Kapitel 13 – Ein Schritt ins Ungewisse

Sie machten sich auf den Weg, und Yxes war froh, dass scheinbar alle guter Dinge zu sein schienen. Lieder wurden gesungen, und noch waren alle in Topform.

Unerwartet trat Ry zu ihr und sprach sie an: »Du siehst besorgt aus. Alles in Ordnung?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob wir das Richtige getan haben!«, platzte es aus Yxes heraus. »Wir haben zwar Kleidung und Nahrung aus dem Waisenhaus mitgenommen, aber wir haben kein Geld. Lange werden wir ohne Bares nicht auskommen. Ich habe Angst, wenn ich an die Nacht denke. Wo sollen wir schlafen? Wir haben nur ein Zelt, und in das passen höchstens fünf Leute hinein.«

»Keine Angst, wir werden aus der Bettwäsche und etwas Holz behelfsmäßige Unterkünfte bauen, genau so, wie wir uns um Feuerholz und anderes kümmern können«, beruhigte sie Ry. »Die Kinder sammeln schon fleißig Holzstöcke, die wir heute Abend brauchen werden, fürs Feuer zum Beispiel.«

Yxes lächelte: »Du hast sicherlich recht, aber ich bin etwas nervös. Ich habe das ungute Gefühl, als hätten wir etwas Wichtiges vergessen.«

»Soviel ich weiß, hat man das immer, bevor man reist. Als Ellie und ich aus dem Waisenhaus in Futi hierhergekommen sind, hatte ich auch ständig das Gefühl, ich hätte etwas vergessen, das kann ich dir versichern«, erzählte er.

»Ihr wart in Futi? Wann?«, fragte Yxes überrascht.

»Oh, das ist lange her. Ellie war damals noch sehr klein, und ich habe nur wenige Erinnerungen an die Zeit. Ich weiß noch, dass wir mit ein paar anderen Kindern auf einem Pferdekarren auf dem Heu transportiert wurden. Ich war sehr müde, wagte aber nicht zu schlafen und die ganze Zeit über hatte ich dieses Gefühl, dass ich etwas vergessen hätte«, erzählte er grinsend.

»Und, hattest du etwas vergessen?«, wollte Yxes wissen.

»Nicht, dass ich mich erinnern könnte«, erwiderte er.

Die Sonne beleuchtete Rys braunes Haar, seine bernsteinfarbenden Augen sahen Yxes freundlich an. Yxes wurde es leichter ums Herz, und es kam ihr beinahe so vor, als würden sie nur eine Wanderung machen, um dann wieder nach Hause zurückzukehren.

»Warum seid ihr von Futi hergekommen?«, knüpfte sie nach einer Weile an das Gespräch wieder an.

»Eine der Erzieherinnen fand es damals zu unsicher in Futi, weil es so nahe an Flabkas Grenze war, und entschloss sich, in die entgegengesetzte Richtung zu reisen. Sie nahm ein paar Kinder mit, da das Waisenhaus damals sehr voll war. Wir wurden ausgesucht, weil wir erst kurz zuvor in das Waisenhaus gekommen und noch nicht so daran gewöhnt waren und uns deshalb der Umzug nicht so schwer fallen würde wie manch’ anderen«, erzählte Ry, während er den Kopf in den Nacken legte und in den Himmel starrte und dabei ein sehr konzentriertes Gesicht machte, als ob er sich angestrengt zu erinnern versuchte.

»Darf ich dich etwas Persönlicheres fragen?«, fragte Yxes vorsichtig.

Ry drehte sein Gesicht nun ihr zu und erwiderte mit einem Lächeln: »Klar.«

»Hast du ... hast du irgendeine Erinnerung an deine Eltern?«

»Nicht wirklich«, antwortete Ry, und obwohl seine Augen auf Yxes gerichtet waren, schien er durch sie hindurch zu sehen, während er antwortete: »Sie hatten nie wirklich viel Zeit für mich. Ich habe damals nicht verstanden, was los war, aber irgendwas hat sie bedrückt. Ich weiß es bis heute nicht, aber ich vermute, es waren Geldprobleme. Ich habe keine Erinnerung an die Zeit, als meine Mutter mit Ellie schwanger war, aber ich erinnere mich an die Stimme meines Vaters, als sie bereits geboren war. Er sagte: Sieh, das ist deine Schwester. Ist sie nicht hübsch

Das Lächeln auf Rys Lippen war ansteckend.

»Was ist dann passiert?«, fragte Yxes.

»Ich erinnere mich an nichts weiter. Von den Erzieherinnen weiß ich, dass sie uns in der Nähe eines Flusses im Norden gefunden haben, ein Fluss, der aus Iktabul kommt. Ich weiß nicht genau, wie sie uns da aufgegabelt haben. Irgendjemand sagte einmal, dass wir vielleicht mit dem Fluss aus Iktabul gekommen sind und gar nicht aus Saranda stammen.« – Ry machte eine Pause – »Wie ist es bei dir? Hast du irgendwelche Erinnerungen?«

»Nein. Sie haben Altin und mich kurz nach der Geburt gefunden, und seitdem habe ich im Waisenhaus gelebt. Ich weiß nicht einmal genau, wo die Fundstelle war, denn die Erzieherin, die uns später auch hierher begleitet hat, ist wieder fortgereist, nach Libidukiz, soviel ich weiß. Sie sagte, der Norden sei nichts für sie. Ich habe sie nie gefragt, wie und wo genau sie uns gefunden hat, aber es muss in der Nähe von einer Stadt namens Moridi gewesen sein, denn sie hat einmal erwähnt, dass wir anfangs für zwei Monate in einem Waisenhaus außerhalb von Moridi gelebt haben. Danach sind wir hierhergekommen. Das ist alles, was ich weiß.«

»Du hast also auch eine ziemlich lange Reise hinter dir. Ich verstehe aber nicht, wie dein Bruder mit dir gleich nach deiner Geburt gefunden werden konnte – er ist doch jünger als du, wie kann das sein?«, fragte Ry.

»Oh, ich glaube, da liegt ein Missverständnis vor. Altin ist mein Zwillingsbruder«, sprudelte es aus Yxes heraus, und als sie Rys überraschtes Gesicht sah, fügte sie hinzu: »Die meisten denken, dass ich älter bin, allein schon, weil ich größer bin. Außerdem leidet Altin an einer Reihe seltsamer Krankheiten und Wachstumsstörungen, jedenfalls hat das der Arzt gesagt. Manchmal schmerzen ihm die Beine oder Arme tagelang, wenn seine Knochen wachsen.«

»Ach ja, von den Krankheiten hast du mir schon einmal erzählt, als er bei einem unserer Treffen auf einmal umgekippt ist und so unkontrolliert gezuckt hat. Es hat mir damals wirklich Angst gemacht!«, sagte Ry.

»Ja, mir macht es immer wieder Angst.«

»Hast du schon einmal daran gedacht, nach Moridi zu gehen, um etwas über deine Herkunft herauszufinden? Vielleicht stammst du ja aus Täfkan! Das ist doch in der Nähe von ...«, rätselte Ry.

Yxes lachte: »Ich fürchte, das werde ich nie erfahren.«

»Außer du triffst einen dir freundlich gesinnten Dämonenmagier. Ich habe gehört, dass die Dämonen uns auch Vergangenes und Verborgenes zeigen können, wenn wir es wirklich sehen wollen«, bemerkte Ry, plötzlich ernst.

»Ich habe noch nie einen Dämon gesehen, und schon der Gedanke daran macht mir Angst. Ich könnte ihm nicht trauen, nicht mal, wenn ich wüsste, dass ein Mensch ihn unter Kontrolle hat. Man weiß ja nie genau, oder?«, fragte Yxes.

»Das weiß ich nicht, aber um etwas darüber zu erfahren, wo meine Wurzeln sind, würde ich fast jedes Risiko eingehen. Ellie ist genau so, und wenn ich es nicht mache, wird sie es tun.«

Yxes warf einen Blick zurück und betrachtete Ellie, wie sie neben Arise, Derf und Mo lief. Sie glaubte Rys Behauptung sofort. Ellie war eine äußerst willensstarke Person, die oft ihre Meinungen kundtat, ohne darüber nachzudenken, dass sie andere damit verletzten konnte. Zudem war sie sehr schön. Besonders Arise machte sich manchmal Sorgen, dass Derf Ellie mehr mögen könnte als sie. Seit Derf und Ellie aber nicht mehr durch dasselbe Waisenhaus verbunden waren, schien Arise alles etwas lockerer zu sehen.

»Es ist mein größter Wunsch zu wissen, woher ich komme«, fuhr Ry fort.

Yxes lächelte, aber in ihrem Inneren tobte es. Zum einen brannte es in ihr zu erfahren, wer sie wirklich war, zum anderen fürchtete sie sich genau so sehr vor dem Wissen. Ihre Eltern konnten ebenso gut schreckliche wie auch gute Menschen gewesen sein. Vielleicht lebten sie sogar noch und hatten Altin und sie nur ausgesetzt weil sie keine Kinder haben wollten. Dieser Gedanke machte Yxes die meiste Angst, doch dann fielen ihr wieder ihre Namen auf ihren Rücken ein. Hätten sie sich wirklich die Mühe gemacht, ihnen Namen zu geben, wenn sie sie nicht gewollt hätten?

»Bist du in Ordnung?«, fragte Ry vorsichtig nach.

»Oh ja, ich war nur kurz in Gedanken. Tut mir leid.«

»Das muss dir doch nicht leidtun.« Ry lächelte sie freundlich an. »Unsere Herkunft ist ein sehr heikles Thema, auch für diejenigen, die viel über ihre Eltern wissen. Wir hatten einmal ein Mädchen in unserem Waisenhaus, die immer in die Luft gegangen ist, wenn dieses Thema zur Sprache kam. Ihr Vater ist bei einem Militäreinsatz ums Leben gekommen, ihre Mutter war schon lange tot. Weder die Schwester des Vaters noch die Großeltern wollten sie aufnehmen, und daher schickte man sie ins Heim«, antwortete Ry.

Yxes spürte einen Kloß im Hals und schluckte. »Das tut mir leid. Wo ist sie jetzt?«

»Soviel ich weiß, ist sie zurückgeblieben, weil sie eine Lehre beim Schuster angefangen hat. Ihr Name war Sarya, ich hatte sie sehr gerne«, antwortete Ry, und für einen Moment stahl sich ein Lächeln auf seine Lippen.

Yxes wechselte abrupt das Thema: »Unsere Gruppe zählt ohne die Leute aus eurem Waisenhaus achtundzwanzig Personen. Wie viele von euch wollen sich uns anschließen?«

»So genau wissen wir nicht, wer wohin gegangen ist«, antwortete Ry, der sich nichts dabei zu denken schien, dass Yxes das Thema gewechselt hatte. »In unserem Waisenhaus gab es nie ein starkes Gemeinschaftsgefühl, und so sind alle in kleinen Gruppen losgezogen. Ich schätze, dass ein Dutzend hierhin mitgekommen ist.«

Azzif, der sich ihnen zwischenzeitlich auf Hörweite genähert hatte, mischte sich ein: »Einige haben gesagt, sie wollen in die Hauptstadt gehen, um dort zu kämpfen und um Ruhm und Ehre zu gewinnen. Das ist doch auch unser Ziel, oder nicht?«

»Unser Ziel ist zwar die Hauptstadt«, antwortete Yxes, »aber für manche wird sie nur eine Zwischenstation sein.«

»Wollt ihr kämpfen?«, hakte Azzif nach und sah die beiden Älteren fragend an.

Yxes warf Ry einen Blick zu und war gespannt, was er antworten würde.

»Unser erstes Ziel sollte es sein, heil in die Hauptstadt zu gelangen. Danach werden wir sehen, für was ein jeder sich entscheidet. Einige sind auch noch zu jung zum Kämpfen, könnten aber andere Dienste erledigen, wie zum Beispiel die Kranken versorgen«, antwortete Ry.

Er hatte die Frage beantwortet, ohne eine direkte Antwort zu geben. Yxes nickte einfach nur schweigend.

Als die Dämmerung einbrach, waren sie bereits ein gutes Stück von Tarty entfernt. Sie schlugen ihr erstes Nachtlager auf den kleinen Hügeln vor dem Dorf auf und blickten zurück. Während ihres Marsches hatten sich ihnen einige Straßenjungen angeschlossen. Einer von ihnen, Melin, ging jetzt Altin zur Hand und stapelte Holz für ein Lagerfeuer auf. Ein anderer, Tino, half Yxes und Asure mit Hilfe von Stöcken, Laken und Decken, provisorische Unterkünfte aufzubauen. Sie nahmen Nähgarn, das im Waisenhaus benutzt wurde, um Löcher zu flicken, damit alles zusammenhielt. Auch Azzif, Felrim und Mokka halfen ihnen dabei.

Als sie genügend stabile Zelte aufgebaut hatten, war Yxes zufrieden und sagte: »Das müsste für die Nacht genügen. Glücklicherweise haben wir gutes Wetter.«

»Wir haben auch Glück, dass wir in einem besonders langweiligen und kleinen Kaff gelebt haben, so dass es nicht lange gedauert hat, da rauszukommen«, meinte Mo.

»Noch sind wir nicht weit davon entfernt, und sollte eine Armee oder sonst etwas kommen und uns suchen, wären wir immer noch ein einfaches Ziel«, bemerkte Asure.

»Wer wird schon nach uns suchen?«, grinste Mo.

»Du weißt, was ich meine!«, protestierte Asure.

Mo grinste noch breiter und schlenderte dann zu einer Gruppe anderer Kinder, die immer noch mit dem Zeltaufbau zu kämpfen hatte.

»Dieser Junge kann einem echt auf den Geist gehen!«, murrte Asure.

»Er kann aber auch nett sein«, verteidigte ihn Yxes.

»Sollte er öfters sein, ich bekomme davon wirklich nichts mit.«

Yxes zuckte die Achseln: »Ich schätze, dass sein Charakter eben so ist.«

Timol hatte eine Feuerstelle gebaut und ein Feuer darin entzündet, in dem sie Kartoffeln, Äpfel und Kastanien aus den Vorräten brieten. Ein Anlass für Asure, sie wieder daran zu erinnern, dass sie sparsam mit den Vorräten umgehen mussten. Die große Gruppe saß eng um das Feuer, und alle versuchten, soviel Wärme wie möglich abzubekommen, ohne zu nahe dranzukommen. So hockten sie, in ihre Mäntel oder Decken eingehüllt, alle nebeneinander. Die Stimmung war angespannt, hier und da flüsterte jemand, aber sonst war nur das Knistern und Knacken des Feuers zu hören.

Yxes sah hilfesuchend zu Ry, der sie fragend ansah: »Wir müssen irgendwie für etwas Stimmung sorgen, meinst du nicht?«

Ry überlegte kurz, dann rief er: »Wir sollten ein Lied singen, wie auf dem Weg zuvor, hat jemand einen Vorschlag?«

Einige kleine begeisterte Kinder riefen verschiedene Liedernamen in die Menge, worauf die etwas älteren Kinder genervt die Augen verdrehten.

»Ja, das Lied der frohen Taube kenne ich auch, lasst uns das singen!«, schlug Ry vor, als er den Vorschlag unter den Kindern vernahm.

Zunächst waren es nur wenige Stimmen, die das Lied anstimmten, doch dann fielen immer mehr Kinder mit ein, und schließlich sangen alle mit, und jeder wollte sein Lied gesungen hören.

Ry, der nicht länger etwas sagen musste, lächelte Yxes während eines der Lieder an, und Yxes konnte nicht anders, als ihm tief in die Augen zu sehen und zurückzulächeln. Mittlerweile war es dunkel geworden. Im Schein des Feuers wirkte Rys Gesicht noch sanfter. Yxes konnte ihre Augen erst von ihm abwenden, als sie Mos Stimme erklingen hörte, der ein Lied vorschlug: »Kommt Leute, jetzt singen wir, Mit der Kraft des Glaubens

Beifall erklang, und die Kinder fielen ein in den Takt, den Mo ihnen vorgab, und sangen den Text des Liedes mit.

Lächelnd sah Yxes in die Runde, alle schienen Spaß zu haben, bis auf Timol, der verdrossen und scheinbar missgelaunt vor dem Feuer saß. In seinen Augen spiegelte sich das Feuer. Yxes fragte sich, ob er überhaupt eines der Lieder kannte, die sie sangen, aber ein heiter herumhüpfender Iwig holte sie aus ihren Gedanken zurück und ließ sie laut auflachen. Er führte zusammen mit Lauran einen albernen Tanz um das Feuer herum auf und zog sämtliche Aufmerksamkeit auf sich. Während Beifall ertönte und die Kinder den Tänzern zujubelten, bemerkte Yxes auf einmal, das Altin nirgends zu sehen war. Das ungute Gefühl, das sie nun spürte, hatte dieses Mal nichts damit zu tun, dass eine Erzieherin sie nach ihm fragen könnte.