2

Als Haruka nach einer heißen Dusche endlich auf das Bett fällt, ist er völlig ausgelaugt. Während des Abendessens hat Amelia ihre ganze Aufmerksamkeit ihm gewidmet und sich ausschließlich mit ihm unterhalten.

Was wünscht Ihr Euch von einer Gefährtin? Ihr seid so umwerfend. Wann denkt Ihr, werdet Ihr bereit für eine Verbindung sein? Eure Augen sind wunderschön, aber haben sie immer diese Farbe? Wie ist die Aristokratie in Japan? Habt Ihr eine körperliche Quelle? Findet Ihr mich begehrenswert? Ich finde Euch unsagbar begehrenswert.

Irgendwie hat er es geschafft, höflich dem Ansturm an Fragen auszuweichen. Vor dem heutigen Abend hat Haruka befürchtet, als sozial inkompetent rüberzukommen, nachdem er sich die letzten Jahre in der ländlichen Gegend Englands isoliert hat. Aber es scheint keine Rolle zu spielen, ob er ungeschickt ist oder nicht. Er ist begehrenswert und das reicht anscheinend schon aus. Das körperliche Erscheinungsbild wiegt mehr als tief sitzende charakterliche Unzulänglichkeiten. Ein hübsches Gesicht ist genug.

Die Ausstattung und das Ambiente des Gästezimmers stehen im Einklang mit dem Rest des Hauses: stimmungsvolle Beleuchtung gepaart mit dunkler Einrichtung im Barockstil. Leuchter mit Spitzkerzen, an denen das Wachs heruntertropft. Selbst das Himmelbett ist übertrieben riesig und nimmt den Großteil des Raums ein.

Haruka dreht sich auf die Seite und kuschelt sich in die weiche Daunendecke. Endlich allein fühlt er sich seit Stunden das erste Mal halbwegs wohl. Ein sanftes Klopfen an der Tür sorgt dafür, dass er die Augen wieder aufschlägt. Er rollt sich auf den Rücken und konzentriert sich. Seine vampirischen Sinne fokussieren die Präsenz hinter der Tür und er atmet die sie umgebenden Gerüche ein. Es handelt sich definitiv um den starrenden, blauäugigen Bediensteten von vorhin. Haruka blickt ausdruckslos an die Decke, bevor er einen schweren Seufzer ausstößt. »Es geht also los.«

Er schleppt sich aus dem Bett und geht langsam auf die Tür zu, um sie einen Spalt weit zu öffnen. Der Bedienstete blinzelt mit großen puppenähnlichen Augen und wirft Haruka durch den Spalt einen Blick zu. Im Grunde ist er ein Mensch, der sich am Rand der modernen Vampirkultur festklammert. Ein Vampir-Mensch sehr niedriger Stufe.

Sein Haar ist sandbraun und kurz geschnitten, um die Herzform seines Gesichts zu unterstreichen. Zarte Sommersprossen bedecken Nase und Wangen, als hätte sie ihm jemand unbekümmert mit einem Pinsel auf das Gesicht gesprenkelt. Obwohl er relativ jung wirkt, ist er zweifellos attraktiv. Und Haruka weiß, was er will. Der sinnliche, bewundernde Blick in seinen himmelblauen Augen ist unmissverständlich.

»Euer Gnaden, ist Euer Gemach zu Eurer vollsten Zufriedenheit?«

Mein Gemach. Je länger Haruka sich in diesem Haus befindet, desto mehr fühlt er sich in der Zeit zurückversetzt – oder als sei er Teil eines literarischen Klischees seiner Kultur, so wie Menschen sie sich vorstellen. Fast hat er schon mit einem extravaganten Sarg anstelle eines Bettes in seinem Gästezimmer gerechnet.

»Alles ist zu meiner Zufriedenheit«, versichert Haruka. »Danke der Nachfrage.«

»Natürlich.« Ein warmes Lächeln breitet sich langsam auf den Lippen des Bediensteten aus. »Wünscht Ihr, dass ich hereinkomme, um die Räumlichkeiten zu begutachten? Es ist mein sehnlichster Wunsch, dass Ihr während Eures Aufenthaltes vollkommen zufriedengestellt seid. Ich wäre bereit, alles Notwendige zu tun, um sicherzustellen, dass Ihr vollauf befriedigt seid, mein wunderschöner und gnädiger Lord.«

Gott steh mir bei. Haruka erwidert das Lächeln höflich. »Ich weiß das gütige Angebot zu schätzen. Aber heute Nacht möchte ich mich ausruhen.«

»Seid Ihr sicher? Ich bin überaus begabt …«

»Ich bin sicher.«

»Ich verstehe. Das ist ein großer Verlust meinerseits.« Er neigt den Kopf und wirft Haruka noch einen Blick durch seine langen braunen Wimpern zu, bevor er kehrtmacht und davongeht. Nachdem Haruka die Tür geschlossen hat, dreht er zur Sicherheit noch den Schlüssel.

Sobald er allerdings wieder im Bett ist und die Augen schließt, klopft es erneut an der Tür.

Diesmal bleibt Haruka aber bewegungslos liegen und dehnt wieder die Sinne aus, um den Geruch wahrzunehmen. Es handelt sich um die Vampirin der Zweiten Generation mit dem entzückenden gebräunten Teint. Sie ist eine der zwölf Anwesenden gewesen, die während des Essens eher still geblieben sind. Sie haben den ganzen Abend über buchstäblich nichts gesagt und lediglich wie die steifen Schauspieler einer Laientheatergruppe aufs Stichwort gelacht oder gelächelt.

Da die Tür abgeschlossen ist, beschließt Haruka, sich schlafend zu stellen. Nach wenigen Minuten gibt sie auf und ihre unaufdringliche Präsenz entfernt sich.

Beim dritten Klopfen schläft Haruka bereits. Träge öffnet er die Augen. Die Erschöpfung sitzt ihm tief in den Knochen und er gähnt, aber noch bevor er ausmachen kann, wer sich vor seiner Zimmertür befindet, hört er ein lautes Klicken die Stille durchbrechen. Er sieht verwirrt zu, wie die Tür knarrend geöffnet wird.

Das gelbe Licht aus dem Korridor geht Amelia voraus, als sie den Raum betritt und die Tür zügig hinter sich zuzieht. Sie ist schon auf dem Weg zu Haruka, als er sich hastig im Bett aufsetzt. Er reibt sich mit den Händen das Gesicht, in dem Versuch die Orientierungslosigkeit abzuschütteln. »Was macht Ihr …«

Amelia stürzt sich auf ihn. Sie ist schnell, aber Haruka ist schneller – er blinzelt einmal, wodurch seine Augen hell aufleuchten, und ruft die ihm innewohnende Macht hervor. Sie fühlt sich wie ein fester Knoten in seinem Inneren an, der sich löst, und strömt wie ein reißender Fluss unaufhaltsam aus ihm heraus. Dabei wächst sie an und dehnt sich aus. Haruka schickt die Kraft gezielt in Amelias Richtung. Sie keucht auf, plötzlich wie erstarrt, und sieht ihn mit geweiteten Augen an, während sie unter seinem Bann steht.

Harukas Brust hebt und senkt sich unter der Anstrengung, sie an Ort und Stelle zu fixieren. Er unterwirft sie vollkommen, sodass nicht einmal ihr Bewusstsein frei ist, mit ihm zu kommunizieren. Seit mindestens einem Jahrzehnt hat Haruka nicht mehr von dieser Macht Gebrauch gemacht und jetzt wendet er sie so nachlässig an – willkürlich, ohne wahren Fokus und seine übliche Finesse. Der Duft seiner einzigartigen Aura durchdringt den Raum wie ein nebliger Schleier, der wie Rauch aus einem Feuer aufsteigt – aber blutrot und übernatürlich. Sollte er sie nicht bald wieder absorbieren, wird sie die Bewohner des Hauses wachrütteln und sie wie ein Leuchtfeuer anziehen.

»Asao?«, fragt Haruka in die Stille, den Blick auf Amelias erstarrte Gestalt vor ihm gerichtet. Zu seiner großen Erleichterung öffnet Asao kurz darauf die Tür. Er schließt sie wieder und stellt sich dann hinter Amelia.

Sobald er ihre Arme hinter ihrem Rücken fixiert hält, hebt der Bedienstete das Kinn. »Ich bin so weit. Ihr könnt sie freigeben.«

Haruka atmet ein und nimmt das Gewicht seiner Kräfte methodisch wieder in den Körper auf. In Gedanken formt er sie wieder zu dem Knoten, der tief in seinem Inneren ruht.

Amelia zieht scharf die Luft ein, als hätte sie sich bis eben unter Wasser befunden, und reißt die Augen weit auf. Sie bäumt sich auf und wirft ihren üppigen Körper hin und her, um sich aus Asaos Griff zu befreien, aber er bleibt standhaft und hält sie weiterhin mit Leichtigkeit fest.

»Ihr … Ihr habt richtige Kräfte «, sagt Amelia im Flüsterton, ihre Stimme noch beeinträchtigt von der Unterwerfung. »Ich wusste es. Ich konnte es riechen … und Euer Blut. Unglaublich!«

»Amelia .« Haruka macht sich seine tiefe Stimme zunutze, um sie zu beruhigen. Sie ist von niedrigerem Rang als er und daher anfälliger für seine Worte, so kurz nachdem sie seiner Aura ausgesetzt gewesen ist. »Ihr könnt doch nicht einfach in jemandes Zimmer eindringen. Ich bin Gast in Eurem Haus und das ist extrem unhöflich. Es sollte gar nicht nötig sein, dies zu erwähnen.«

»Ich … Ich bitte um Entschuldigung, Euer Gnaden.« Sie schwankt in Asaos Griff und fällt beinahe vornüber, aber er hält sie eisern fest. »Ich wollte von Euch trinken … Euch gefällig sein, um Eure … Aura … freizusetz…« Sie schläft ein.

Asao verlagert ihr Gewicht, um sie besser halten zu können. Er sieht auf ihre schlaffe Gestalt hinunter und schüttelt den Kopf.

»Erstens, ich habe es Euch ja gesagt.«

Haruka rollt die Augen.

»Zweitens«, fährt Asao fort, »das arme Kind platzt herein und wird dann nicht einmal mit Euch fertig. ›Eure Aura freisetzen.‹ Natürlich. Musstet Ihr sie unbedingt vollständig unterwerfen?«

Haruka atmet tief durch und kratzt sich am Hinterkopf. »Nein … Allerdings hat sie mich überrascht und ich bin aus der Übung. Du bist schnell hier gewesen, hast du gelauscht?«

»Sicher. Ich habe Euch gehört, als sie Euer Zimmer betreten hat. Mein Zimmer ist so verdammt weit weg, dass ich eine Weile gebraucht habe, um herzukommen. Dieser Ort ist unheimlich.«

Haruka gähnt. Was für ein Tag. »Ich bin sehr dankbar für deine einzigartige Fähigkeit.«

»Ihr seid weniger dankbar dafür, wenn Ihr mitten in der Nacht versucht Wein aus der Küche zu schmuggeln.« Asao schmunzelt.

Haruka lacht schnaubend. »Wie wahr.«

»Was zur Hölle soll ich jetzt mit ihr anstellen?«

Da ertönt ein Klopfen an der Schlafzimmertür. Nun schmunzelt auch Haruka. Wie aufs Stichwort. Er konzentriert sich und atmet ein. »Vielleicht kann der Bedienstete auf der anderen Seite der Tür behilflich sein?«

Er lässt sich schwer auf das Bett sinken und sieht zu, wie Asao sich mit der friedlich schlafenden Amelia abmüht.

Der sommersprossige Bedienstete steckt den Kopf durch die Tür und ist völlig verblüfft, als Asao mit ihm spricht. Dabei lässt er den Blick an ihm vorbeischweifen, um Haruka auf dem Bett unbeholfen zu begaffen. Kurz darauf wird ihm Amelia ungeschickt überreicht und Asao schließt die Tür.

»Ihr hattet heute Abend schon so einige Bewunderer.« Asao grinst und geht auf das Bett zu, während Haruka sich wieder hinlegt. Er deckt sich zu und macht es sich bequem, als sein Bediensteter sich neben ihn setzt. »Nur gut, dass sie Zweite Generation ist«, führt Asao fort. »Was, wenn sie von höherem Rang wäre?«

Haruka schließt die Augen und murmelt gegen die Laken. »Was, wenn du mir hilfst zu packen?«

»Haruka . Wie lange wollen wir das noch tun? Eure wahren Pflichten ignorieren und Eure Natur unterdrücken? Seit Jahren vermeidet Ihr es, darüber zu reden … Das hat alles mit Yuna angefangen. Eure Verbindung …«

»Asao, bitte .« Haruka sieht ihn flehend an. Er ist erschöpft davon, dass er seine Aura so plötzlich freisetzen musste. Genervt von der bevorstehenden Verbindungszeremonie und frustriert, weil er so unverantwortlich gewesen ist, das Aufsetzen eines immens wichtigen, kulturell bedeutsamen Dokuments aufzuschieben. Ein Gespräch über seine Herzensangelegenheiten und die Geister seiner bedauerlichen Vergangenheit zu führen, ist gerade das Letzte, was er möchte.

»Entschuldigt, Euer Gnaden«, sagt Asao steif. »Möchtet Ihr, dass ich bleibe, solange Ihr schlaft?«

Haruka drückt den Kopf in das Kissen, Körper und Geist sind schon dabei sich zu verabschieden. Er hat sich überanstrengt. »Das musst du nicht.«

»Muss ich Euch daran erinnern, dass die Vampire von Oxford nachtaktiv sind?«

Ohne sich zu bewegen, öffnet Haruka die Augen. Blinzelt kurz und überlegt.

»Damit meine ich«, fährt Asao fort, »es werden alle wach sein, während Ihr schlaft.«

Haruka dreht sich, um seinem Bediensteten in die Augen sehen zu können. Einen Moment herrscht vielsagende Stille, bevor Asao lächelt und mit dem Finger in die Ecke des Raumes zeigt. »Ich werde auf dem Sofa schlafen.«

»Wenn du das für das Beste hältst«, sagt Haruka und schließt lächelnd die Augen. »Ich werde nicht mit dir darüber streiten.«