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»Ich habe gehört, wie Elsie Euch erzählt hat, dass sie die Beutel nicht mitgebracht haben«, flüstert Asao wütend. »Was zur Hölle? Sie haben mir keine klare Auskunft gegeben, seitdem wir hier angekommen sind.«

»Warte«, sagt Nino leise, verwirrt. Er sitzt neben Haruka an einem großen, rechteckigen Esstisch in dem geschäftigen Speisesaal. Asao hockt hinter ihren Stühlen. »Wie hast du das gehört?«, fährt Nino fragend fort. »Du bist gar nicht in der Nähe gewesen.«

Haruka nippt an seinem Wasser. Er lehnt sich zu Nino, um mit leiser Stimme zu ihm zu sprechen. »Asao hat ein außergewöhnlich gutes Gehör. Diese Fähigkeit ist die einzigartige Gabe seiner familiären Blutlinie. Innerhalb eines Gebäudes kann er alles hören, wenn er sich darauf konzentriert – egal, wie weitläufig es ist.«

Sowohl Haruka als auch Asao beobachten Nino, während er eine Grimasse zieht. Er schreckt zurück.

»Was? «

»Schh«, ermahnt Haruka ihn. Noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, hat keiner von ihnen nötig.

»Warum zu Hölle haben sie keine Beutel mitgebracht?« Asao richtet sein entnervtes Flüstern an Haruka. »Was führen sie im Schilde? Das ist doch kein verdammtes Spiel …«

»Warte mal«, sagt Nino. »Willst du damit sagen, dass du uns in den drei Tagen, in denen ich mit euch in Sidmouth gewesen bin, die ganze Zeit belauscht hast?«

Asao zuckt die Schultern. »Nicht die ganze Zeit. Ich habe auch ein Leben, wisst Ihr? Ich musste doch sichergehen, dass Ihr kein perverser, verrückter Vampir seid, also habe ich recht häufig zugehört.«

»Perverser, verrückt … «

»Schh. « Panisch legt Haruka Nino einen Finger auf die zarten Lippen. Aber sobald Ninos Blick aus geweiteten bernsteinfarbenen Augen Haruka trifft, zieht er die Hand wieder weg. »Ich … Ich entschuldige mich vielmals.«

»Schon okay …« Nino lächelt schüchtern. »Ich wollte meine Stimme nicht so heben. Sorry.«

Stille. Es ist, als wären sie in dem peinlichen Moment gefangen. Harukas Herz schlägt heftig in seiner Brust. Er sieht hinunter zu Asao, der noch immer hinter ihren Stühlen hockt. Der Blick des Bediensteten huscht zwischen ihnen hin und her.

Er grinst. »Süß.«

»Asao, können wir das bitte später besprechen?«, fragt Haruka, während ihm unangenehme Hitze den Nacken hochklettert. »Jetzt ist nicht die Zeit dafür.«

»Der Ablauf ist streng getaktet«, sagt Asao. »Heute Nacht werden wir dafür keine Zeit mehr haben.«

»Morgen reicht auch. Bis dahin werde ich schon überleben.«

Asao hält inne, aber diesmal sieht er Nino direkt an. Glücklicherweise hat Nino seine Aufmerksamkeit gerade auf seinen Teller gerichtet und nimmt einen Bissen von dem Essen. Asao schaut wieder zu Haruka, sein Gesicht ist ausdruckslos und seine Stimme gedämpft. »Frag ihn … «

»Euer Gnaden?«

Haruka sieht blinzend auf. Elsies älterer Bruder Oliver sitzt ihm am Tisch gegenüber, sein zukünftiger Gefährte Gael neben ihm. Oliver ähnelt seiner Schwester. Er hat die gleiche zierliche Statur, ist aber größer. Sein volles, kurzes kastanienbraunes Haar ist dem formellen Anlass entsprechend in eleganten Wellen nach hinten frisiert.

Gael ist groß und stattlich. Kräftig, wie jemand, dessen Arbeit daraus besteht, sehr schwere Lasten zu tragen. Er hat welliges schwarzes Haar und einen breiten Kiefer mit einem attraktiven Dreitagebart. Als Haruka sich ihm vorhin vorgestellt hat, hat Gael seine knapp eins achtzig große Statur überragt. Als sie einander die Hand geschüttelt haben, ist er etwas verweilt. Es war unauffällig, aber eine unangenehme Sekunde zu lang.

»Ich freue mich schon so sehr auf Eure Lesung der Zertifizierung nach dem Abendessen«, sagt Oliver, seine Stimme verrät trotz seiner formellen Ausdrucksweise seine Aufregung. Er scheint aufrichtig glücklich mit Gael und der Aussicht auf eine Verbindung mit ihm zu sein. »Es ist so eine Ehre, das Erbe unserer beider Familien anerkannt zu wissen, wenn wir unsere Blutlinien vereinen – wünscht uns Glück! Richtig, Darling?«

Er lehnt sich an Gael und fordert ihn zum Sprechen auf. Dessen starker Akzent bricht dröhnend aus dem gewaltigen Körper: »Ja, wir sind sehr dankbar für Eure Anwesenheit, Senhor Haruka Hirano. Senhor Bianchi.«

»Bist du nicht auch schon ganz gespannt auf die Lesung?«, fragt Oliver fröhlich.

Ein träges Lächeln breitet sich auf Gaels Gesicht aus. »Eu poderia passar horas assistindo esse gostoso fazer qualquer coisa.«

Oliver lacht und legt den Kopf auf Gaels breiter Schulter ab. »Liebling, du weißt doch, dass mein Portugiesisch nicht so gut ist, wie es sein sollte. Wir haben den Sommer zusammen in Brasilien verbracht, aber sind Gott sei Dank vor den Aufständen abgereist.«

Ich könnte Stunden damit verbringen, diesem heißen Kerl bei allem Möglichen zuzusehen. Haruka hat Gaels Worte nur zu gut verstanden und nimmt einen großen Schluck von seinem Wasser. Er zieht kurz in Erwägung, es sich über das Gesicht zu kippen, um sich zu ertränken (allerdings ist er schon einmal aus Versehen ertrunken – schreckliche Erfahrung.

»Die Aufstände sind in den letzten sechs Monaten nur schlimmer geworden«, sagt Nino und bringt sich anstelle Harukas in das Gespräch ein. »Das ist aber ein reines Vampir-Problem, richtig? Keine Menschen sind direkt daran beteiligt.«

»Richtig.« Oliver nickt, Sorge steht ihm ins engelsgleiche Gesicht geschrieben. Sein Erscheinungsbild entspricht genau wie sein Verhalten einem Vampir, der noch nie in seinem Leben auf irgendetwas hat verzichten müssen. Keinerlei Strapazen. »Die Aristokratie in Rio de Janeiro bröckelt. Ich glaube, der stetige Rückgang der reinblütigen Bevölkerung verursacht irrationales Verhalten. Der Verlust von Reinblütern bedeutet das unausweichliche Ende unserer Spezies.«

»Der reinblütige Herrscher von Rio de Janeiro ist recht berühmt, oder nicht?«, kommentiert Nino. »Wie war noch sein Name?«

»Ladislao Almeida«, sagt Haruka. Der Almeida-Clan hat vor einem Jahrhundert die Kontrolle über Rio übernommen und mit einem strikten, klassistisch-orientierten System regiert. Reinblüter zu Reinblüter, Erste Generation zur Ersten Generation und so weiter. Ein dogmatischer Versuch, Blutlinien daran zu hindern, sich zu vermischen.

Vor sechs Monaten ist der extrem alte Clan-Herrscher, der die Region geleitet hat, gestorben. Sein ältester Sohn Ladislao hat seitdem übernommen. Bis jetzt hat er die Gesellschaft genau in die entgegengesetzte Richtung geführt als sein Vater – aufs Extremste. Viele niedere Vampire in seinem Reich sind gegen seine ›extremistischen Ansichten‹.

»Mein Darling hat eng mit dem Almeida-Clan zusammengearbeitet.« Oliver sieht zu Gael hoch, seine Augen funkeln förmlich. »Ist es nicht so?«

»Ja«, bestätigt Gael. »Aber nach dem Tod von Senhor Almeida … hat sich vieles verändert. Foi terrível. Ich mag Ladislaos Art nicht, also bin ich dort schnell weggegangen.«

»Und ich bin ihm direkt in die muskulösen Arme gefallen« schwärmt Oliver. »Heute ist das dritte Mal, also bin ich zuversichtlich, dass wir Erfolg haben werden.«

»Viele Faktoren haben Einfluss auf eine Verbindung«, erklärt Haruka. Oliver ist so aufgeregt, dass Haruka sich verpflichtet fühlt, seine Erwartungen zu zügeln. »Es benötigt für gewöhnlich Zeit und Geduld, darauf solltet Ihr vorbereitet sein.«

»Welche Faktoren? Woher wisst Ihr das?«, fragt Oliver. Auch Gael sieht ihn neugierig an. Die Existenz von Lore and Lust ist zwar kein Geheimnis, aber Haruka erwähnt es nur selten in Gesprächen. Als würden Vampire mit Rang noch mehr Gründe brauchen, um sich nur noch mit dem Thema Verbindung zu beschäftigen.

»Meine Familie hat im Privaten viel Forschung zum Verbinden und den Voraussetzungen für eine erfolgreiche Verbindung betrieben. Sie ist das Vermächtnis meines Vaters und Großvaters.«

»Es ist ein richtiges Buch«, meldet sich Nino stolz zu Wort. »Die Informationen sind unglaublich.«

»Ein Buch über Verbindungen?«, fragt Oliver mit großen Augen. »Oh mein Gott …«

Ein hohes Glöckchen ertönt. Emory sitzt am Kopfende des langen Tisches und verkündet, dass es Zeit für die Lesung ist. Irgendwie schafft Oliver es, noch aufgeregter zu werden. Er erinnert Haruka an einen unausgebildeten Welpen.

»Es ist so weit!«, fiept Oliver und schenkt Gael ein Lächeln, das von einem Ohr zum anderen reicht. »Sind wir bereit?«

Gael sieht Haruka direkt an, sein Blick ist plötzlich sehr intensiv. »Mehr als bereit.«

»Por favor señor«, setzt Nino mit ernster Miene an. »No coquetee enfrente de su prometido. Es asqueroso

Ohne ein weiteres Wort steht er auf und verlässt den Tisch. Haruka sieht kurz zu Gael, der die Stirn gerunzelt hat, steht auf und nickt höflich, bevor er Nino aus dem extravaganten Speisesaal folgt.

Als Haruka ihn auf dem Gang einholt, lächelt er. Ninos selbstbewusstes Auftreten hat ihn angenehm überrascht. »Ich wusste gar nicht, dass du Spanisch sprichst. Denkst du, Gael hat dich verstanden?«

»Ich verstehe Portugiesisch ganz gut, aber kann es selbst kaum sprechen. Und ich wollte seinen Verlobten nicht aufbringen, indem ich es auf Englisch sage. Was für ein Arschloch . Warum flirtet er so offenkundig mit dir vor dem Mann, mit dem er gleich eine Verbindung eingehen will? Wir sind wegen der beiden hier. Weil sie ineinander verliebt sein sollten.«

Sie gehen einen leeren Gang entlang und Nino bleibt stehen, um kurz zu Atem zu kommen. Er fährt sich mit den Händen durch das wellige, kupferfarbene Haar. Haruka lehnt sich neben ihn mit dem Rücken an die Wand. »Ich habe doch schon erwähnt, dass Verbindungen nicht immer etwas mit Liebe zu tun haben. Ein Vampir kann vielseitige Absichten und Hintergedanken haben, wenn er vorhat eine Verbindung einzugehen.«

»Das ist widerlich«, sagt Nino.

»Du bist ein Romantiker …«

»Und du nicht? Glaubst du nicht an Verbindungen aus Liebe, Haru? Weil man sich einfach von einem anderen Vampir angezogen fühlt?«

Nino sieht Haruka erwartungsvoll an, was diesen innehalten lässt. Er wendet den Blick ab. »Ich … bin nicht sicher.«

»Läuft das immer so bei dir?«, fragt Nino. »Vampire, die sich die Reißzähne nach dir lecken, dich gruselig ansehen und lüsterne Andeutungen auf verschiedenen Sprachen machen?«

Haruka lacht schnaubend. »Ja. Aber heute war es besonders unangenehm … Du kannst dir nicht vorstellen, wie unerträglich es wäre, wenn ich auch noch meine Aura freilassen würde …«

»Aber ist das nicht ihr Problem?«, fragt Nino mit lauter Stimme, die in dem kühlen Gang widerhallt. »Nicht deins. Du solltest dich nicht verbiegen müssen, um ein halbwegs normales Leben führen zu können. Alle anderen sollten sich verdammt noch mal unter Kontrolle haben.«

Nino schweigt. Er drückt den Rücken Haruka gegenüber an die Wand, sodass sie einander in dem schmalen Raum ansehen. Er lässt den Kopf hängen. »Ich entschuldige mich für meine Ausdrucksweise.«

»Du darfst in meiner Gegenwart ruhig fluchen.«

»Aber ich will es nicht.« Nino schließt die Augen. Jetzt lehnt er auch den Kopf an die Wand. »Alles an dir bringt mich dazu, besser sein zu wollen. Nur in deiner Nähe zu sein … Ich weiß , dass ich besser sein kann.«

Stille breitet sich aus, abgesehen von den entfernten Geräuschen der Vampire, die sich für die Lesung zurück in den Ballsaal begeben. Für einen kurzen Moment verspürt Haruka das Bedürfnis auf Nino zuzugehen. Er weiß nicht, was er dann tun würde, aber etwas tief in seinem Inneren drängt ihn dazu – dieser warme, bernstein- und honigfarbene Vampir zieht ihn magisch an.

Aber er unterdrückt es, stemmt sich von der Wand ab und dreht um. Sie müssen sich zum Ballsaal begeben. »Bitte versuch nicht so sehr dich zu ändern«, sagt Haruka. Als er spricht, hebt Nino den Kopf und öffnet die lebhaften Augen. »Ich finde, du bist wunderbar. So wie du bist.«

Ein warmes Lächeln breitet sich auf Ninos attraktivem Gesicht aus, wie die Sonne, die an einem wolkenverhangenen Horizont auftaucht. Das verursacht ein Kribbeln in Harukas Bauch, also wendet er den Blick nach vorn.

»Komm«, sagt er. »Du musst mir zuhören, wie ich dieses ermüdende Dokument vorlese.«

Kichernd drückt Nino sich von der Wand ab und schließt sich Haruka an. »Ich wollte dich noch fragen … Elsie und Oliver haben beide irgendwas vom dritten Mal gesagt. Was haben sie damit gemeint?«

»Erinnerst du dich noch daran, dass im Handbuch fast alle Verbindungen nach mindestens drei Versuchen aktiviert worden sind, wenn alle anderen Faktoren stimmen? Heute ist also das dritte Mal, dass Oliver und Gael eine Form von Geschlechtsverkehr ausüben, bei dem sie ihr Blut miteinander tauschen.«

»Oh«, sagt Nino. Er verzieht das Gesicht, als hätte er etwas widerlich Saures verschluckt. »Ich weiß nicht warum, aber irgendwie bin ich davon ausgegangen, dass sie noch unberührt sind und wir bei ihrem ersten Mal zusehen.«

»Und jetzt bist du enttäuscht?« Haruka grinst und hebt eine Augenbraue. »Wolltest du von Anfang an dabei zusehen? Vielleicht haben sie sich dabei gefilmt …« Haruka stockt der Atem, als Nino ihn spielerisch mit der Schulter anstupst.

Sein Freund lächelt. »Hältst du dich für lustig?«