Kapitel 57 – Doppelte Flucht

Die Nachricht, dass Altin und Synarek das gleiche Mal mit ihrem Namen auf dem Rücken trugen, verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den Soldaten. Als Altin Richtung Essensaal lief, flankiert von Minz und Tinz, kam eine Gruppe Männer vorbei, die vor ihm stehen blieb: »Was hast du dazu zu sagen, Altin?«, rief ein Mann. »Was hast du mit dem Dämon am Hut?«

»Bist du vielleicht ein Flabkaner?«, rief ein anderer.

»Ich hab gehört, dass er ein Waise ist. Da ist alles tatsächlich möglich ...«

Altin kannte die Männer nicht, aber einen von ihnen hatte er bereits im Rat der Soldaten gesehen. Einer der Männer schubste ihn grob und brachte ihn beinahe zu Fall.

»Hört auf damit!«, schrie Minz. »Altin hat euch vor den Blitzen dieses Jungen gerettet, jetzt hört auf, ihn wie einen Verbrecher zu behandeln!«

»Damit ist schon bald Schluss! Der Soldatenrat will ihn und seine Drecksschwester morgen früh sehen!«, sagte der Mann, den Altin schon mal beim Soldatenrat gesehen hatte, dann sah er Altin direkt ins Gesicht: »Morgen im Zelt von Synarek.«

In der Nacht schlief Synarek schlecht. Immer und immer wieder sah er Altins Gesicht vor sich, wie er ihn zu Boden warf, sich in einen Jaguar verwandelte und mit seinen Zähnen nach ihm schnappte. Um ihn aufzuhalten konnte Synarek nichts anderes tun, als immer wieder seinen Namen zu rufen: »Altin! Altin! Altin!«, doch es half nichts. Schließlich wachte er schweißgebadet auf. Es war stockdunkel, und die Wachen sahen nicht, dass er wach war. Einer der beiden sagte zur anderen Wache: »Hey, sag mal Bescheid, dass der Junge Altins Namen schreit. Das interessiert Schnulz doch bestimmt.«

Eine der beiden Wachen verschwand. Synarek realisierte, dass er alleine mit einer Wache im Zelt war. Das war seine Chance! Noch so eine Demütigung ließ er nicht über sich ergehen. Synarek war geschockt gewesen, als der Hauptmann seinen Namen auf seinem Rücken entdeckt hatte. Tausend Fragen waren durch seinen Kopf geschossen: Seit wann stand sein Name auf seinem Rücken? Hatte Zabban ihm seinen Namen auf den Rücken gepeitscht?

Er hörte wieder die zufriedene Stimme des Hauptmanns: »Aha ... Synarek also?«

Und Synarek war zusammengezuckt und hatte ihn ungläubig angeschaut.

»Dann stimmt es also«, murmelte er. »Hättest du uns nicht einfach sagen können, dass dein Name auf deinem Rücken steht?«

Doch noch mehr hatte es ihn schockiert zu hören, dass in Altins Formular stand, dass er und seine Zwillingsschwester Yxes die gleichen Male mit ihrem Namen trugen. Da hatte Synarek nämlich verstanden, dass sein Namen anscheinend nicht das Werk von Zabbans Peitschen war, sondern etwas, was er schon viel früher gehabt haben musste ..., doch wie bei allen Dämonen konnte es möglich sein, dass auch Altin und seine Schwester, zwei Sarandaner, dieses Mal hatten? Wer war er? Was war er? Und was ging hier vor? Und was verband ihn noch mit den beiden?

Doch Synareks Neugier konnte seinen Entschluss nicht übertrumpfen. Er musste fliehen. Er strengte seinen ganzen geschundenen Körper an und konzentrierte sich. Er musste die Kraft in sich finden, die ihm dazu verhalf, Dämonenmagie auszuüben. Jetzt sofort! Zuerst spürte er in sich nur Leere, doch dann fand er die Kraft wieder, die hitzig und wütend in ihm pochte, und er konzentrierte sich auf sie. Er war schwach, und alles musste schnell gehen. Er durfte keine unnötige Zeit verschwenden!

Er befahl den Fesseln, von ihm abzufallen, und tatsächlich: Langsam und geräuschlos lösten sie sich auf. Dann pirschte er sich unauffällig an die Wache heran, die jetzt am Eingang des Zeltes stand und immer wieder ungeduldige Blicke nach draußen warf. Seine Sachen lagen nicht weit entfernt vom Wachmann, er trug nur eine Hose. Doch bevor er seine Sachen anzog, musste er die Wache ausschalten, doch womit? Er schlich mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem zu seinen Stiefeln und zog vorsichtig das Messer heraus. Was hatte er vor? Wollte er wirklich diesen Mann töten?

Eigentlich nicht. Er überlegte. Dann kam ihm eine Idee. Auf dem Boden lagen einige Flaschen herum, die die Wachen während ihrer Schicht geleert hatten.

Er griff nach einer Flasche und schlich sich lautlos an den Mann an. Wie dumm er war, dass er die ganze Zeit nach seinem Freund Ausschau hielt. Aber wer nahm es ihm übel? Er glaubte wohl, Synarek würde schlafen oder bewusstlos gefesselt in der Ecke liegen. Synarek stand jetzt hinter dem Mann und schlug ihm mit voller Kraft die Flasche auf den Kopf. Sie zersplitterte mit einem dumpfen Geräusch. Der Mann gab nur ein Stöhnen von sich, doch trotzdem schlang Synarek sofort seine Finger um seinen Hals und legte die andere Hand auf seinen Mund. Synarek schleifte den Bewußtlosen ins Zelt, dann musste alles schnell gehen: Er streifte seine Stiefel über und nahm sein Messer in die Hand. Sein Schwert war unauffindbar, und seine Uniform nur noch in Fetzen vorhanden. Allerdings war sein neutrales, dunkles Unterhemd noch einigermaßen heil geblieben, auch wenn es überall getrocknete Blutflecken hatte. Rasch zog er es über und begnügte sich damit.

Dann stieg er vorsichtig aus der Öffnung des Zeltes heraus. Es war eine dunkle Nacht. Bald würden sie den Wachmann finden, da war er sich sicher. Er musste schnell hier weg. Synarek schlich geduckt von Zelt zu Zelt. Er wusste nicht, in welche Richtung er lief. Es war zu dunkel, und er kannte das Lager nicht, aber er lief. Hin und wieder sah er einen Schatten zwischen den Zelten und verharrte bewegungslos. Das Lager war riesig! Leise fluchend schlich sich Synarek vorwärts. Doch schon bald wurde er eines besseren belehrt: Ein Lager wäre kein Lager, wenn es nicht auch von Dämonen bewacht würde. Er spürte ihre Anwesenheit. Sein Herz klopfte ihm in den Ohren. Vielleicht hatten sie ihn noch nicht bemerkt. Er hatte fast die Grenze des Lagers zu einem Wald erreicht, als einige Männer ihn entdeckten, ein Dämon hatte sie zu ihm geführt: der dürre Hund! »Halt, stehen bleiben!«, schrien sie. »Alarm!«

Sie sind viel zu laut, dachte Synarek schockiert.

Der Dämonenhund sprang auf ihn zu und biss nach seiner Hand. Synareks Messer flog auf ihn zu, verfehlte ihn jedoch und landete vor einem Soldaten auf dem Boden. Der hob es auf, während Synarek versuchte, sich den Dämon vom Leib zu halten: »Aha, ein Flabkaner Messer. Was sagst du dazu, wenn ich dich mit deinem eigenen Messer töte?«

Synarek hatte den Mann noch nie gesehen, aber Töten klang schlecht.

Ohne nachzudenken stürzte sich Synarek auf den Mann und schlug mit bloßen Fäusten nach ihm. Der Mann stach blind mit Synareks eigenem Messer nach ihm und traf ihn an der verletzten Schulter. Vor Schmerz heulte Synarek auf und taumelte zurück. Die Männer lachten und kamen jetzt von allen Seiten.

»Nicht bewegen!«, rief einer.

Mittlerweile waren aus einigen Zelten Menschen geströmt, um zu sehen, was los war. Synareks Schmerz wurde größer, doch er durfte jetzt nicht aufgeben. Kurz dachte er an Altin, und dann lächelte er teuflisch. Er konzentrierte sich auf seine Dämonenkraft und setzte das erste Zelt mit seinem bloßen Blick in Brand. Das war das Zelt, aus dem gerade die zwei Männer gestürmt waren, es war also leer. Die Männer, die gegen ihn kämpften, waren für einen Moment abgelenkt, und in dem Moment verwandelte sich Synarek in einen Wolf, heulte laut auf und verschwand in der Dunkelheit des Waldes. Die Männer und der Dämon wollten ihm folgen, doch er war dunkel wie die Nacht und schneller als der Wind.

Er war entkommen!

Altin rüttelte Yxes wach. Sie setzte sich erschrocken auf: »Schnell, schnell! Steh auf!«, zischte er.

Yxes stand verschlafen auf, und Altin zog sie aus dem Zelt, bevor Arise, Asure, Tinza, Mokka oder Ellie erwachen konnten. Draußen standen Mo, Narek und Derf. »Was geht hier vor?«, flüsterte sie.

»Schnell! Zieh das über!« Mo drückte ihr eine Uniform in die Hand und einen Helm: »Du musst aussehen wie ein Soldat.«

Yxes verstand nicht, aber während sie sich einkleidete, sprach Mo schnell und leise auf sie ein: »Hör zu, sie wollen euch morgen beim Rat sehen. Es sieht schlecht aus, sie werfen euch Komplizenschaft mit Synarek vor. Ihr müsst fliehen, bevor noch etwas Schlimmeres passiert.«

»Aber wohin?«, fragte Yxes verwirrt. »Und wieso? Was ist das für ein Krach?«

Am anderen Ende ihres Lagers glaubte Yxes, Feuer zu sehen. Dort regten sich auch schon die ersten Menschen.

»Schnell, nicht ablenken lassen!«, raunte Mo. »Synarek ist abgehauen. Vorher hat er im Schlaf Altins Namen gerufen, ihr seid erledigt. Auf der Flucht hat er noch Feuer gelegt, die Flabkaner können jetzt sehen, wo wir sind.«

»Flieht Richtung Süden!«, sagte Derf, »und zwar jetzt!«

Yxes gehorchte und lief an Altins Seite los. Mo, Narek und Derf sahen ihnen nicht nach, sondern rannten in die Richtung des Feuers, um den Brand zu löschen. Immer mehr Leute erwachten und schrien wild durcheinander.

Yxes und Altin rannten durchs Lager, immer in die Richtung, die Derf ihnen gewiesen hatte. Bald müssten sie das Ende des Lagers erreicht haben. Am Ende ihres Lagers waren Wachposten aufgestellt, die sie aufhalten wollten: »Hey, wohin des Weges?« Ein Mann erkannte Altin unter seinem Helm wieder: »Das ist Altin, lasst ihn nicht entkommen!«

Und ehe Yxes etwas tun konnte, hatte er schon mit seiner Lanze nach Altin gestoßen. Altin war zur Seite gesprungen, doch die Lanze erwischte ihn an der Seite. Er rang nach Luft. Yxes schrie, und in ihrer Wut schlug sie mit bloßen Fäusten auf den Mann ein, der sie von sich stieß. Als sie zu Boden fiel, dachte sie verzweifelt: Komm schon, Yxes, wenn du schon dämonisch bist, dann musst du auch was können! Und in ihrer Verzweiflung grub sie instinktiv ihre Hände in die Erde und schrie auf. Die Erde unter ihnen begann zu beben. Nur kurz, doch es reichte, um die Männer allesamt zu Fall zu bringen und sie entsetzt zu Yxes schauen zu lassen. Diese war bereits aufgesprungen, hatte Altin am Arm gepackt und war mit ihm in die Nacht geflohen, schneller, als es gewöhnlichen Menschen möglich gewesen wäre. Die Dunkelheit verschluckte ihre dunklen Uniformen.