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Anfang Dezember

Haruka sitzt an dem Tisch in seiner Bibliothek und trommelt nervös mit den Fingern auf das polierte Holz. Er stellt seine Entscheidung, einen fremden Reinblüter in sein Nest zu lassen, ernsthaft infrage.

Seine Begegnung mit Nino ist vier Wochen her. In der Zwischenzeit hat er einige Nachforschungen zum Bianchi-Clan von Mailand angestellt, wobei er sowohl Primär- als auch Sekundärquellen zurate gezogen hat. Harukas Vater ist in seiner Jugend mit der alleinigen Absicht ins Ausland gereist, die vampirischen Kulturen verschiedenster Länder zu erforschen, genau wie gemeinsame Praktiken, die schon bei indigenen Zivilisationen existiert haben. Er hat eigene Berichte erstellt, aber auch um Originale historischer Chroniken und Journale gefeilscht.

Eine dieser Errungenschaften umfasst mehrere Dokumente, die sich auf Westeuropa konzentrieren und ein kurzes Register bekannter Vampirfamilien Italiens beinhalten. Mit diesen Aufzeichnungen und einer einfachen Suche im Internet hat Haruka eine Menge Informationen über den Bianchi-Clan gesammelt.

Die Mutter der Familie ist verstorben, was Nino ihm bereits mitgeteilt hat. Domenico, der Vater, hat überraschenderweise den Tod seiner Gefährtin überlebt, aber ist seitdem sehr krank. Der Tod eines Teils eines verbundenen Paars resultiert fast immer im Untergang beider Vampire, wie es auch bei Harukas Eltern gewesen ist.

Die Internetsuche zum ältesten Sohn der Bianchis, Giovanni, hat viele Ergebnisse aus modernen Berichterstattungen gebracht – sowohl vampirischer als auch menschlicher Herkunft: Interviews, Berichte zu Übernahmen, Geschäftsanalysen und sogar einige harmlose Artikel in Klatschzeitschriften. Giovanni wird größtenteils als beeindruckender Geschäftsmann angesehen. Er ist ein bekannter Analytiker und Stratege, der angesehene Klienten mit vielseitigen Unternehmen auf dem ganzen europäischen Kontinent hat.

So viel man auch Giovanni und seine Errungenschaften betreffend findet, so wenig gibt es zu Nino. Haruka hat praktisch nichts entdeckt, als wäre der jüngere Sohn aus dem Rampenlicht seiner renommierten Familie rausgehalten worden. Das erscheint Haruka sehr seltsam und je näher Ninos Ankunft rückt, desto mehr fragt er sich, ob es ein Fehler gewesen ist, ihn einzuladen.

Während seiner Nachforschungen hat Haruka es kurz in Betracht gezogen, online nach seinem eigenen Namen zu suchen – oder zumindest seinem Namen in Zusammenhang mit Yuna Sasaki. Letztendlich hat er sich aber dagegen entschieden.

Das Aufkommen und die Beliebtheit des Internets in den letzten paar Jahrzehnten haben zwar positiven Einfluss im Hinblick auf die Zugänglichkeit von Informationen gehabt, aber ebenso einen negativen in Bezug auf Richtigkeit und Privatsphäre. Nino hat erwähnt, dass Haruka unter den britischen Vampiren »berühmt« ist. Aber er kann nicht feststellen, ob diese Aussage eine Übertreibung war, oder ob tatsächlich Details aus seinem Leben auf eine unerwünschte Art offengelegt worden sind.

Er lehnt sich in seinem kühlen Ledersessel zurück und verschränkt die Arme. »Wo Nichtwissen Seligkeit, ist es Torheit, klug zu sein. Asao?«

Eine Minute später steckt sein Bediensteter den Kopf durch die Tür. »Ich werde Euch jetzt keinen Wein bringen, Haruka. Ihr könnt heute Abend …«

»Habe ich dich um Wein gebeten?«, unterbricht ihn Haruka scharf, die Stirn gerunzelt. »Wann wollte Nino noch gleich ankommen?«

Asao lehnt sich mit der Schulter an den Türrahmen. »Er hat gesagt, er schließt die Bar heute früher, also so gegen acht Uhr abends. Das Gästezimmer ist vorbereitet und das Abendessen wird fertig sein, wenn er ankommt.«

Er lässt den Blick zum Boden um Harukas Tisch herum sinken, sein Gesichtsausdruck ähnelt plötzlich jemandem, der sich einem komplexen Rätsel gegenübersieht. »Wofür benötigt Ihr zwanzig verschiedene Bücher und zehn Stapel Papiere?«

Haruka schmunzelt. »Ich habe ein sehr ausgefeiltes System.«

»Es ist ein einziges Chaos.« Asao schüttelt ehrfürchtig den Kopf. »Ihr seid genau wie Euer Vater.«

Haruka nimmt das als Kompliment und lehnt sich wieder zurück. »Habe ich ein falsches Urteil gefällt? Bin ich voreilig gewesen, als ich Nino dieses Angebot gemacht habe?«

Asao verschränkt die Arme. »Ich gebe zu, dass ich verdammt überrascht davon bin, aber ich denke, es wird in Ordnung sein. Er erscheint mir harmlos. Und seien wir mal ehrlich, Ihr habt eine Schwäche für europäische Männer mit bronzefarbener Haut. So wie der Große in Griechenla…«

»Habe ich nicht .« Harukas Augen weiten sich vor Unglauben. »Auch egal. Geh einfach.«

Asao lacht schnaubend. »Natürlich, Euer Gnaden. Übrigens habt Ihr wieder einen Brief bekommen. Aus Japan. Das ist jetzt schon der zehnte, den sie dieses Jahr geschickt hat.«

Haruka schluckt schwer, seine Kehle fühlt sich eng an. Allein bei ihrer Erwähnung verspannt sich sein ganzer Körper. Er senkt den Blick wieder auf das Journal, um mit seiner Arbeit weiterzumachen. »Schick ihn bitte zurück.«

Asao nickt. »Mit Vergnügen.« Er macht kehrt und verlässt das Zimmer.

Eine Minute vor acht läutet die Klingel in Harukas Anwesen. Er wartet in der Küche, da er weiß, dass Asao seinen Gast zuerst auf sein Zimmer im Obergeschoss führen wird, damit dieser sein Gepäck abstellen kann, bevor sie zum Abendessen herunterkommen.

Selbst jetzt ist Haruka noch beunruhigt – sein Knie wippt unter dem Tisch nervös auf und ab. Was ist nur in ihn gefahren? Seit zehn Jahren war es sein oberstes Ziel, um jeden Preis allen aus dem Weg zu gehen, und nicht, sie zu sich nach Hause einzuladen. Er kann jetzt schon Ninos waldige, mit Zimt unterlegte Essenz wahrnehmen, die sanft durch sein Heim weht wie ein verlockender Zauber. In Erwiderung bewegt sich Harukas eigene Natur, aber da er diesmal darauf vorbereitet ist, kann er die Empfindung leicht unterdrücken.

Zehn Minuten später kommt Asao gefolgt von dem attraktiven Gast in die Küche. Nino sieht sich um und nimmt die Umgebung in sich auf. Asao hat Sukiyaki zum Abendessen vorbereitet – in der Luft liegt der Duft von gekochtem Fleisch, Gemüse und süßer Sojasoße. Haruka beobachtet Nino von der hölzernen Frühstücksecke an der Backsteinwand aus. Pendellampen im Industriestil hängen von der tiefen Decke und geben dem Raum ein modernes und doch gemütliches Ambiente.

Haruka steht auf und atmet tief ein, um sich auf das vorzubereiten, was auch immer er sich da eingebrockt hat. »Hallo Nino. Willkommen in meinem Zuhause.«

Nino reagiert mit einer leichten Verbeugung. »Danke … Ich weiß das Angebot zu schätzen. Dein Haus ist wunderschön. Sehr malerisch.«

»Das ist sehr nett.« Haruka zeigt auf die hölzerne Bank. »Bitte setz dich. Ich hoffe, du magst japanisches Essen?«

»Ist das Sukiyaki?« Nino blinzelt erstaunt. »Heilige … Das hatte ich schon ewig nicht mehr. Es sieht unglaublich aus.«

»Alles ist fertig.« Asao dreht sich grinsend zur Tür. »Ich hoffe, es wird Euch schmecken. Ruft nach mir, falls Ihr noch irgendwas benötigt.«

»Vielen Dank«, ruft Nino, dessen Blick auf Asaos Rücken ruht, während dieser den Raum verlässt. Als der Bedienstete weg ist, dreht Nino sich zu Haruka. »Asao gehört zur Dritten Generation, oder?«

»Das tut er«, bestätigt Haruka und nimmt sich eine leere Schüssel für die Suppe.

»Es ist ungewöhnlich, dass ein Vampir von Rang jemandem dient. Wie kommt das, wenn ich fragen darf?«

Halb steht Haruka von seinem Platz auf und nimmt die Schöpfkelle aus dem Topf. Er füllt die Schüssel großzügig auf und reicht sie Nino, bevor er eine zweite für sich selbst herrichtet. »Asao ist als Kind der beste Freund meines Vaters gewesen. Ich kenne nicht die ganze Geschichte, aber er hat dem Hirano-Klan bereitwillig die Treue geschworen. Als meine Eltern gestorben sind, wurde er zu meinem Vormund.«

»Wie alt warst du da?«

»Zwölf.«

»Mein Gott.« Kurz ist Nino still. »Du warst so jung. Mein Beileid.«

»Danke, Nino.« Haruka setzt sich wieder, führt den Löffel an den Mund und pustet vorsichtig, bevor er von der warmen Brühe kostet.

Nino überrascht ihn. Zuerst hat Haruka es nicht bemerkt, aber er hat auf oberflächliche, ausschweifende Komplimente für sein Aussehen gewartet. Auf die Verwunderung über die unterdrückte Kraft seiner Natur, oder schlimmer noch, auf unverfrorene sexuelle Annäherungsversuche.

Stattdessen essen sie in angenehmer Stille. Als Nino dann wieder spricht, kommt seine Frage unerwartet. »Bei meiner Arbeit in der Bar treffe ich viele lustige Menschen«, sagt er mit einer gewissen Zuneigung im Gesicht. »Hast du menschliche Freunde? Oder hast du überhaupt etwas mit Menschen zu tun?«

»Ich persönlich nicht, nein«, antwortet Haruka. Er legt seine Stäbchen und den Suppenlöffel neben die leere Schüssel. »Obwohl ich der Meinung bin, dass wir unsere einzigartige Kultur beschützen und aufrechterhalten sollten, finde ich auch, dass Interaktion mit Menschen bis zu einem bestimmten Grad gesund und notwendig ist.«

»Das denke ich auch«, sagt Nino. »Ich finde, positive Beziehungen sollten zwischen allen Lebewesen herrschen, egal welcher angeborenen Natur. Mein älterer Bruder Giovanni konzentriert sich in seinen Geschäften auf so was. Er will mehr Unternehmen von Vampiren und Menschen zueinanderführen, sodass sie miteinander arbeiten, anstatt nur für ihre jeweilige Zielgruppe.«

»Du erreichst das auf lokaler Ebene in deiner Bar, nicht wahr?«

Nino nimmt einen kleinen Schluck von seinem Wein. »Damit hast du wohl recht. Ich habe sowohl Menschen als auch Vampire als Gäste. Meine vampirischen Gäste werden von Natur aus von mir angezogen, weißt du? Auf elementarer Ebene. Sie sind immer von eher niedrigerer Stufe, daher machen sie mir keinen Ärger. Aber die Menschen bereiten mir Sorge.«

»Inwiefern?«, fragt Haruka, während er sein eigenes Glas ansetzt. Durch Literatur und Fernsehen hat er einen relativ gefestigten Eindruck von Menschen, aber die Wahrheit ist, dass er kaum persönlichen Kontakt zu ihnen hat. Die Existenz seiner Spezies ist den Menschen schon lange bekannt. Es gibt Ausnahmen, aber die meisten hochrangigen Vampire leben zurückgezogen.

Das Leben der Vampire präsentiert sich in der modernen Zeit in einem weiten Spektrum, auf dem die alte Welt der aristokratischen vampirischen Bräuche neben der menschlichen Gesellschaft besteht.

Nino lehnt sich zurück und macht es sich bequem. »Nun … Sie trinken eigentlich grundsätzlich zu viel und dann passiert eins von drei Dingen: Sie werden wütend, rührselig oder übermütig. Manchmal auch alles drei, aber das sind die schlimmsten und seltensten Fälle. Wütend und rührselig sind leicht zu handhaben. Übermut ist vermutlich am … ärgerlichsten? Sie machen nicht per se etwas falsch, also muss ich ihre Annäherungsversuche einfach hinnehmen. Und es fängt fast immer mit dem ›Wenn-du-ein-Mensch-wärst‹-Spiel an.«

Haruka legt den Kopf schief und runzelt die Stirn. Dieser Einblick interessiert ihn sehr. Für ihn ist Nino wie ein Anthropologe, der eine gefährliche Spezies nicht nur erforscht, sondern sich ihr auch ausgesetzt hat. Eine Spezies, die den Vampiren in der Vergangenheit mit viel Furcht und Diskriminierung begegnet ist. »Woraus besteht dieses Spiel?«, fragt Haruka.

»Es fängt an mit ›Wie alt bist du?‹. Meistens aus heiterem Himmel und ganz ohne Kontext. Bis dahin haben sie wahrscheinlich schon den ganzen Abend dagesessen und mich beobachtet. Also erzähle ich es ihnen und werde dann mit einem Starren belohnt. Meistens kommt dann: Wenn du ein Mensch wärst, dann wärst du … Hier kannst du ein willkürliches Alter einfügen. Es ist, als würden sie eine Art Referenzrahmen brauchen, damit ich in ihr Weltbild passe. Sie können nicht einfach akzeptieren, dass ich einhundertzwölf bin. Abhängig von der Person bekomme ich dann wahllos kulturelle Fragen wie ›Hast du Mussolini gekannt?‹ oder ›Was ist mit Pompeji?‹. Und ich denke mir, was soll mit Pompeji sein? Hast du nicht gehört, dass ich nur einhundertzwölf Jahre alt bin?«

Ungläubig runzelt Haruka die Stirn. »Und welches menschliche Alter wird dir meistens zugeordnet?«

»Gewöhnlich liegt es zwischen dreißig und fünfunddreißig? Ob du’s glaubst oder nicht, zweiunddreißig kommt am häufigsten. Wenn ich jedes Mal eine Bar öffnen würde, wenn mir ein Mensch dieses Alter andichtet, hätte ich Standorte in ganz Europa.«

Haruka schüttelt verwundert den Kopf. »So eine willkürliche und sinnlose Praktik … Pompeji.« Sind sie betrunken, wenn sie solch lächerliche Fragen stellen?

»Ich weiß.« Nino zuckt die Schultern. »Aber so was macht ihnen Spaß. Diese albernen kleinen Spielchen. Und dabei kommen sie sich so clever vor, als würde ich das nicht jede Woche mehrmals von Menschen gefragt werden.«

»Klingt anstrengend.« Haruka legt den Kopf nach hinten und leert sein Glas.

»Es gibt Schlimmeres.« Nino lächelt verschmitzt. »Also … wenn ich zweiunddreißig bin, wirkst du wohl wie neunundzwanzig?«

Haruka fällt vor Entsetzen das Kinn herunter. »Ich wirke nicht wie ein schwacher, zwanzigjähriger, infantiler Mensch .« Es ist schon frustrierend genug gewesen, als er noch unter hundert war. Vampire über hundert hatten die nervige Angewohnheit, jüngere Vampire wie Kinder zu behandeln. Als verstünden sie nichts vom Leben und dessen Komplexität.

»Ist doch rein hypothetisch, zum Spaß.« Nino grinst. »Was denkst du d enn, wie alt du aussiehst?«

Während er überlegt, lässt Haruka den Blick seitwärts wandern. »Wie einhunderteins.«

Abwehrend hebt Nino die Hände, in seinen bernsteinfarbenen Augen ist Sorge zu erkennen. »Okay, tut mir leid. Ich wollte dich nicht beleidigen …«

»Ihr habt großen Unmut über das Haus Hirano gebracht.«

Nino erstarrt und blinzelt nur. Er sieht ernst aus. »Es tut mir wirklich leid, ich …«

Haruka schmunzelt und schenkt sich noch ein Glas Wein ein. Jetzt versteht Nino den Scherz und lehnt sich zurück, während er mit den Fingern durch sein Haar fährt. Er schließt die Augen und lächelt breit. »Herrgott.«

»Ihr werdet unverzüglich ausgepeitscht und in den Kerker geworfen.«

Der goldene Reinblüter lacht herzlich, die Wärme, die von ihm ausgeht, erfüllt die spärlich belichtete Küche.