Gegen Mittag kehrten die Soldaten und Tzandaris Männer zu ihnen zurück. Mo nahm Yxes in den Arm und umarmte sie, dann fragte er: »Ich hoffe, dass du dich heute Morgen allein im Zimmer nicht erschreckt hast.«
»Nein, nein, es ging schon. Ich hatte ja den Zettel«, antwortete Yxes. Dann setzten sie sich alle in den etwas zu kleinen Speisesaal, in dem Yxes einige Stunden zuvor gefrühstückt hatte und aßen zu Mittag. Es gab eine Bohnensuppe, und Yxes fühlte sich dadurch an das Gebräu vom Morgen erinnert, sagte jedoch nichts.
Arise erkundigte sich beim Essen danach, wo denn eigentlich Synarek abgeblieben sei, aber Zerroko erklärte, dass keiner im Hause es für sonderlich schlau gehalten hatte, ihn mitzubringen, da er der Menge nicht präsentierbar war. Schließlich war er in aller Augen ein Flabkaner, ein Feind. So hatten sie ihn und die Dämonen, die ihn bewachen sollten – unter anderen auch Damoniuli – in der Wohnung zurückgelassen. Iwig, der wie die meisten noch immer ein wenig skeptisch ihm gegenüber war, hatte dazu nur gesagt: »Wenn der mal nicht abgehauen ist, bevor ihr wiederkommt.«
Twigo und Tzapadil, die den Saal etwas später betreten hatten, schlenderten auf sie zu. »Na, schmeckt die Suppe?«, fragte Twigo, doch ohne eine Antwort zu erwarten, fuhr er fort: »Wir holen uns jetzt unsere Teller und setzten uns zu euch.«
Aus dem Augenwinkel hielt Yxes Ausschau nach Cas und Tzandari. Tatsächlich sah sie das Pärchen an einem weiter entfernten Tisch sitzen, an dem auch Caleb und Elevandra Platz genommen hatten. Sie wirkten wie zwei ganz normale Paare, es war einfach schwer, sich vorzustellen, dass sie Zeugen eines so schrecklichen Ereignisses geworden waren. Und Kassandra, ihre Mutter, die dort an Tzandaris Seite saß, sie sollte der Grund sein für diesen Krieg? Yxes betrachtete die schwarzen Locken ihrer Mutter und wurde sich auf einmal bewusst, dass Merinda und sie, auch wenn sie noch so verschieden aussahen, doch beide etwas von den Haaren der Mutter geerbt hatten. Merinda die Locken und Yxes die Farbe. Sie lächelte. Mit einem Ohr hörte sie zu, wie Mo, der neben ihr saß, sich mit Minz und Tinz über die bevorstehende Reise nach Täfkan unterhielt. Ab und zu mischte sich Zerroko in das Gespräch ein. Wie seltsam, dass alle diese Menschen, die in ihrem Leben eine Rolle spielten, hier zusammen saßen und aßen. Sie waren alle so unterschiedlich ...
Twigo, der ihr schräg gegenüber saß, riss Yxes aus ihren Gedanken, indem er sich direkt an sie wandte: »Und, Yxes, was hast du jetzt vor? Wirst du nach Wrang-ba gehen?«
Yxes schüttelte den Kopf: »Ich bleibe erstmal hier.« Sie überlegte. Was wusste Twigo? Er wusste, wer Cas war und dass Tzandari sie aus dem Schloss »gestohlen« hatte, doch soweit Yxes wusste, wusste er nicht mehr ... Auch Tzapadil hatte es vor dem Abendessen nicht gewusst, und er war Kassandras Sohn. Das hatte sie an seinem verstörten Gesichtsausdruck bemerkt, welcher ihm bei Kassandras Erzählung über das Gesicht gewandert war. »Und du?«
»Ich begleite Tzandari nach Wrang-ba. Mal sehn, was es da für mich gibt. Wenn es mir nicht gefällt, kann ich ja immer wieder zurück«, antwortete der blonde Dieb, dann hob er sein Glas. »Lass uns anstoßen, auf einen Abschied und ein baldiges Wiedersehen!«
Yxes grinste, hob ihr Glas und stieß mit ihm an. Yxes beobachtete Twigo, während er sein Glas leerte, und fragte sich, ob der Dieb überhaupt fähig war, in einem Kampf zu überleben. Twigo war doch ein Dieb, kein Soldat. Vielleicht würde Yxes auch ihn nicht wiedersehen. Seltsam, wie vertraut ihr die Gestalt des Jungens geworden war, der bei ihrer ersten Begegnung versucht hatte, sie zu bestehlen ...
»In Gedanken versunken?« Wieder riss Twigos Stimme sie aus ihren Überlegungen. »Oder schaust du mich einfach gerne an?«
»In Gedanken versunken. Ich dachte gerade daran, wie du versucht hast, unsere Kartoffeln zu klauen«, erzählte Yxes.
Twigo lachte: »Ach, stimmt ja! Jaja, und ihr habt mich gefangengenommen. Das sollte ich dir übel nehmen ...«
So unterhielten sie sich noch eine Weile, bis schließlich ein Mann aufstand, sich Gehör verschaffte und ankündigte, dass sie nun aufbrechen müssten. Yxes spürte, wie ihr Magen sich zusammenkrampfte. Asure, Arise und sie umarmten sich heftig. Unter Tränen verabschiedeten sie sich voneinander, während Mo ein paar Worte mit Altin wechselte. Schließlich umarmte Yxes alle einmal blind durcheinander: Derf, der ihr sagte, dass sie bitte auf Arise aufpassen sollte, Tzapadil, der sie freundlich Schwester nannte, Minz und Tinz, die sie durch ihre Tränen kaum unterscheiden konnte, Iwig, der sie fragte, ob er die anderen, in Wrang-ba Zurückgebliebenen von ihr grüßen sollte, Twigo, der ihr grinsend sagte, dass er sie möglicherweise sogar vermissen könnte und schließlich Mo. Mo hielt Yxes ganz fest im Arm, und nach einer Weile flüsterte er: »Pass auf dich auf, Kleine, ja?« Nach einer kurzen Pause fügte er noch hinzu: »Ich werd’ irgendwann mal schreiben, wenn ich aus Täfkan zurück bin.«
»Bitte pass auf dich auf!« In Yxes’ sowieso schon feuchten Augen bildeten sich neue Tränen.
Mo beugte sich vor und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Lippen: »Mach dir keine Sorgen, Prinzessin.«
Der Abschied fiel Yxes so schwer. Unwillkürlich musste sie an die Abschiede denken, die ihr bis jetzt am schmerzhaftesten erschienen waren: Es war damals gewesen, als sie sich von den anderen im Waisenhaus hatte verabschieden müssen, die nicht mit ihnen hatten kommen wollen. Wieder verspürte Yxes nur beim Gedanken daran Schmerzen, doch das hier war viel schlimmer. Diesmal musste sie den Leuten Lebewohl sagen, von denen sie sich damals nicht hatte trennen wollen. Diesmal ging es um ihre Liebsten. Wann würden sie sich je wiedersehen? Schließlich lösten sie sich voneinander. Mo lächelte ihr aufmunternd zu: »Ich werde wiederkommen, keine Sorge.«
Dann machten sie sich auf den Weg. Ab und zu drehte sich der ein oder andere noch einmal um, sei es Derf oder Asure, und sie winkten ihnen mit Tränen in den Augen hinterher. Auch Elrako, Furgal, Zerroko, und Merinda wirkten bedrückt, obwohl sie die Waisen nicht so lange kannten wie Yxes, Arise, Felrim und Altin. Irgendwann hatte Elevandra sanft vorgeschlagen, dass sie langsam zurückkehren sollten, denn die Truppe war schon außer Sicht, und es wehte ein kühler Wind.
Arise schluchzte immer noch, als die Soldaten schon längst weit entfernt waren und sie sich auf den Weg zurück zu ihrer Wohnung machten.
Yxes hoffte, dass es irgendwann in naher Zukunft eine Möglichkeit gab, für sie alle glücklich in Frieden zu leben, auch wenn sie wusste, dass auch dann, wenn endlich Frieden herrschen würde, es immer noch Abschiede in ihrem Leben geben würde. Als sie noch einmal zurückblickte, sah sie ein einsames Blatt im Winde davonwehen, und sie verspürte eine große Dankbarkeit, an diesem Tag des Abschiedes nicht allein sein zu müssen.