Yxes war aufgestanden und ließ suchend den Blick über die ums Feuer Versammelten schweifen. Wo war Altin nur? Der Feuerschein reichte nicht, um die Gegend hinter ihnen zu erhellen.
Also warf sie Ry widerstrebend ein entschuldigendes Lächeln zu und formte mit den Lippen ein: Bin gleich zurück. Dann fing sie an, ihr Lager systematisch nach ihm zu durchsuchen. Als sie etwas vom Lachen und Gesang der anderen entfernt war, rief sie seinen Namen. Sie bekam keine Antwort.
Sie fand das Zelt, in dem er später schlafen sollte, und öffnete es ein wenig. »Altin?«
Als sie keine Antwort bekam, kletterte sie ins Innere, nur um festzustellen, dass es leer war. Ratlos kletterte sie wieder hinaus. In einem Gebüsch, nicht weit von ihr, bewegte sich etwas. »Altin?«, fragte sie zögernd und näherte sich dem Gebüsch.
Wenige Schritte vor dem Gebüsch blieb sie stehen. »Altin, bist du das?«, fragte sie wieder.
Als niemand antwortete, trat sie noch näher an das Gebüsch heran, als plötzlich etwas großes Schwarzes daraus hervorsprang. Ihr entfuhr ein kurzer Schrei. Sie erkannte einen schwarzen Hund, der nun zu ihrem Erstaunen Unterschlupf in Altins Zelt suchte.
Unerschrocken lief Yxes zum Zelt, doch als sie die Zelttür zurückschlug, saß statt des großen schwarzen Hundes Altin vor ihr im Zelt. Er sah zerzaust aus und hatte Blätter im Haar und sah sie ebenso überrascht an wie sie ihn.
»Was machst du hier?«, platzte es aus ihm heraus, bevor sie etwas sagen konnte.
»Ich habe dich gesucht! Wo warst du?«
»Das geht dich nichts an!«, antwortete Altin patzig.
»Doch! Ich bin deine Schwester!«
»Ja, meine Zwillingsschwester, aber nicht meine Mutter – also geht es dich gar nichts an!«, trotzte Altin.
»Was hatte das mit dem schwarzen Hund auf sich? Wo ist er? Wieso ...?«
»Weiß ich doch nicht!«, unterbrach Altin sie und fauchte dann: »Geh weg!«
Für einen Moment war Yxes sprachlos, doch als ihr nichts weiter einfiel, drehte sie sich auf dem Absatz um und kehrte zum Feuer zurück.
Asure musste bemerkt haben, dass sie etwas verstimmt war: »Alles in Ordnung?«
»Ja, es ist nur etwas ... kalt«, antwortete Yxes, erwähnte aber weder Altin noch den Hund.
»Ich weiß«, stimmte ihr Asure zu. »Ich hätte jetzt wirklich nichts gegen ein warmes Bett.«
Die Erinnerungen an ihr warmes Bett im Waisenhaus schmerzten Yxes. Sie spürte einen Kloß im Hals.
Während ein weiteres Lied gesungen wurde, lehnte sich Yxes an Asure an. Die beiden Mädchen umarmten sich, während sie beide ihren Gedanken nachhingen und das Treiben um sie herum vergaßen.
Später, als Mo und Yxes die jüngeren und kleineren Kinder, die vor dem Feuer eingeschlafen waren, in deren Zelte trugen, sprachen sie kaum miteinander. Sie wollten die Kinder nicht wecken. Asure war bereits schlafen gegangen, Ry und die Zwillinge Minz und Tinz brachten andere Kinder zu ihren Zelten, und Arise und Derf traten die Reste des Lagerfeuers aus.
Als Mo schließlich etwas sagte, zuckte Yxes erschrocken zusammen.
»Alles in Ordnung?«
»Hm?« Yxes sah ihn überrascht an. »Ja, schon, aber der Schlafmangel und die ganze Aufregung der letzten Tage setzen mir zu ..., ich bin mir nicht sicher, ob das alles eine gute Idee war.« Yxes hatte während des Sprechens ihre Stimme so sehr gedämpft, dass sie am Ende nicht viel mehr als ein Wispern war.
»Natürlich war das eine gute Idee«, platzte es aus Mo heraus. »Was gibt es daran zu zweifeln?«
»Wie geht es weiter, wenn wir in der Hauptstadt angekommen sind?«
»Ich werde mich dem Militärdienst anschließen.«
»Und die Jüngeren? Wo sollen sie hin?«, zischte Yxes.
»Du willst mit ihnen fliehen?«, fragte Mo.
Als Yxes keine Antwort gab, sagte er: »Bleibt innerhalb der Mauern der Hauptstadt. Dort sind wir sicher. Wo wollt ihr schon hinfliehen? In den Süden? Der wird wohl oder übel eines Tages untergehen, sobald Saranda besiegt wurde.«
»Du glaubst also, dass Saranda den Krieg verliert?«, fragte Yxes bitter.
»Wenn alle fliehen ...«, murmelte Mo und sah Yxes dabei aber nicht an. »Yxes, du darfst dir auf keinen Fall einreden, dass du für diese Gruppe verantwortlich bist! Jeder ist für sich selbst verantwortlich, und im Notfall gibt es sicherlich auch in der Hauptstadt ein Waisenhaus! Außerdem braucht das Militär nicht nur Kämpfer, sondern auch Sanitäter und Helfer fürs Waffenputzen. Die Jüngeren könnten eine Ausbildung als Pfleger erhalten ...«
Yxes nickte, wenig überzeugt von seinen Worten. »Ich denke, wir sollten jetzt schlafen gehen«, sagte sie schließlich leise, während sie gerade zwei kleine Mädchen neben ein etwas älteres, bereits schlafendes Mädchen unter eine Decke bettete.
Mos Gesicht zeigte keine Regung, dann zuckte er die Achseln und kehrte ihr den Rücken zu.
»Bis morgen dann«, hörte sie ihn sagen.
»Gute Nacht.« Yxes kehrte in ihr Zelt zurück und stieg über eine schlafende Gestalt. In der Dunkelheit vermochte sie nicht zu sagen, wer es war. Sie fand einen freien Platz und legte sich hin.Trotz ihrer Erschöpfung konnte sie nicht schlafen. Sie starrte an die Decke ihres selbstgebauten Zeltes und versuchte, an nichts zu denken, aber immer wieder drängten sich ihr Bilder und Gefühle auf. Ihre Gedanken blieben an Ry hängen und was er über dieses Mädchen gesagt hatte, Sarya. Er hatte sie gern gehabt. Bei diesem Gedanken wurde ihr wieder flau im Magen, und sie kroch ein bisschen tiefer unter ihre Bettdecke, die sie sich mit der Person neben sich teilte. Sie versuchte, sich nicht zu bewegen, aus Angst, dass jedes Geräusch und jede Bewegung, die sie machte, andere aufwecken könnten. So blieb sie trotz ihrer unbequemen Lage ganz gerade liegen und versuchte, ein bisschen Schlaf zu finden. Schließlich gab sie auf und schlich leise aus dem Zelt. Kaum dass sie draußen war, überkam sie als erstes ein Schauer, als die kalte Nachtluft ihr entgegenschlug. Dann entdeckte sie eine dunkle Gestalt einige Meter entfernt von ihr und gesellte sich zu ihr.
Iwig schien aus einem kleinen Halbschlaf aufzuwachen, als Yxes ihn antippte. »Wer ist da?«
»Ich bin es nur, Yxes«, beruhigte sie ihn und setzte sich neben ihn.
»Ich muss eingenickt sein. Wache halten ist nichts für mich«, brummte er.
»Und ich kann nicht schlafen. Vielleicht sollte ich dich ablösen oder zumindest hierbleiben, damit du nicht mehr einschläfst«, bemerkte Yxes.
»In Ordnung«, gähnte Iwig.
Kurz saßen sie schweigend nebeneinander, denn Yxes hatte keine Ahnung, was sie Iwig sagen sollte. Schließlich brach Iwig zögernd das Schweigen: »Hast du mal nach Altin gesehen?«
Yxes schüttelte den Kopf: »Nein, wieso?«
»Vorhin haben Minz und Tinz ihn gesucht. Er war nicht da. Ich dachte, vielleicht sei er ja mittlerweile wieder aufgetaucht«, antwortete Iwig zögernd.
»Ich möchte nicht unbedingt ins Jungenzelt hineinplatzen, also werde ich nicht nachschauen können, aber du könntest mal nachsehen, während ich hier auf dich warte, ja?« Yxes hatte trotz ihrer Sorge keine sonderliche Lust, jetzt ihren Bruder aufzusuchen, nachdem er sie erst kurz zuvor so angegiftet hatte.
»Okay.« Iwig stand auf und entfernte sich.
Yxes blieb alleine auf dem Boden sitzend zurück und schlang die Arme um ihre angezogenen Knie, während der Wind ihr ins Gesicht wehte und ihr Haar wie einen im Wind wehenden Umhang hinter ihrem Kopf umherflattern ließ.
Was macht Altin bloß wieder für eine Dummheit?, fragte sie sich, während sie gleichzeitig beunruhigt war, denn so böse war er selten mit ihr. Es musste etwas Ernstes sein. Die Sache mit dem Hund irritierte sie am meisten. Es war unmöglich, dass er verschwinden konnte, ohne dass Yxes ihn gesehen hätte.
Eine ganze Weile saß sie so da, bis sie jemand fest an der Schulter packte und sie zu sich herumdrehte. Verwirrt und erschrocken fuhr sie herum.
»Es ist die richtige Entscheidung gewesen!«, sagte ihr Mo trotzig ins Gesicht. »Wenn wir zurückgeblieben wären, wäre es viel schlimmer, jetzt durch die leeren Zimmer zu wandern und sich zu fragen, ob man nicht doch besser mitgegangen wäre. Wir können uns noch umentscheiden und jederzeit wieder zurück, andersherum ist es nicht möglich! Wir bräuchten dafür wieder eine Gruppe und Vorräte! Im Waisenhaus herrscht jetzt sicher die totale Fruststimmung, mehr als hier! Das allein zeigt doch schon, dass wir recht haben!«
Als Yxes nichts darauf erwiderte, fuhr Mo fort: »Ach ja, Iwig hat mir gesagt, dass du hier bist. Er löst mich auf meinem Posten bei Narek ab, und ich ihn hier.«
Yxes fragte kaum hörbar: »Hat Iwig noch etwas gesagt?«
Für einen Moment zögerte Mo, dann sagte er: »Wir können deinen Bruder nicht finden, aber wir wollten kein Riesendrama machen, um die kleinen Kinder nicht zu verschrecken. Wir haben aber kleine Suchtrupps ausgesandt. Minz und Tinz sind im Einsatz, genauso wie Azzif, Ry, Felrim und Derf.«
Yxes sah Mo verunsichert an: »Kann er denn weit weg gegangen sein?«
»Ich weiß es nicht, ich weiß ja nicht mal, wieso er weg ist. Und alles, was ich bis jetzt gesehen habe, waren Vögel und eine Katze!«, war seine Antwort.
»Ich verstehe das nicht. Wieso ist er mit uns gekommen und jetzt wieder abgehauen?«
»Er kommt sicherlich wieder, Yxes. Er ist ein Junge, der nach Abenteuern sucht«, behauptete Mo und sah sie von der Seite an.
Yxes runzelte die Stirn: »Und was, wenn er gerade einen seiner komischen Anfälle bekommt? Ich muss ihn suchen!«. Als sie aufstehen wollte, spürte sie Mos Hand um ihr Handgelenk, die sie wieder nach unten zog.
»Alleine geht hier keiner!«, ermahnte er sie.
»Heißt das, dass du mitkommst?«, fragte sie.
»Geht nicht, ich muss Wache halten«, antwortete Mo. »Außerdem haben wir schon genug Leute ausgeschickt, die ihn suchen.«
Yxes beschloss, Mo die Sache mit dem Hund zu erzählen. Vielleicht hatte ihr Bruder ja einen Straßenköter eingeschmuggelt und führte diesen jetzt aus: »Mo, da ist noch etwas. Ich ...«
Ein lautes Knacken unterbrach ihr Gespräch, und aus dem hohen Gras stolperte plötzlich eine Gestalt, die vor ihnen auf den Boden fiel und schnell atmete.
Yxes sprang auf: »Altin?«
Wieder hielt Mo sie zurück: »Warte!« – und an die Gestalt gewandt fragte er: »Hey, wer bist du?«
Vor ihnen rappelte sich gehetzt ein fremder Junge auf, der Mo einen Stoß versetzte und mit einer unglaublichen Geschwindigkeit davonrannte.
»Hey«, brüllte Mo und stieß einen Pfiff aus.
Der Junge rannte quer durch ihr Quartier, und im Vorbeirennen griff er nach einem der Vorratssäcke, die neben einem der Zelte standen. Yxes und Mo machten sich an die Verfolgung, und auf Mos Pfiff hin erschienen weitere Gestalten aus der Dunkelheit. Mo war schneller als Yxes, rief ihr aber zu: »Der kommt nicht weit.«
Yxes erkannte die Umrisse von Iwig und Narek, die auf den Fremden zurannten, während aus einer anderen Ecke Timol und Tino auftauchten.
Der Fremde war gerissen und entwischte Iwig gerade durch einen blitzschnellen Haken, obwohl der ihm zum Greifen nahe gewesen war. Auch Timol hatte kein Glück, er wurde einfach zur Seite gestoßen und landete auf dem Boden, Tino stolperte über sein Bein und landete neben ihm. Der Fremde hüpfte geschickt über einen querliegenden Baumstamm.
Mo, der ihn fast erreicht hatte, hatte das Hindernis nicht gesehen und sprang zu spät hoch, so dass er ungeschickt fiel.
Narek und Yxes waren dem fremden Dieb immer noch auf den Fersen. Sie hasteten weiter und befanden sich jetzt auf offenem Feld.
Yxes drehte sich nicht um, um nach den anderen zu schauen, aus Angst, dass sie dann den Fremden aus den Augen verlor. Narek und sie waren auf gleicher Höhe. Plötzlich rief Narek ihr zu: »Yxes, da vorne sind Minz und Tinz!«
Yxes blinzelte, und tatsächlich sah sie in einiger Entfernung die Zwillinge stehen.
»Helft uns! Haltet den Dieb!«, rief Narek, so laut er konnte.
Die Jungs brauchten nur einen Moment, bevor sie losspurteten.
»Jetzt haben wir ihn! Yxes, wenn er versucht, nach rechts abzuhauen, schnappst du ihn dir, ich kümmere mich um die linke Seite!«, rief Narek ihr zu.
Yxes nickte. Nun haben wir ihn, dachte sie bei sich, Minz und Tinz kommen von vorne und wir von hinten! Der Fremde hatte sein Tempo nicht verlangsamt und rannte immer noch vor ihnen her. Schließlich war er kurz davor, gegen die Zwillinge zu prallen, da deutete er eine Kurve nach rechts an Tinz vorbei an. Yxes und Tinz folgten beide seinem Richtungswechsel und liefen nach rechts, doch blitzschnell rannte der Fremde durch die nun entstandene Lücke zwischen Minz und Tinz hindurch und beschleunigte sein Tempo weiter.
Nach einer Sekunde der Verwirrung nahmen die vier die Verfolgung wieder auf. Hinter sich hörten sie Mo etwas rufen, und schon bald hatten Mo und Iwig sie überholt.
»Dieser verfluchte Idiot ist schnell«, rief Mo, der dem Dieb nun dicht auf den Versen war.
Yxes schrie zurück: »Versuch’ es mit einem Sprung!«
Mo setzte zum Sprung an. In diesem Moment nahm Yxes hinter Mo einen schwarzen Schatten wahr, der im raschelnden Gras vorbeihuschte. Mo flog durch die Luft und bekam im Fall einen Knöchel des Flüchtenden zu fassen. Während er selbst zu Boden fiel, riss er den Fremden mit sich. Dieser stieß einen unterdrückten Schrei aus, aber im Fall musste sich Mos Handgriff um den Fuß des Gegners gelöst haben. Er sprang mit einer Geschwindigkeit auf, die selbst Mos übertraf. Er war schon einige Schritte weiter, als Mo wieder auf die Beine kam.
»Er hat den Sack fallen gelassen, wir brauchen ihn nicht mehr«, keuchte er, aber genau in diesem Moment sahen sie ein dunkles Etwas durch die Luft fliegen, das den Jungen am Kopf traf. Für einige Sekunden blieb er stehen, dann fiel er zu Boden.
»Schnell!«, rief Mo, und sie rannten los.
»Wo sind Timol und Tino?«, keuchte Yxes, als sie den Jungen erreicht hatten, der nun bäuchlings im Gras lag. Mo gab ihm einen prüfenden Stoß, um zu sehen, ob er sich regte. Als er sich nicht rührte, nickte er zufrieden und beugte sich zu ihm hinab.
»Timol meinte, jemand müsste das Lager bewachen, falls er Verbündete hat. Darum sind er und Tino zurückgegangen«, erläuterte Iwig.
»Gut«, seufzte Yxes und beugte sich zu den anderen hinunter. In der ganzen Hektik hatte sie das Lager total vergessen. Zum Glück hatte Timol mitgedacht.
Narek traf jetzt mit dem Sack bei ihnen ein und keuchte: »Was ist mit ihm?«
»Dieser Stein hat ihn getroffen«, sagte Mo und hob einen großen dunklen Stein vom Boden auf.
Narek nahm ihn aus Mos Hand: »Es klebt kein Blut dran.«
Yxes fühlte den Puls der Gestalt: »Er wird bald wieder zu sich kommen.«
»Dann wollen wir ihm mal einen schönen Empfang bereiten, wenn er wieder aufwacht!«, rief Mo. »Wir nehmen ihn mit und fesseln ihn.«
»Womit?«, fragte Yxes.
»Irgendwas werden wir schon finden«, meinte Mo, packte den Jungen an seinen Füßen und schleifte ihn hinter sich durchs Gras.
»Ist das eine gute Methode?«, fragte Narek zweifelnd.
»Soll ich ihn etwa huckepack nehmen oder was?«, knurrte Mo.
»Wer hat den Stein überhaupt geworfen?«, fragte Yxes verwirrt und sah sich in der Runde um. Alle sahen einander ratlos an. »Hallo, ist da wer?«, rief sie in die Dunkelheit. Wer auch immer es war, der sich dort aufhielt, schwieg.