Kapitel 30 – Altins Geheimnis

In dieser Nacht schlief Yxes tief und fest. Im Haus war es schön warm, sie hatte einen weichen Schlafplatz und eine leckere Kartoffelsuppe im Magen.

Das Waisenhaus hatte improvisieren müssen, um sie unterzubringen, denn es gab kaum genug Platz für ihre eigenen Kinder. Yxes und die anderen hatten mit ein paar Waisenhauskindern aus Armin auf dem Boden gesessen und dort gegessen. Die anderen Waisenhauskinder waren schüchtern gewesen und hatten sie nicht viel gefragt. Am Tisch hatten alle untereinander weitergeschnattert und für die Nacht alle ein bisschen mehr zusammenrücken müssen, was einige von den Waisenhauskindern aus Armin verstimmt hatte. Glücklicherweise hatten Yxes und die anderen ihre eigenen Decken dabei. Yxes lag in einem Zimmer mit Kindern, die sie nicht kannte, aber dicht neben ihr lag Arise.

Es war schwer gewesen, Yxes zu finden. Altin huschte in der Dunkelheit von Zimmer zu Zimmer. Dicht an dicht lagen die schlafenden Körper. Ein paar Mal hatte er sich von glattem langen Haar in die Irre führen lassen und gedacht, seine Schwester gefunden zu haben, aber jedes Mal entpuppte es sich als ein fremdes Mädchen. Schließlich hatte er sie gefunden, in einer Ecke neben Arise. Eingewickelt in ihre Decke. Vorsichtig stieg Altin über einen schlafenden Körper hinweg und berührte ihren Arm.

Yxes erwachte von einer Berührung und fuhr erschrocken hoch. Eine Hand auf ihrem Mund verhinderte, dass ihr ein Schrei entwich. Ihr Herz schlug schneller. Was geschah hier?

Als sie ihn in der Dunkelheit erkannte, nahm er die Hand von ihrem Mund und legte einen Finger auf seine Lippen, um ihr zu bedeuten, dass sie schweigen solle. Leise stand Altin auf und machte Yxes Zeichen, ihm zu folgen.

Verschlafen folgte Yxes ihm und fragte sich, wo er sie hinbrachte. Was hatte er überhaupt vor? Sie verließen die Schlafgemächer, und er führte sie nach unten zum jetzt menschenleeren, dunklen Speisesaal. Scheinbar waren sie angekommen. Yxes sah ihren Bruder fragend an.

Er seufzte. »Du wolltest wissen, was mein Geheimnis ist, nicht wahr?« Seine Stimme klang dröhnend laut, obwohl er flüsterte.

Das musste an dieser unheimlichen Stille liegen. Yxes nickte, war sich aber plötzlich nicht mehr so sicher. Sie war angespannt, obwohl sie nicht wusste, weshalb.

Altin sah sie an, seine Pupillen waren riesig in der Dunkelheit. »Ich muss es dir zeigen, denn wenn ich es dir erzähle, wirst du es mir nicht glauben.«

Yxes nickte nur, sie konnte nichts sagen.

Altin trat von ihr zurück und fixierte sie jedoch weiter, dann schloss er die Augen. Erst geschah nichts.

Dann bemerkte Yxes, wie Altin langsam kleiner wurde, sich nach vorne beugte und auf allen vieren vor ihr zu stehen kam. Er wurde immer dunkler. Yxes’ Herz schien auszusetzen. Voller Schrecken blickte sie zu Altin hinunter, der nicht mehr länger aussah wie ihr Bruder, sondern die Gestalt eines großen, schwarzen Hundes angenommen hatte. Sie musste träumen. »Oh mein Gott!«

Der Hund legte den Kopf schief und sah sie an. »A...Altin?«, stammelte sie.

Er trat einen Schritt auf sie zu, und während er das tat, verwandelte er sich zurück in ihren Bruder.

»Was geht hier vor sich ..., ich verstehe das nicht ...«, stammelte Yxes entsetzt.

Altin nahm ihre Hand, um sie zu beruhigen: »Keine Angst. Ich habe entdeckt, dass ich eine andere Gestalt annehmen kann, wenn ich will.«

»Nur von Tieren, oder auch von Menschen?« Yxes wunderte sich über ihre eigene Neugier.

»Bis jetzt nur Tiere«, sagte Altin. »Es ist sehr anstrengend, aber je öfter ich es probiere, desto besser werde ich.« Seine Augen leuchteten.

»Ist das denn gut für dich?«, fragte Yxes besorgt. »Für deine Gesundheit, meine ich?«

»Keine Ahnung, aber ich glaube, dass ich dazu bestimmt bin«, flüsterte er.

»Was meinst du damit?« Yxes war zu schockiert, um klar denken zu können.

»Ich war doch immer etwas gebrechlich, ich hab mir leichter was gebrochen als du und hatte immer schneller etwas verstaucht oder gezerrt«, sagte er. »Ich glaube, mein Körper ist so instabil, weil er weiß, dass er formbar sein muss. Ich kann mich verformen. Ich kann eine andere Gestalt annehmen, wenn ich will.«

Yxes sagte nichts dazu. Eine Weile lang schwiegen sie. Er blickte sie erwartungsvoll an, doch ihr fehlten die Worte. Ihr wurde schwindelig, und sie musste sich setzen. Als sie Altin nun wieder ansah, wirkte er besorgt. »Hast du jetzt Angst?«

»Nein ...«, sagte sie, »das ist nur alles so unheimlich. Was ist, wenn du dich nicht mehr zurückverwandeln kannst?«

Altin lachte leise. »Geht nicht. Immer wenn ich von den Verwandlungen zu erschöpft werde, verwandele ich mich automatisch zurück. Der Menschenkörper ist meine Standardgestalt, zu der ich immer zurückkehre sozusagen. Du kannst es mit deinen Haaren vergleichen. Selbst wenn du dir Locken machst, halten sie nicht ewig, und bald schon hast du wieder glatte Haare.«

»Was für ein Vergleich.«

»Mir ist grad nichts Besseres eingefallen, tut mir leid«, brummte Altin.

Sie schwiegen wieder, schließlich fragte Yxes: »Und wozu soll das gut sein?«

Altin zuckte mit den Achseln: »Keine Ahnung. Andere Wahrnehmung vielleicht?«

Nach einer Weile fügte er hinzu: »Ich glaube, du kannst auch so was.«

Yxes sah ihn an: »Mich in Tiere verwandeln?« Ihr graute davor, an so etwas nur zu denken, geschweige denn, so etwas auszuprobieren.

Er nickte. »Nein, nicht unbedingt das, aber ich glaube, du hast auch irgendeine besondere Gabe.«

Yxes schüttelte den Kopf: »Glaube ich nicht. Das hätte ich bestimmt schon gemerkt.« Sie gähnte, war immer noch müde.

Altin umkreiste sie neugierig. »Das muss gar nichts heißen, ich habe es auch erst vor kurzem bemerkt.«

»Wann war denn vor kurzem?«, fragte Yxes.

Altin überlegte. »Erinnerst du dich an die Katze, die im Waisenhaus mal in unserem Zimmer saß?«

Yxes dachte zurück, und als ihr die Erinnerung kam, klappte ihr Mund auf. »Das warst du?«

Altin grinste breit.

»Du ...« Ihr fehlten die Worte. »Wie machst du das? Wieso kannst du das? Was bist du?« Die Fragen platzten aus ihr heraus, ohne dass sie es wollte.

»Hm, was auch immer ich bin, bist du wohl auch«, sagte er lächelnd. »Schließlich sind wir Geschwister, wie unsere Rücken verraten. Wieso ich das kann? Keine Ahnung. Wie ich das mache? Ich weiß nicht, es ist einfach mein Wille, und mein Körper gehorcht meinem Kopf, sagen wir es mal so.«

»Und wie hast du das entdeckt?«

»Eines Nachts lag ich wach und hatte schlechte Laune. Als draußen vor dem Fenster eine Eule vorbeiflog, habe ich mir so sehr gewünscht, ein Vogel zu sein, und mich so in diesen Gedanken vertieft, dass ich mich in einen Vogel verwandelt habe. Am Anfang war es sehr unheimlich, beängstigend und auch ein bisschen schmerzhaft. Ich hatte anfangs danach immer starke Kopfschmerzen«, erzählte er leise. »Natürlich habe ich damals einen riesigen Schrecken bekommen, aber bevor ich Panik bekommen konnte, hatte ich schon wieder meine normale Gestalt angenommen. Ich hatte aufgehört, mir zu wünschen, ein Vogel zu sein.«

Yxes versuchte sich die Situation vorzustellen. Was hätte sie an Altins Stelle für einen Schock bekommen?

Er seufzte, dann fuhr er fort: »Erst hatte ich nur Angst, dann wurde ich neugierig und habe angefangen zu experimentieren.«

»Und warum glaubst du, dass ich so etwas auch kann?«, fragte Yxes zweifelnd.

Er nickte bedächtig. »Ich spüre es, dass irgendetwas anderes auch in dir steckt. Ich weiß nicht genau, was es ist.« Altin musterte Yxes eine Weile lang. »Wir werden das schon noch herausfinden.«

»Ich weiß nicht, Altin«, sagte Yxes beunruhigt. »Ich fühle mich ganz normal, und mir geht es auch gut damit. Vielleicht haben wir einfach unterschiedliche Gene von unseren Eltern bekommen.«

Er nickte leicht abwesend, dann sagte er leise: »Was glaubst du, wie waren sie, unsere Eltern?«

Yxes zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, aber anscheinend hatten sie interessante Gene.« Yxes gähnte wieder.

Altin hatte sich nun ebenfalls hingesetzt und lehnte sich an Yxes. »Ich bin doch immer noch dein Bruder, oder?«

»Natürlich«, sagte Yxes. »Ich bin nur hundemüde.«

»Dann solltest du jetzt besser wieder schlafen gehen«, flüsterte er.

»Und du?«

Er überlegte eine Weile, dann sagte er leise: »Ich geh auch schlafen.«

Als Yxes wieder unter ihrer Decke lag, schwirrten in ihrem Kopf eine Menge Fragen, doch die Müdigkeit siegte, und sie schlief sofort wieder ein.

Altin lag noch lange Zeit wach. Er fühlte sich einerseits erleichtert, dass Yxes endlich Bescheid wusste, andererseits verängstigt, weil er nicht wusste, wie sie sich nun mit ihrem neuen Wissen verhalten würde. Gleichzeitig wuchs aber auch seine Neugier. Er war sich sicher, dass auch sie etwas Besonderes konnte. Schließlich waren sie Zwillinge. Er nahm sich vor, seine Schwester zu überreden, die Verwandlung auch zu probieren. Kurz bevor er dann doch einschlief, fuhr ihm noch der Gedanke durch den Kopf, dass dies für Yxes gefährlich sein könnte.