Kapitel 43 – Unsichtbar zu sein …

Tris war ein Mensch, der gerne erzählte. Das war gut für Synarek, der lieber zuhörte, als Fragen zu beantworten. Das, was er sagen wollte, fügte er zu Tris’ Erzählung hinzu. In den Tagen seit ihrer Begegnung im Speisesaal hatten sie oft miteinander gesprochen. Tris sprach gerne von seinem stolzen, aber unterdrückten Volk. Sein Glaube daran, dass sie wieder unabhängig werden würden, war unerschütterlich. Synarek wusste nicht genau, wie er dem Ganzen gegenüberstand. Eigentlich war es ihm ziemlich egal. Er war zwar ein Flabkaner, doch er sah Flabka nicht als Heimat an, sondern nur die Festung Zarm’buck. Das war sein Heim. Den Rest von Flabka kannte er ja gar nicht. Also machte er sich keine Gedanken über den Rest des Landes. Solange Tris’ Volk, die Ziluma, seine Festung in Ruhe ließen, konnte er mit allem einverstanden sein, was sie taten. Tris kritisierte auch Mevinda, Flabkas Herrscherin. Wie zum Beispiel, als sie mal wieder den Essenssaal durchfegen mussten.

»Sie ist mit dem Herrscher von Torkulda verheiratet, also soll sie auch dorthin gehen«, beschwerte er sich. »Wenn sie nicht aus Flabka weg wollte, hätte sie ja nicht heiraten müssen, und dann wäre doch alles in Ordnung gewesen.« Er machte eine Pause. »Weißt du, was ich glaube?«

»Hm?«

»Ich glaube, dass sie den gar nicht heiraten wollte, diesen Prinzen, sie kann einfach keine Konkurrenz vertragen und hat ihn nur geheiratet, um über diese Prinzessin aus Saranda zu triumphieren«, erzählte Tris.

»Kann sein.«

»Sieh mal, sie hat doch zwei Geschwister, diese Mevinda. Jeder der drei hatte einen Teil von Flabka ausgesucht, über den sie herrschen wollten, aber Flabka wäre auch mit zwei Herrschern ausgekommen. Mevinda hätte auch zu Felip, oder wie der heißt, gehen können«, fand Tris.

»Weißt du etwas von den Kindern?«, fragte Synarek. »Wo die leben, meine ich?«

»Ich weiß, dass es Zwillinge sind. Ein Mädel und ein Junge. Ich glaube der Junge wohnt bei seiner Mutter und das Mädchen bei ihrem Vater. Zumindest im Moment«, antwortete Tris, » … find ich persönlich ziemlich dumm. Man hätte das Mädchen bei ihrer Mutter aufwachsen lassen sollen und den Sohn bei seinem Vater, so wie es sich gehört. Außerdem ist es doch wohl eher Felip, der einen männlichen Thronfolger braucht.«

»Na ja, seine Tochter wird dann halt Königin und muss sich einen Adeligen zum Mann suchen. Das geht ja auch«, bemerkte Synarek.

»Na klar, aber jeder weiß doch, dass ein männlicher Thronfolger freudiger empfangen wird«, bemerkte Tris.

»Ziemlich dumm«, fand Synarek. »Bei einer weiblichen Thronfolgerin weiß man zumindest immer, dass das Kind ebenfalls Herrscherblut in sich trägt, denn egal von wem sie schwanger wird, wenn die Mutter selbst Königin war ...«

»Stimmt, aber uneheliche Kinder gibt es dennoch«, brummte Tris. »Sieh dir doch diese Kassandra an.«

Synarek nickte: »Dumm muss sie gewesen sein, dass sie das Kind nicht abgetrieben hat.«

Tris verdrehte die Augen. »Wahrscheinlich hat sie ihn geliebt, diesen Kerl, der der Vater ihres Kindes war.«

Geliebt, dachte Synarek ironisch, was bedeutet das schon, wenn daraus so eine Katastrophe erwächst? »Das Ganze hätte sie sich mal vorher überlegen sollen«, brummte Synarek. »Schließlich hätte sie sich ja nicht zur Hochzeit aufstellen lassen müssen.«

»Eben. Sie hatte sogar noch Schwestern, die das hätten übernehmen können«, stimmte Tris ihm zu.

An dieser Stelle begann Tris, von seiner eigenen Familie zu erzählen. Im Gegensatz zu Synarek wusste Tris nämlich eine Menge über seine Familie. Sein Vater war Mitglied einer Widerstandsbewegung der Ziluma, zu der auch schon sein Großvater gehört hatte, und wie es das Schicksal so vieler war, die sich nicht beugen wollten, wurden sie bestraft. Die Familie wurde auseinandergerissen und an verschiedenen Höfen im Land als Bedienstete eingesetzt. So auch Tris’ Familie. Seine Mutter kam hochschwanger an einen Hof und brachte ihn dort zur Welt. Das war Tris’ erste Stelle. Sein Vater hatte ihn nur selten besuchen dürfen, und irgendwann verbot der Herr des Hauses die Besuche des Vaters ganz und gar, denn er hatte Angst, aus Tris könnte ebenfalls ein Widerstandskämpfer werden. Tris war zwar noch ein kleiner Junge, doch er liebte seinen Vater, auch wenn er nichts verstand, und er hatte sich so verhalten, wie sein Vater es wollte.

Obwohl die Mutter dagegen war, besuchte der Vater sie noch heimlich, bis es einige Jahre später aufflog und der Herr des Hauses entschied, Tris weiterzuverkaufen. Seine Mutter hatte geweint und gefleht, doch es hatte nichts gebracht. Wütend hatte sie den Vater verflucht, der ihr auch noch den letzten Sohn genommen hatte, denn sie hatte vor Tris bereits zwei Söhne gehabt, die jedoch aus Angst, sie seien schon zu sehr vom Vater beeinflusst worden, an andere Herren verkauft worden waren. Tris hatte es seiner Mutter übel genommen, dass sie ihrem Vater die Schuld gegeben hatte und war wütend gewesen. »Sie hat sich an die Flabkaner angepasst. Aus Angst«, sagte er abfällig. Er war dann an den nächsten Hof gekommen, doch dort machte er sich zu viele Feinde, so dass er schließlich, Jahre später, an den Herrn der grauen Felder verkauft wurde. Da war er nun. Ein wütender Ziluma, der seinem Vater zuliebe seinen Hass auf die Flabkaner nicht verbarg. Dabei hatte Tris keinen Kontakt mehr zu seinem Vater. Er war irgendwann zwischen seinen Umzügen verlorengegangen. Doch er hing an der Überzeugung seines Vaters, denn mittlerweile war es auch seine eigene geworden. Die Unabhängigkeit der Ziluma.

Den Kontakt zu seiner Mutter schien er aus Protest abgebrochen zu haben. Wo seine beiden älteren Brüder waren, wusste er auch nicht.

Dass Synarek gar nichts über seine Familie wusste, wunderte Tris, und er meinte immer wieder, dass ihm doch ein Teil von sich selbst fehlen müsste.

Synarek selbst fand, dass Tris auch nicht mehr von seiner Familie hatte, schließlich hatte er zu keinem von ihnen noch Kontakt. Das, was er über sie wusste, war einige Jahre alt, und die Ansichten seiner Familie könnten sich ebenfalls verändert haben. Doch er schwieg. Wenn Tris und Synarek zusammen waren, ließen die anderen sie in Ruhe. Doch wenn Synarek alleine war, musste er sich neuerdings Bemerkungen wie Ziluma-Freund oder Volksverräter anhören. Dass Tris ein Ziluma war, hatte sich also schon herumgesprochen. Scheinbar wussten die meisten Bescheid über dieses merkwürdig stolze Volk.

Nach wie vor sah und hörte Synarek die Dämonen. Die vergangenen Tage hatten daran nichts geändert. Mittlerweile fing Synarek schon fast an zu glauben, er selbst sei ein Dämon. Wenn er alleine war, probierte er die Kräfte aus, die er heraufbeschwören konnte, wenn er wütend war: Es funktionierte. Sein purer Wille konnte ihn Dinge machen lassen, die er niemals für möglich gehalten hätte. Es schien ihm, als hätte er eine Tür in sich geöffnet, die all die Jahre lang verborgene Kräfte hinter sich verschlossen hatte. Doch nun hatte er Zugang zu diesen Kräften; und diese bedeuteten Macht. Sich unsichtbar zu machen war ein großer Vorteil, auch wenn es noch anstrengend für ihn war. Außerdem konnte er nie sicher sein, dass ihn die anderen Dämonen nicht doch sehen konnten. Es gab besonders starke Wesen, die andere sehen konnten, selbst wenn diese das nicht wollten.

Da die meisten wichtigen Herren einen starken Dämon bei sich hatten, nutzte Synarek seine Fähigkeit, unsichtbar zu sein, nur dann, wenn er sicher war, dass keine mächtigen Dämonenbeschwörer oder ihre Dämonen in der Nähe waren. Manchmal erfuhr er wirklich sehr interessante Dinge aus den Gesprächen anderer. So hatte er zwei junge Männer, fortgeschrittene Lehrlinge aus irgendeiner anderen Festung, belauscht. Sie hatten über den Krieg geredet und über das neutrale Täfkan, das ihnen ein Dorn im Auge war. Synarek erfuhr, dass ein Angriff geplant war. Flabka hatte anscheinend beschlossen, den Süden Sarandas anzugreifen. Momentan fanden die Angriffe im Norden statt, doch sollten langsam und unauffällig Verbände vom Norden Flabkas in den Süden verlegt werden. Auf ihrem Weg dorthin sollten sie auch Täfkan erobern, um von dort dann ungestört den Süden Sarandas einnehmen zu können.

Wenn auch Täfkan beseitigt wäre, würden sie unbesiegbar sein. Zumindest sagten das diese Männer. Synarek war ungebildet, das wusste er selbst, und daher konnte er sich die Gebiete, um die es in dem Gespräch ging, nur vage vorstellen. Zumindest erfuhr Synarek so einiges über die Pläne der flabkanischen Truppen, ein Wissen, das er für sich behielt. Außerdem konnte er auch den neuesten Klatsch und Tratsch der Dienstboten aufschnappen, aber dieser langweilte ihn schon nach den ersten Malen.

Es interessierte ihn nicht, dass die blonde Marla aus seiner Festung Zarm’buck eifersüchtig auf die kleine schwarzhaarige Ara aus der Festung Zakazumir war.

Doch nicht nur, weil auf einmal alle nur noch Augen für Ara zu haben schienen, sondern hauptsächlich, weil Sahnil anscheinend zurzeit etwas mit ihr hatte. Zumindest behauptete Tia, eine Freundin von Marla, dass sie Sahnil abends gesehen hätte, wie er sich mit Ara traf.

Wegen solcher unwichtiger Nachrichten bevorzugte Synarek es, die älteren Leute zu belauschen, die wenigstens noch etwas Interessantes über die zukünftigen Pläne ihres Landes erzählten.

Allzu oft konnte er sich allerdings nicht unsichtbar davonstehlen. Er fehlte dann bei der Arbeit. Bald suchten Zabban oder die anderen nach ihm. Außerdem kostete es ihn immer Kraft, und danach brauchte er eine Nacht Schlaf.

Dazu musste er ständig auf der Hut sein vor Dämonen. Tris schien von Dämonen nicht allzu viel zu halten: »Dämonen ... der Mensch setzt sie ein, wenn er selbst nicht weiter weiß. Seit der Mensch sie hat, hat er aufgehört, sich weiterzuentwickeln, ich sag’s dir. Sie lassen sich alles nur noch von Dämonen machen. Sogar Gemälde können Dämone angeblich besser malen, da sie dann den Originalen ähnlicher sehen. Doch es ist doch nicht des Künstlers Aufgabe, eine exakte Kopie eines Menschen oder einer Landschaft auf Papier zu bringen. Er zeichnet, oder malt den Menschen viel mehr so, wie er auf ihn wirkt.«

Tris’ Vater war, so erfuhr Synarek, neben seinen Widerstandsaktivitäten Maler gewesen.

»Ich wiederum finde Dämonen sehr faszinierend«, hatte Synarek Tris an einem dieser Tage gesagt. »Sie sind mächtig wie kein anderes Wesen. Nicht mal der Mensch ist so mächtig wie sie.«

»Und trotzdem sind sie Sklaven«, erinnerte Tris ihn.

»In unserer Welt schon, aber nicht in ihrer eigenen.«

»In ihrer Welt ist das gut so. Da sind doch alle wie sie. Doch in unserer Welt gibt es Schwächere, die Tiere und uns Menschen, die ihren Kräften nicht standhalten können«, hatte Tris gesagt.

»In unserer Welt sind die Menschen auch stärker als die Tiere. Für uns ist die Zauberei der Dämonen doch nichts anderes, als unsere Waffen und Käfige für die Tiere«, hatte Synarek geantwortet.

Kurz hatten sie geschwiegen.

»Nun ja, ich finde es gut, dass sie in unserer Welt Sklaven sein müssen, denn sonst wären sie zu mächtig«, sagte Tris schließlich. »Niemand hätte sie unter Kontrolle. Sie wären zu stark. Sie könnten alles, und, glaube mir, wer alles kann, ohne Grenzen, wird machtsüchtig, und dann endet es eines Tages schlecht mit ihm ...«

Synarek hatte gelacht. »Ich habe die ganze Kontrolle, die ich haben will, und vertraue mir, ich werde nicht schlecht enden.«

Tris hatte mitgelacht.

Womöglich fand er den Kommentar lustig, er konnte ja nicht wissen, dass Synarek es ernst meinte. Tris wusste nichts von Synareks Kräften, die immer weiter wuchsen.

Ich habe dämonische Kräfte und doch niemanden, der mich kontrolliert ... ich bin unaufhaltbar, dachte er.

Dank seines Besuchs auf dem Dämonenfest kannte er jetzt auch die meisten der hohen Herrschaften, die ihre Festung aufsuchten. Eines Tages hatte er Zabban mit zwei Ehrengästen im Gang stehen sehen. Wohl wissend, dass Zabban ihnen erst gestern erzählt hatte, wie ungezogen und missraten er doch sei, hatte er sich mit seinem schönsten Lächeln vor ihnen verbeugt und alle drei mit vollem Namen und Titel gegrüßt. Anerkennend hatten sie ihn betrachtet, aber Zabbans Augen hatten sich zu bedrohlichen Schlitzen geformt.

Mit Tris auf Zarm’buck war das Leben erträglich. Endlich jemand, mit dem er sprechen oder dem er einfach nur zuhören konnte, ohne ständig beleidigt zu werden.

Doch das Ende dieser Tage war absehbar, und Synarek graute vor der Zeit danach ...