine Gesundheit war, wenn er antwortete. »Ich ... ich spüre viele Präsenzen von ... Dämonen«, stammelte Synarek.

»Gut. Bleib so sitzen!«, befahl Madim, erhob sich und zog aus seiner Tasche ein dunkelblaues Tuch hervor: »Ich muss ein paar kleine Tests mit dir machen. Du musst einfach nur sagen, was du spürst.«

Synarek ließ sich widerspruchslos das Tuch über die Augen binden, auch wenn er äußerst misstrauisch und angespannt war. Er fühlte sich immer unwohl, wenn er nicht wusste, was als nächstes kommen würde und zum Abwarten verdammt war. Sein Herz schlug schneller als gewöhnlich.

»Ich werde dich jetzt durch mein Zimmer führen, und du sagst mir genau, was du fühlst und wie stark es ist«, hörte er Madim sagen.

Zögernd stand er auf und ließ sich blind von Madim durch das Zimmer führen, was das Gefühl des Unwohlseins noch verstärkte. Er musste an Madims Worte denken, als sie das Zimmer betreten hatten, hatte er nicht etwas von einer Falle gesagt?

Er hörte Madim ihm die ganze Zeit über Sätze zuraunen, wie »Keine Angst«, »Keine Panik« und »Vertrau mir.«

Plötzlich blieb er stehen. »Hier ist etwas.«

»Sehr gut, sehr gut. Keine Angst, komm weiter, hier lang.«

Das ganze Kribbeln, das er soeben verspürt hatte, ließ plötzlich nach, und er sagte leise: »Hier ist nichts.«

»Wunderbar«, hörte er Madim sagen.

Synarek wusste nicht, wie lange er so durch den Raum geführt wurde, bis er sich wieder setzten durfte und Madim ihm das Tuch von den Augen löste.

»Du bist ein sehr interessanter Fall«, bemerkte Madim und setzte sich ihm gegenüber in einen Sessel.

Synarek rieb sich die Augen, die sich wieder an das Licht gewöhnen mussten, und fragte leicht ungeduldig: »Was ist es denn nun, das ich spüre?«

»Dämonen, ohne Zweifel, und das ist äußerst ungewöhnlich. Du bist kein eingeschleuster Spion einer anderen Organisation, der heimlich in der Lehre der Drachenkünste ausgebildet wurde, oder?«

»Ich bin schon seit meiner frühesten Kindheit hier! Wer hätte mich unterrichten sollen? Alles, was ich weiß, habe ich hier gelernt, und das ist nicht viel«, antwortete Synarek. »Ich weiß zum Beispiel, dass Zabban kein Dämonenbeschwörer ist, auch wenn er manchmal mit einigen arbeitet. Einer seiner Kollegen kann sie ein wenig beschwören, aber das Einzige, was er zustandebringen kann, ist, einen komischen Dämon heraufbeschwören, der immer andere Gestalten annimmt und mich auspeitscht. Seine magische Aura ist nicht annähernd so stark wie manche in diesem Raum!«

»Ich habe schon festgestellt, dass Zabban sich nicht besonders gut mit Dämonen auskennt, aber er scheint das anders zu sehen«, bemerkte Madim lächelnd.

Synarek entspannte sich und grinste.

»Woher kommst du, Synarek?«, wollte Madim wissen.

Synareks Lächeln erstarb, und er senkte den Blick: »Ich weiß es nicht.«

»Hast du eine Vermutung? Eine Erinnerung?«, hakte Madim nach.

»Ich war davor in einem Waisenhaus, aber ich erinnere mich an so gut wie nichts. Als ich hierher kam, war ich noch ein kleiner Junge«, antwortete er.

»Und die anderen, was weißt du über sie?«

»Nicht viel. Feltsh kam erst letztes Jahr. Eine andere Festung konnte ihn nicht mehr gebrauchen, deshalb wurde er hierher verkauft. Man sagt, seine Eltern hätten ihn zuvor an diese andere Festung verkauft. Mit Sicherheit kommt er aus Flabka oder einer seiner Kolonien. Hadem kommt aus Karakûl, Sahnil ist angeblich halber Flabkanese, halber Täfkanier und kommt aus einem Waisenhaus aus Täfkan. Bei ihm weiß man allerdings, wer seine Eltern waren, im Gegensatz zu mir. Mizo kam vor zwei Jahren aus einer Familie aus Karakûl, die ihn irgendwann einmal aus einem Waisenhaus aus Saranda geholt haben. Ich glaube, das war zwar nicht ganz legal, aber das ist ja schließlich kein Einzelfall. Nito ... ähm … ich glaube seine Mutter kam wohl aus ...«

»... Iktabul, ja, ich weiß. Ich habe mit ihm gesprochen«, unterbrach ihn Madim.

»Ach so«, antwortete Synarek trocken.

»Weißt du, woher ich komme?«, fragte Madim.

Als Synarek den Kopf schüttelte, grinste er: »Rate doch!«

»Karakûl vielleicht?«

»Aus dem Norden stamme ich zwar, aber nicht aus Karakûl«, grinste Madim. »Ich komme aus Iktabul, deshalb war ich auch schon mit Nito im Gespräch. Er scheint ein netter Junge zu sein, ich würde ihn gerne mal mit nach Iktabul nehmen, er hat kaum noch eine Erinnerung daran.«

»Wie ist Iktabul?«

»Eine Schönheit! Schade, dass du es noch nie gesehen hast.«

»Wieso leben Sie dann jetzt in Flabka?«

»Mein Vater kommt aus Flabka. Meine Mutter stammt aus Iktabul, wo ich als Kind lange gelebt habe, bis der Krieg ausbrach und mein Vater mit mir nach Flabka zog. Nun, da Iktabul besiegt ist, bin ich ein paar Mal zurückgekehrt, aber mein Zuhause ist jetzt in Flabka, nahe der Hauptstadt.«

»Durudam? Ich habe gehört, dass es eine riesige Stadt sein soll.«

»Das ist sie auch«, antwortete Madim. »Jetzt aber wieder zurück zu dir. Wie genau bestraft Zabban dich eigentlich immer?«

Plötzlich spürte Synarek einen Kloß im Hals, und er rutschte tiefer in seinen Sessel.

»Keine Angst, ich werde dir nichts dergleichen tun, es ist nur aus reinem Interesse. Ich habe ja gesehen, dass er dich schlägt, das ist ziemlich ...«

Synarek stand auf und kehrte ihm seinen Rücken zu. »Das tut er.« Er zog sein Hemd aus und hörte Madim nach Luft schnappen.

Für einen Moment schwiegen sie beide.

»Manche Wunden sind frisch«, stellte er schließlich fest, »Wie alt sind die neuesten?«

»Sie sind von gestern«, antwortete Synarek leise.

Als Synarek wieder aufsah, stand Madim vor ihm und warf ihm einen mitleidigen Blick zu, dem Synarek auswich. »Sieh mich an, Synarek!«

Synarek blickte ihm in die Augen und zwang sich, ruhig zu bleiben, aber er wollte nicht darüber sprechen, was sie ihm antaten.

»Warum?«

Synarek zuckte die Achseln: »Weil alle mich hassen?«

Madim reichte ihm sein Hemd: »Du solltest besser aufpassen, denn dein Körper könnte ernsthafte Schäden nehmen. Hattest du schon Knochenbrüche?«

»Ja, aber ich will nicht darüber reden«, antwortete Synarek.

»Ich will es aber wissen«, beharrte Madim.

»Eine Rippe«, antwortete Synarek gereizt. »Ich habe versucht, aus diesem bescheuerten Turm abzuhauen, und es hat nicht geklappt!«

»Schon gut, nach dem Warum habe ich doch gar nicht gefragt«, beruhigte ihn Madim. »Also, machen wir weiter mit dem Test. Wir haben nicht mehr viel Zeit, bevor die Nachtfeier anfängt. Dieses Mal musst du einfach nur zuhören. Ich werde dir eine Melodie vorspielen und möchte deine Reaktion sehen.«

Synarek sah ihn mit hochgezogenen Brauen an und fragte sich, was das zeigen sollte.

Madim zauberte eine Triflöte aus seiner Tasche hervor, ein Instrument, das dem Spieler eine hohe Fingerfertigkeit abverlangte. Hinter dem Mundstück einer normalen Blockflöte schlossen sich statt einer Flöte drei Flötenkörper an.

»Hör gut zu!«, ermahnte ihn Madim. »Normalerweise wird dieses Lied auf der Orgel gespielt, aber ich habe hier leider keine. Vielleicht, wenn du ganz leise bist, hörst du es heute Nacht, wenn es unten auf der großen Orgel gespielt wird.«

»Was ist denn so besonderes an dem Lied?«

»Hör einfach zu!«

Synarek lehnte sich tiefer in den Sessel: »Ich bin bereit.«

Madim legte das seltsame Instrument an die Lippen, und schon schwebten die ersten Klänge durch den Raum. Sie erreichten Synarek und berührten ihn tief in seinem Inneren. Er beugte sich unwillkürlich weiter nach vorn. Er erinnerte sich nicht an die Melodie, aber irgendetwas verband sie mit seiner frühesten Kindheit. Synarek wusste auf einmal, dass es einen Text zu der Melodie gab. Er suchte in sich, wo dieses Wissen herkam, wo er den Text schon gehört haben könnte. Jetzt hörte er leise Worte, die die unsichtbaren Dämonen von sich gaben, die perfekt die Musik begleiteten. So, wie ein Blinder sich an der Wand entlangtastete, so versuchte er sich an ihren Worten zu orientieren, bis das Lied plötzlich lauter und dramatischer wurde und ihm einzelne Wörter über die Lippen kamen. Erst flüsterte er sie vor sich hin, und es war, als ob er einen angenehmen warmen Wind um sich herum fühlte, der seinen Körper mit Wärme füllte. Die Wärme ließ ihn die Wörter zu der Musik laut singen. Es war jetzt wieder ein fröhlicher Klang, der allmählich langsamer wurde.

Obwohl er die Sprache nicht kannte, in der er sang, verstand er plötzlich jedes einzelne Wort, und ihm wurde klar, dass es ein Dämonenlied war, denn der Text lautete: »Als Dämon vermag ich die Kräfte der Natur zu kontrollieren, ich habe die Macht, Dinge zu verändern, wie es mir passt. Doch gleichzeitig, ach, nichts ist doch vollkommen, bin ich gezwungen den anderen Wesen zu gehorchen, welche die Macht haben, mich heraufzubeschwören. Doch machen sie einen Schritt falsch, sprechen sie ihre Formeln falsch oder vergessen es, schnell werd ich da abhauen und ihnen Schaden zufügen, wo ich nur kann, denn ich bin kein Diener! Ich will frei sein. Doch mein Blut und mein Wesen zwingen mich dazu, anderen zu dienen, denen ich als Held bekannt sein will! Sie sollen meinen Namen hören, erzittern und sich fürchten! Sie sollen sich davor fürchten, mich heraufzubeschwören! Haya, so wahr ich ein Dämon bin

Madim hatte aufgehört zu spielen, und bevor Synarek etwas sagen konnte, fragte Madim: »Woher kennst du den Text?«

»Weiß ich leider nicht«, seufzte Synarek. »Ich glaube, ich habe das Lied gehört, als ich kleiner war, aber ich habe keine Erinnerung, wo oder wann das war. Was ist das denn für ein Lied?«

»Es ist ein Lied, das jeder Dämon kennt und das alle Dämonenmeister erlernen müssen. Dämonen können ganz schön ungemütlich werden, und mit dem Lied kann man sie zufrieden stellen. Es schmeichelt ihrem Stolz und verleiht beiden, Beschwörer und Dämon, neue Kraft, zum Beispiel, wenn sie müde sind. Man könnte es auch als eine Energiespritze bezeichnen, die meistens auch mit besserer Laune verbunden ist. Leider hält sie nicht für immer an. Es ist ein sehr intensives Lied, und wenn man es einmal gehört hat, prägt es sich stark in die Erinnerung ein, jedenfalls ...«

»Wieso singen es denn auch die Beschwörer, wenn es doch von den Dämonen handelt?«, wollte Synarek wissen.

Madims Augen weiteten sich: »Du verstehst den Text?«

»Ja, sonst könnte ich mir doch nie diese seltsamen Wörter merken«, antwortete Synarek.

»Du musst als kleines Kind unterrichtet worden sein, woher sonst kannst du die Sprache der Dämonen?«, fragte Madim höchst interessiert. »Selbst wenn du scheinbar alles vergessen hast, das Wissen steckt noch in dir. Vielleicht warst du als kleiner Junge bei einer Dämonenbeschwörung oder einem Fest dabei ...«