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Der See, der Hertsmonceux umgibt, ist zugefroren und mit einer dünnen weißen Schicht aus Puderschnee bedeckt. Die schrägen Dächer und runden Türme, die bis in den wolkenverhangenen Himmel reichen, liegen ebenfalls vor einem weißen Teppich. Haruka kann sich vorstellen, dass die Landschaft im Sommer wunderschön sein muss – das idyllische Backsteinschloss untermalt von weitläufigen grünen Wäldern und lebhaftem Vogelgesang. Und all das spiegelt sich makellos im See wider.

Aber jetzt gerade fühlt sich das Schloss kalt und unbewohnbar an. Bei dem Anblick des imposanten Gebäudes, das vor ihm aufragt, wünscht Haruka sich nichts sehnlicher, als umzudrehen und in die bekannte Wärme und Behaglichkeit seines eigenen Heims zurückzukehren. Er seufzt. »Grande responsabilité est la suite inséparable d’un grand pouvoir.«

»Was bedeutet das?«, fragt Asao vom Fahrersitz aus, während er das Auto langsam zum Stehen bringt.

»Aus großer Kraft folgt große Verantwortung.«

Durch das Fenster beobachtet Haruka eine Gruppe Vampire, die sich am Eingang des Schlosses tummeln.

Asao sieht mit gerunzelter Stirn zu ihm nach hinten. »Warum zitiert Ihr Spiderman auf Französisch?«

»Wer ist Spiderman?«, fragt Haruka und erwidert das Stirnrunzeln.

Asao schüttelt nur langsam den Kopf, während er aus dem Auto steigt. »Ihr solltet wirklich öfter rauskommen. Manchmal erscheint es mir, als würdet Ihr das mit Absicht machen. Ich suche Emorys Bediensteten auf, um nachzufragen, ob sie Blutbeutel für Euch haben. Nino parkt hinter uns.«

Asao schließt die Tür hinter sich. In der gedämpften Stille des Autos sinkt Haruka tiefer in seinen Sitz. »Nino …«

Haruka hat sich der Magen umgedreht, als Nino ihm anvertraut hat, dass er misshandelt worden ist. Die emotionale Offenheit hat ihn unvorbereitet getroffen.

Verbales Einwilligen ist beim Beißen eines anderen erwachsenen Vampirs unerlässlich. Es ist Vampiren nicht möglich, die Haut eines anderen Vampirs mit ihren Reißzähnen zu durchbohren, wenn dieser nicht vorher die Erlaubnis dazu erteilt hat.

Die einzigartige Natur von Vampirkindern erwacht erst, wenn sie sechzehn Jahre alt werden. Zu diesem Zeitpunkt härtet ihre Haut vollkommen aus. Vorher ist sie weich und sie sind nicht in der Lage formell einzuwilligen. Jeder Erwachsene, der solch einen verbotenen und grausamen Akt ausführt, tut dies aus reinem Egoismus und Perversion.

Nino erscheint wie ein charmanter, freundlicher und optimistischer Mann. Haruka hätte niemals erwartet, dass etwas so Grausames und Dunkles in dem komplexen Gefüge seines Wesens versteckt liegt. Bei dem Gedanken an den jungen, lebensfrohen Nino, der dies miterlebt hat, entbrennt ein scharfer Schmerz in seiner Brust.

Jemand klopft an das Glas neben Harukas Kopf und er fährt überrascht zusammen. Nino sieht ihn an, seine hellen Augen leuchten bernsteinfarben. Er trägt einen stilvollen olivgrünen Parka, der perfekt zu seiner hochgewachsenen Statur passt – die Farbe betont wunderbar seinen cremigen, honigfarbenen Teint. Er lächelt aufrichtig, mit einer natürlichen Leichtigkeit und Zuneigung, während er die Tür aufzieht und Haruka signalisiert, aus dem Auto zu steigen.

»Du hast dir das Ganze nicht anders überlegt, oder?«, fragt Nino. »Denn falls doch, fahre ich den Fluchtwagen.«

Emory Alain II, Erste Generation, Duke von Devonshire, und Catherine Alain, Erste Generation, Duchess von Devonshire heißen Euch offiziell willkommen zur

Bestätigung der Verbindung zwischen

Oliver James Alain und Gael Silva

Ablauf der Veranstaltung

Empfang & Cocktails ab 18:00 Uhr

Abendessen ab 19:30 Uhr

Feierliche Verlesung der Zertifizierung ab 21:00 Uhr

Beginn des Verbindungsrituals ab 22:30 Uhr

Bitte übergebt alle Geschenke und feierlichen Gaben Geoffrey im Dienstbotentrakt nahe des Osteingangs bei den Gärten.

»Die haben buchstäblich einen Zeitplan für Sex, der auch noch auf einem Stück Papier festgehalten ist.« Nino zeigt darauf und lehnt sich an Haruka, während sie zusammen inmitten von altem Reichtum und Überfluss stehen.

Haruka versteift sich angesichts des waldigen Zimtdufts und Ninos Nähe. »Ja, das sehe ich«, sagt er abgelenkt.

»Ich will mir gar nicht vorstellen, was es gekostet hat, dieses komplette Schloss für das Wochenende zu mieten. Ich habe online danach gesucht und es ist normalerweise zu dieser Jahreszeit gar nicht öffentlich zugänglich.«

»Ist in Vampirbesitz«, sagt Haruka schlichtweg. Vampire machen häufig Ausnahmen für andere Vampire, wenn es um ihre eigene althergebrachte Kultur innerhalb des modernen Systems geht. Vor einigen Jahren, als Haruka in Paris gelebt hat, hat er an einer Hundertjahrfeier im Louvre teilgenommen, die ein Reinblüter zu seinem vierhundertsten Geburtstag ausgerichtet hat. Es ist eine Privatveranstaltung gewesen, die um Mitternacht begonnen hat.

»Hm, das ergibt Sinn«, sagt Nino. »Glaubst du, du wirst anderthalb Stunden brauchen, um den Vertrag vorzulesen?«

»Nicht, wenn ich es verhindern kann.« Haruka richtet sich auf, um die Umgebung zu betrachten. Emory, der Duke von Devonshire und Vater eines Bräutigams, hat sich mit dem Veranstaltungsort wirklich selbst übertroffen.

Der Ballsaal, in dem sie sich momentan befinden, ist trotz seiner grandiosen Größe überraschend gemütlich. Imposante Kristallleuchter hängen von der hohen Decke und tauchen den milchig-weißen Marmorboden und die Steinwände in warmes Licht. Die Ostwand wird von zwei Reihen prächtiger Rundbogenfenster geschmückt, die Sicht auf den verschneiten Wald bieten. Die Westwand wird von einem übergroßen brennenden Kamin dominiert.

Nino und ihn eingerechnet sind mindestens zwanzig hochrangige Vampire anwesend. Allerdings werden nur die beiden Reinblüter die ›Ehre‹ haben, die eigentliche, private Zeremonie zu beaufsichtigen.

»Ist das normal?«, fragt Nino mit gesenkter Stimme. »Dass uns alle so unauffällig beobachten? Ich fühle mich wie ein Tier im Zoo.«

»Die Vampire der britischen Aristokratie scheinen in der Tat ein wenig zu begeistert zu sein«, antwortet Haruka, bevor er sein Glas an die Lippen bringt. Nachdem sie früh eingetroffen sind, um in Ruhe anzukommen und sich für den Abend umzuziehen, ist nun die Hälfte der Cocktailstunde vorüber. Haruka wirft einen unauffälligen Blick auf Nino. In seinem grauen Anzug, der perfekt geschnitten ist, sieht er sehr attraktiv aus. Das weiße Hemd ist gestärkt und die Krawatte aus schwarzer Seide. Als Nino seinen Blick bemerkt, grinst er. »Was ist?«

»Wie … fühlst du dich?«, fragt Haruka leise. »Du bist sehr besorgt gewesen bei der Aussicht, auf dieser Veranstaltung zu erscheinen. Fühlst du dich unwohl?«

»Nein, mir geht es gut. Ich glaube … Es hilft, dass wir zusammen hier sind.«

»Das freut mich.« Haruka seufzt und sieht noch einmal auf Ninos Anzug. »Du siehst sehr gut aus.«

»Vielen Dank. Du auch.«

Haruka sieht besonnen weg. Aber innerlich fühlt er sich alles andere als besonnen. Seine unterdrückte Aura hört nicht auf, ohne sein Zutun zu pulsieren. Er streckt noch einmal diskret den Rücken. Was zur Hölle stimmt nur nicht mit mir?

Einen Augenblick später dreht er den Kopf zur Seite und sieht eine junge Vampirin der Ersten Generation mit schulterlangen braunen Haaren auf sich zukommen. Sie ist klein und zierlich wie eine Elfe. Ihr Name ist Elsie und sie ist die jüngste Tochter des Dukes. Und Harukas Nahrungsquelle.

»Guten Abend, Euer Gnaden.« Elsie verbeugt sich tief, ihr Haar fällt nach vorn, während sie die Hände hinter dem Rücken verschränkt. »Ihr seht heute Abend sehr stattlich aus.«

»Hallo Elsie. Das ist sehr nett von Euch. Darf ich Euch Nino Bianchi aus Mailand vorstellen? Er wird die Zeremonie heute Abend beaufsichtigen.«

Elsie verbeugt sich vor Nino, aber als sie spricht, liegt keine Wärme in ihrer Stimme: »Seid Ihr der Reinblüter, der unerbittlich unsere Einladungen ignoriert hat?«

»Das … bin ich wohl«, antwortet Nino mit einem angespannten Lächeln.

»Dennoch ist er nun hier«, merkt Haruka an. »Wir möchten Oliver und Gael in ihrem Wunsch sich zu verbinden unterstützen.«

Elsie hebt das Kinn. »Heute ist das dritte Mal, daher glauben wir, dass es von Erfolg gekrönt sein wird. Auch wenn sie noch nicht so lange voneinander trinken, wie Ihr mein Blut trinkt, sollte es ausreichen.«

Äußerlich hält Haruka die taktvolle Fassade aufrecht, aber innerlich schäumt er vor Wut. »Elsie. Ich würde es sehr zu schätzen wissen, wenn Ihr die Art unseres Arrangements für Euch behaltet. Es handelt sich um eine überaus persönliche Angelegenheit.«

Sie wirft Nino einen kalten Blick zu, bevor sie höflich lächelt und wieder zu Haruka schaut. »Natürlich. Ich verstehe, Euer Gnaden. Aber ich muss Euch in Kenntnis setzen, dass mein Vater die Blutbeutel vergessen hat, die wir vorbereitet haben. Ich habe gehört, Euer Diener hat danach gefragt? Welch Schande.«

Haruka blinzelt verdutzt und fühlt sich, als hätte ihm jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. »Wie bitte?«

Elsie seufzt mit einem beinahe überzeugenden Ausdruck der Enttäuschung auf ihrem engelsgleichen Gesicht. »Bei der ganzen Aufregung wegen der Vorbereitungen für dieses Ereignis muss es ihm einfach entgangen sein. Aber sorgt Euch nicht, ich bin mehr als bereit dazu, persönlich für Euch zu sorgen. Tatsächlich freue ich mich sogar darauf. Vielleicht suche ich Euch einfach später am Abend in Euren Gemächern auf? Durch meine Verbindungen habe ich eine Kopie der original lateinischen Ausgabe der Aeneis erhalten. Ich dachte mir, Ihr würdet Euch vielleicht darüber freuen. Ich könnte sie Euch direkt vorbeibringen? Das wären zwei Fliegen mit einer Klappe.«

Harukas Maske bröckelt. Er kneift sich schockiert über diese himmelsschreiende Falle in den Nasenrücken. Das Schlimmste daran ist aber, dass seine Nahrungsaufnahme schon überfällig ist.

»Ähm, Elsie?«, fragt Nino zögerlich. »Ich glaube, Haruka fühlt sich nicht gut.«

Als sie Nino ansieht, hebt sie skeptisch eine Augenbraue, bevor sie wieder zu Haruka schaut und ihm höflich zunickt. »Euer Gnaden, lasst uns das später besprechen. Unter vier Augen.« Beim Umdrehen wirft sie ihr Haar über die Schulter. Haruka schließt die Augen und massiert sich die Stirn. Dieser Umstand ist ihm völlig unverständlich, es fühlt sich an, als würde sich eine Schlinge um seinen Hals langsam zuziehen.

»Herrje … Du bist weiß wie die Wand«, sagt Nino leise. »Komm, wir ruhen uns kurz aus, ja?« Sanft legt er eine Hand an Harukas unteren Rücken und geleitet ihn stumm aus dem überfüllten Ballsaal.