Warme Sonnenstrahlen weckten Zerroko an diesem Morgen. Er liebte die Sonne und das Licht. Fröhlich streckte er sich und stand auf. Der Geruch von frischem Gebäck erfüllte das Haus und lockte ihn schnell in die Küche. »Guten Morgen, Zerroko.«
»Morgen.« Zerroko gab seinen Zieheltern jeweils einen Kuss auf die Wange und setzte sich an den Frühstückstisch zu Layla, der leiblichen Tochter seiner Adoptiveltern.
Seine Eltern hatten ihn adoptiert, als er noch sehr klein war, da sie zu dem Zeitpunkt dachten, dass sie selbst keine Kinder bekommen könnten.
Zwei Jahre später wurde Layla geboren. Die Eltern sahen es als ein Geschenk für die gute Tat, die sie vollbracht hatten, indem sie Zerroko adoptiert hatten. Der Junge war als winziger Säugling in ein Waisenhaus gebracht worden, nachdem er in Täfkan ziemlich weit im Süden des Landes gefunden worden war, in der Stadt Ahrk nahe dem Fluss Abla’numa. Die Familie hatte sich für ihn entschieden, da er klein und hilflos war, sagten sie, aber auch deswegen, weil sie sicher sein konnten, dass er keine Erinnerung an seine leiblichen Eltern hatte und so seine neue Familie komplett akzeptieren konnte.
Erst mit sieben Jahren hatte er dann erfahren, dass seine Eltern gar nicht seine leiblichen Eltern waren. So schonend sie auch versucht hatten, ihm dies beizubringen, so hatte es ihn zutiefst schockiert, aber mittlerweile waren Jahre vergangen, und er hatte sich von diesem Schock erholt.
Äußerlich sah seine Familie allerdings aus wie jede gewöhnliche Familie. Zerrokos dunkelbraunes Haar ähnelte dem seines Ziehvaters, und seine grünen Augen hätten von seiner Ziehmutter stammen können, wenngleich ihre eine Nuance dunkler waren als seine.
»Na Schlafmütze, hast du gut geschlafen?«, fragte Roland.
»Ja, danke, und ihr?«
Saola verdrehte die Augen »Frag nicht. Layla hat sich erkältet, sie konnte die ganze Nacht nicht schlafen, und das hat mich wachgehalten, weil ich natürlich versucht habe, ihren Husten und sie selbst zu beruhigen. Hast du nichts davon mitbekommen?«
Zerroko schüttelte den Kopf. »Ich muss wohl geschlafen haben wie ein Stein.«
Erst jetzt fiel ihm auf, dass Layla sich einen Schal umgebunden hatte und ziemlich müde an einer Teetasse nippte.
Roland wechselte das Thema: »Zerroko, Junge, begleitest du mich heute wieder nach Saranda? Heute ist Markt, und wir wollen doch mal wieder etwas dort verkaufen.«
Roland besaß gemeinsam mit seinen Freunden Saig und Alf einen großen Marktstand. Sie verkauften hauptsächlich Holzwaren wie Hocker, Tische, Stühle, Figürchen oder ähnliches. Wenn sie allerdings auf den Markt in Täfkan fuhren, verkauften sie manchmal auch Fisch. Alf war Hobbyangler und fing oft mehr, als er brauchte, und in Täfkan verkauften sich Meeresfrüchte aller Art gut. In Saranda hingegen hatten die Leute selbst genug Fisch, dort beschränkten sie sich auf ihre Holzarbeiten. Sie fuhren oft nach Saranda, die Grenze war nur wenige Kilometer entfernt. Für die Täfkaner gab es keine Schwierigkeiten bei der Einreise. Täfkan hatte bis jetzt immer seine neutrale Position behalten, auch wenn die angrenzenden Länder heftig Druck machten, dass das Land die eine oder andere Seite unterstützen sollte. Seine Bewohner aber waren stolz auf ihre Neutralität und darauf, Täfkaner zu sein. Während es den Menschen in den kriegführenden Ländern schlecht ging, blühte das wirtschaftliche Leben in Täfkan. Das war ein weiterer Grund, warum in Täfkan ein großer Nationalstolz verbreitet war.
Viele Täfkaner, die an der Grenze lebten, reisten zur Marktzeit nach Saranda, um sich dort zusätzlich etwas zu verdienen.
Zerroko war begeistert und freute sich, dass er nicht zu spät aufgestanden war. Natürlich würde er Roland begleiten – er liebte die Ausflüge nach Saranda. Sie waren sein Fenster zu einer anderen Welt, und er lauschte gerne den Geschichten, die dort erzählt wurden.
Außerdem hoffte er, dass er Merinda dort sehen würde. Er hatte sie schon ein paar Mal am Stand seines Vaters getroffen. Sie kam aus der großen Hafenstadt Libidukiz.
Diesen großen Markt, zu dem auch die Händler aus Täfkan kamen, gab es einmal im Monat für drei Tage, vorausgesetzt, dass das Wetter es zuließ. Der Marktplatz lag zwischen Libidukiz, der großen Hafenstadt, und der kleineren Stadt Moridi und war gut gewählt. Käufer und Verkäufer strömten aus Moridi, Libidukiz und anderen umliegenden Städten dorthin. Es war ein bunter und fröhlicher Markt, der immer viele Besucher anlockte, auch wegen der guten Stimmung, die dort herrschte – etwas, das wegen der vielen Kriegsjahre ansonsten selten geworden war.
Glücklicherweise war der Süden Sarandas bis jetzt der friedlichste Teil des Landes. Die Kämpfe fanden bis jetzt nur im Norden statt, nördlich von Täfkan an den Grenzen der Länder. Auch die gelegentlichen Invasionen fanden eher im Norden statt. Der Norden war schlecht dran, umringt von Flabka, Torkulda, dem besiegten Iktabul und Karakûl.
Im Süden war es dagegen noch ruhig, obwohl hier nur der große lange Fluss Abla’numa Saranda von Flabka trennte. Der Grund dafür war einfach zu erkennen: In diesem südwestlichen Teil Flabkas gab es nichts Lohnendes zu erobern, keine Städte, keine Bodenschätze, keine fruchtbaren Ländereien. Es existierten nur ein paar ländlichen Anwesen, die schauen mussten, wie sie mit ihren kargen Feldern ihren Lebensunterhalt verdienen konnten.
Dieser Teil Sarandas hatte auch noch den Vorteil, dass er im Süden an ein Piratennest grenzte. Anstatt sich zu bekämpfen, handelte man miteinander. Man musste allerdings aufpassen, dass man von den Gaunern nicht ausgetrickst wurde, aber mehr war auch nicht zu befürchten.
Saranda war schon fast zweigeteilt: Saranda Nord und Saranda Süd. Während es dem Norden immer schlechter ging, blieb es im Süden größtenteils gleich. Die Tatsache, dass die Hauptstädte der drei Länder Torkulda, Saranda und Flabka alle nördlich lagen, spielte bestimmt auch eine große Rolle dabei.
Die Fahrt zum Marktplatz war ziemlich lang und deshalb fuhren sie früh morgens los. Zerroko sog die frische Luft ein und war voller Vorfreude.
Als sie angekommen waren, half er Roland und den anderen, den üblichen Stand aufzubauen, und sah sich schon mal um. Sie waren pünktlich zur Aufbauzeit angekommen. Karren nach Karren kamen an, um ihre Ladung loszuwerden. Die Stände wuchsen rasch zu einem ordentlichen Markt zusammen.
Roland grüßte ihre Standnachbarn, die sie mittlerweile gut kannten.
»Na, Zerroko …« Hurl, ein stämmiger großer Mann mit grauem Haar und Zahnlücke, schlug ihm hart auf den Rücken. Sein Haar hatte er zu einem Pferdeschwanz gebunden. »Alles klar?«
»Ja«, grinste Zerroko und beneidete Hurl für seine stark gebräunte Haut. »Hat sich ja nicht so viel verändert seit gestern, oder?«
Hurl lachte: »Doch, doch, heute scheint die Sonne noch stärker. Vielleicht wirst du dann endlich mal so braun wie ich.«
Zerroko grinste: »Das hoffe ich doch.«
Auf dem Markt war der Krieg das Hauptgesprächsthema. Kaum angekommen erfuhr Zerroko, dass schon wieder feindliche Vorstöße im Norden Sarandas stattgefunden hatten. Diesmal seitens Torkulda. Die Eindringlinge kamen aus dem Westen. Sarandas Armee hatte sich zu sehr auf den Gegner Flabka konzentriert. Für Zerroko war das alles weit weg und unvorstellbar. Er fragte sich, was in den Gebieten geschah, die dort oben überfallen wurden. Gelegentlich kursierten Gerüchte.
Am ersten Markttag war Merinda nicht gekommen, und Zerroko hoffte sehr, dass er sie heute sehen würde. Die drei Markttage im Monat waren ihre einzige Möglichkeit, sich zu sehen, denn Zerroko kam nur nach Saranda, wenn Markt war, und Merinda kam ihrerseits nie nach Täfkan.
Sie hatten sich kennengelernt, als ihre Tante Esmeralda an Rolands Stand stehen geblieben war und sich mit Alf über eine besonders schöne Figur unterhalten hatte.
Merinda hatte gelangweilt neben ihr gestanden und mit ihren blonden Locken gespielt. Da war der gleichaltrige Zerroko, der in einer Ecke gesessen hatte, auf sie aufmerksam geworden und hatte sie angesprochen. Sie waren schnell ins Gespräch gekommen, beide froh, mit jemandem desselben Alters zu sprechen. Die beiden hatten sich entschuldigen lassen, Merinda hatte einen Treffpunkt mit ihrer Tante vereinbart, und sie waren alleine über den Markt gezogen. Sie hatten festgestellt, dass sie eine Menge Gemeinsamkeiten hatten, wie zum Beispiel die Liebe zum Wasser.
Ihre Beziehung war rein freundschaftlich. Merinda hatte ihm irgendwann sogar einmal von dem Jungen erzählt, den sie süß fand, nachdem er überraschend auf dem Markt aufgetaucht war und im Vorbeigehen kurz stehen geblieben war, um sie zu begrüßen.
Merinda fand, dass Zerroko als ihr bester Freund das Recht hatte, es zu wissen, und natürlich wollte sie sofort hören, was er von ihm hielt. Zerroko wusste nicht recht, was er dazu sagen sollte, denn er hatte ihn ja nur flüchtig gesehen. Salran war größer als Zerroko, muskulös und mit einem freundlichen, aber frechen Grinsen. Zerroko waren besonders seine kleinen, spitzen Zähne aufgefallen. Er hatte schwarzes Haar, das etwa dieselbe Länge hatte wie Zerrokos, und leuchtende blaue Augen. Seine Haut war angenehm braun gebrannt, man merkte, dass er viel Zeit in der Sonne verbrachte, wie auch Zerroko und Merinda, die beide auch eine leichte Bräunung durch den ständigen Kontakt mit der Sonne hatten.
Da hörte er von hinten eine vertraute Stimme: »Hey, Zerroko.«
Er drehte sich um und sah Merinda auf ihn zulaufen. Sie trug ein weißes Kleid, und ihre langen blonden Locken leuchteten golden in der Sonne. Sie fiel ihm um den Hals und lachte: »Ich habe dich so vermisst.«
»Ich dich auch«, sagte er und drückte sie fest.
Zerroko fragte sich, wie lange er sie schon kannte. Ein Jahr?
Er sah sie aufmerksam an, und aus irgendeinem Grund fand er, dass sie besorgt aussah.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er.
»Na ja, es geht so. Ich war krank. Deshalb war ich auch gestern nicht da. Tut mir leid, falls du mich gesucht hast«, sagte sie.
»Ist doch nicht schlimm, jetzt bist du ja da«, grinste er.
Normalerweise sahen sie sich gerne zusammen verschiedene Stände an und bestaunten die unterschiedlichsten Waren, aber heute sagte Merinda: »Komm, lass uns am Fluss entlang laufen, da haben wir ein bisschen Ruhe.«
»In Ordnung«, antwortete er überrascht und folgte Merinda. Es dauerte eine Weile, bis sie das Marktgetümmel hinter sich gelassen hatten und über eine lange Wiese Richtung Abla’numa liefen. Der Abla’numa war der breiteste Fluss, den Zerroko kannte, denn schließlich mündete er hier ins weite Meer. Am Wasser war es ruhiger, und Zerroko hörte das laute Rauschen des Flusses. In der Ferne auf der anderen Seite erblickte er schemenhaft das andere Ufer, hinter einer großen Nebelwand. Es wirkte wie eine weit entfernte Insel. Zerroko wusste, dass diese Nebelwand keine natürliche Wand war, sie war von Dämonen heraufbeschworen worden. Die ganze Grenze, jedenfalls am südlichen Teil zu Flabka, war in einen Nebel getaucht, so dass die Feinde sich nicht gegenseitig sehen konnten. Zerroko wusste auch, dass, wenn er auf der anderen Seite stehen würde, er die gleiche Nebelwand vor Sarandas Ufer sehen würde. Wenn er sich anstrengte und die Augen zusammenkniff, sah er graue Schatten blitzschnell in dem Nebel auf- und abzucken. Dämonen, dachte er bei sich.
Zerroko hatte noch nie einen Dämon aus der Nähe gesehen. Das einzige Mal, dass er einen Blick auf sie werfen konnte, war hier, wenn sie wie dunkle Schatten im Nebel flogen. Sie waren so weit entfernt, dass er sie kaum erkannte. Ganz sicher war er sich nicht einmal, ob er sie sich nicht nur einbildete, aber das Prickeln auf seiner Haut verriet ihm, das hier etwas Besonderes passierte.
Er warf einen heimlichen Blick auf Merinda, die ebenfalls die Nebelwand beobachtete, und sah die Gänsehaut auf ihrem Arm. Das Prickeln war nicht angenehm, das wusste er. Er hielt seinen Arm neben ihren, so dass sie sich berührten.
Sie zuckte kurz zusammen, so, als ob er sie aus einer anderen Welt geholt hätte, und blickte erst ihn, dann ihre Arme fragend an.
»Wir haben beide eine Gänsehaut«, sagte er grinsend. »Die Dämonen schaffen es, uns Gänsehaut zu machen, obwohl es total warm ist.«
»Man beommt eine Gänsehaut ja nicht nur im Kalten«, sagte sie. »Auch wenn man sich fürchtet.«
»Fürchtest du dich?«, fragte Zerroko und sah sie interessiert an.
»Ja, schon. Ihre Anwesenheit ist unangenehm. Sie sind so deutlich zu spüren, deshalb bin ich so ungern hier.«
»Warum sind wir dann hier?«, fragte Zerroko überrascht. Sie liefen ein paar Schritte.
Sie seufzte: »Ich wollte sehen, ob du sie auch spüren kannst.«
Zerroko sah sie verwirrt an. »Was meinst du damit? Jeder kann das doch. Ich meine, ihre Anwesenheit ist so stark, und alle wissen, dass dieser Nebel nicht von Natur aus hier ist. Die Dämonen sind im Spiel.«
»Ja, ich weiß, aber viele können sie nicht spüren«, versuchte Merinda zu erklären. Sie drehte sich ernst zu ihm um und sah ihm fest in die Augen »DU bist der Erste, der so reagiert wie ich.«
»Die anderen sind wohl schon daran gewöhnt«, sagte er.
Sie gab keine Antwort darauf, und für eine Zeit schwiegen sie beide.
Zerroko dachte nach. Das war der einzige Ort, von dem er wusste, dass es Dämonen gab. Von dem alle wussten, dass sie hier waren. Er erinnerte sich, wie Roland ihn vor langer Zeit zum ersten Mal hierhin mitgenommen hatte. Er hatte ihn auf den Arm genommen und ihm den Nebel gezeigt. »Siehst du den Nebel, Zerroko? Das ist kein normaler Nebel. Das sind Dämonen. Sie bewachen die Grenze zwischen Saranda und Flabka.«
Das war alles. Mehr hatte er mit seinem Vater auch nie darüber gesprochen. »Woher weißt du denn, dass die anderen sie nicht spüren? Nur weil sie keine Gänsehaut kriegen?«, brach er schließlich das Schweigen. »Als ich jünger war, hat mein Vater mich hierher gebracht und mir erzählt, dass es hier Dämonen gibt. Das heißt doch, dass er sie auch sieht.«
Merinda lachte. »Ja, wir alle sehen die Nebelwand, aber nicht alle verspüren dieses Kribbeln. Zerroko, ich habe einen anderen Dämon gespürt, ich kann es dir versichern, nicht alle spüren sie.«
Verwirrt sah er sie an: »Du hast einen anderen Dämon gesehen?«
»Nein, nicht gesehen«, korrigierte sie ihn, »Dämonen kann man doch nicht sehen. Ich stand mit Tante Esmeralda in der Bäckerei und ...«
»Moment, wie, ich verstehe nicht ganz, was du sagst. Was soll das heißen, du hast ihn nicht gesehen?«, platzte Zerroko dazwischen.
»Lass mich erstmal ausreden, bitte«, fuhr Merinda ihn an.
Er bemerkte, wie ernst sie war. War sie wirklich krank gewesen? Oder hatte sie die Sorge zu Hause gehalten? Er nickte und ließ sie erzählen.
»Ich stand also in der Bäckerei. Auf einmal trat ein älterer Mann ein, ein Fremder – zumindest hatte ich ihn noch nie gesehen, aber das ist ja nichts Merkwürdiges in einer großen Stadt wie Libidukiz. Auf einmal ging es mir furchtbar schlecht, weil ich diese Anwesenheit gespürt habe, die von Dämonen.«
Entsetzt riss Zerroko die Augen auf: »In der Bäckerei? Das ist doch gefährlich.«
Sie fuhr fort: »Das Merkwürdigste kam ja noch. Ich war natürlich ganz entsetzt, aber der Bäcker und andere Leute haben mich besorgt angeguckt und gefragt, was denn los sei und warum ich so blass wäre. Sie dachten, ich wäre krank. Besonders der fremde Mann war irritiert, weil ich ihn total verängstigt angesehen habe.«
»Und dann?«
»Tante Esmeralda hat mich schnell aus der Bäckerei gebracht und umarmt, und ich habe ihr natürlich sofort gesagt, dass ich Angst hatte, da ich einen Dämon gespürt hatte. Und ich fragte sie, warum sie alle so ruhig geblieben wären. Weißt du, was meine Tante gesagt hat?«
»Was?«
»Sie hat gesagt: ›Aber, Schätzchen. Da war doch kein Dämon, wie kommst du darauf?‹ Ich habe sie angeschrien und sie gefragt, ob sie ihn denn nicht gespürt hätte, aber sie schüttelte den Kopf und sah mich nur besorgt an. Ich glaube sie dachte, ich drehe durch.« Merindas Stimme war schneller und lauter geworden.
»Auf jeden Fall trat dann der Mann aus dem Laden ein, und die Anwesenheit seines Dämons hat mich vor Angst zittern lassen«, fuhr sie fort. »Er blieb stehen und fragte erstaunt, ob er etwas für mich tun könne. Tante Esmeralda sagte nur: ›Ach, lassen Sie nur, sie bildet sich ein, hier sei ein Dämon unterwegs.‹ Dem Typ ist der Mund aufgeklappt, und er hat mich total überrascht angesehen.«
Zerroko runzelte die Stirn.
»Dann hat er sich gefangen und nur gelächelt und gesagt: ›Fürchte dich nicht, wir sind gleich wieder fort.‹
Tante hat natürlich gefragt, was er meinte, er mache doch sicher nur Witze, aber dann antwortete er, er sei tatsächlich mit einem Dämon unterwegs, und Tante ist auch total erblasst. Zum Beweis hat er dem Dämon befohlen, die Gestalt einer Taube anzunehmen und sich auf seine Schulter zu setzen, so dass wir ihn sehen konnten.
Tante ist fast in Ohnmacht gefallen, als da auf einmal eine Taube saß. Der Typ hat uns dann lächelnd erklärt, dass die Dämonen uns nichts tun, da sie vollkommen an die Befehle ihres Meisters gebunden sind. Dann ist er gegangen und hat sich damit entschuldigt, dass er noch vor der Mittagsstunde die Stadt verlassen müsse.« Merinda sah ihn eindringlich an. »Sie sind unter uns, und das macht mir Angst. Wenn sie jetzt auch schon in Libidukiz sind, dann heißt es, der Krieg kommt näher.«
Zerroko schluckte. »Ach, was. Er war doch nur auf der Durchreise. Ihr seid halt eine Hafenstadt, da reisen eben Leute durch.«
»Darum geht es doch nicht. Wieso bemerken manche Leute sie nicht?«, flüsterte Merinda.
Zerroko kam ein merkwürdiger Verdacht. Wenn die anderen die Dämonen nicht spüren konnten, hieße das nicht auch, dass sie diese auch nicht sehen konnten? Bildete er sich diese Gestalten im Nebel etwa ein? Spielte sein Bewusstsein ihm einen Streich? Ließ es ihn Gestalten sehen, wo keine waren, nur weil er wusste, dass es dort welche gab? Er hatte immer gedacht, dass alle sie sehen konnten, jetzt war er nicht mehr so sicher.
»Wenn du die Nebelwände ansiehst«, begann er, »was siehst du dann?«
»Eine Nebelwand, was sonst?« Sie sah ihn verwirrt und mit gerunzelter Stirn an.
Er beschloss, erst mal nichts weiter zu sagen, stattdessen fragte er: »Warum kann man sie nicht sehen?«
Sie schien erfreut über diese Frage: »Ich habe mich erkundigt. Es heißt, dass nur Dämonenbeschwörer Dämonen sehen können oder zumindest spüren. Ich weiß es nicht so genau. Auf jeden Fall können eigentlich nur Dämonenbeschwörer Dämonen aufspüren. Manche Dämonen kann man auch nur spüren, wenn man sie selbst heraufbeschworen hat, da sie so mächtig sind, dass sie sich verbergen können.«
Zerroko zögerte, dann fragte er: »Wie war es, einen aus nächster Nähe zu spüren?«
Merinda schloss die Augen: »Es war viel stärker und intensiver als das hier. Mir sind Schauer über den Rücken gelaufen, und ich hatte eine Gänsehaut, und es war ..., ich konnte dieses prickelnde Gefühl einfach nicht abschütteln, weißt du?«
Zerroko nickte. Es musste faszinierend gewesen sein. Er warf wieder einen Blick auf die Nebelwand, und wieder sah er die kleinen Schatten, die durch den Nebel huschten. Es war klar, was zu tun war. Er musste unbedingt einen Dämon aus der Nähe sehen. Dann würde er erfahren, ob er sie sich einbildete, oder ob er sie wirklich sah.
»Was meinst du, was passiert, wenn man näher an den Nebel heranfährt?«, fragte Zerroko mit abwesendem Blick.
»Das tust du nicht«, sagte sie scharf. »Dann würden sie dich angreifen. Dämonen reagieren nur auf ihre Befehle, und ihr Befehl ist es, die Grenze zu verteidigen. Du wärst sofort tot.«
»Ich würde auch mal gerne einen aus der Nähe sehen ... ich meine spüren«, teilte er ihr mit.
»Wieso?«, fragte sie entsetzt.
»Das muss doch unglaublich faszinierend sein«, antwortete er.
»Das sagst du jetzt, aber wenn du dann in der Situation bist, siehst du das ganz anders.«
»Wieso? Ich bin schon fasziniert, wenn ich hier stehe und sie bemerke. Sie umgibt so etwas Mysteriöses, Starkes, Magisches einfach, und ich finde das total interessant«, sagte er und hoffte, dass sie ihn verstand.
»Da sind wir wohl unterschiedlicher Meinungen«, sagte sie, dann sah sie ihn lange an: »Bitte, bring dich nicht in Gefahr!«
Er fand es besser, sie zu beruhigen, deshalb sagte er schnell: »Mach dir keine Sorgen! In Täfkan bin ich bis jetzt noch keinem Dämon in einem Geschäft begegnet.«
Sie lächelte erleichtert. »Und du glaubst, der Dämon hat nichts zu bedeuten?«, fragte sie.
Seine braunen Haare schwangen hin und her, als er den Kopf schüttelte: »Er war auf der Durchreise und das war’s. Keine Angst, es wird keine Dämonenschar hier eintreffen, da bin ich mir ganz sicher«, beruhigte er sie und nahm sie in den Arm.
Sie drückte sich an ihn und sagte: »Ich bin so froh, dass du so bist wie ich.«
Er lachte, aber im selben Moment dachte er daran, dass sie vielleicht nicht ganz gleich waren, denn er konnte etwas sehen, was ihr verborgen blieb, und er musste schlucken. »Komm«, sagte er aber lächelnd, »lass uns zurück zum Marktplatz gehen! Ich habe Hunger bekommen. Lass uns schauen, ob wir etwas Essbares auftreiben können!«
Sie nickte, und sie liefen los, Richtung Marktplatz, die Nebelwand und den Fluss hinter sich zurücklassend.