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Haruka steht von dem alten verwitterten Schreibtisch auf und macht die Öllampe aus. Die Flamme erlischt leise und taucht das Schlafzimmer in Schatten und sanftes Mondlicht.

Er gähnt. Der dritte Verbindungsversuch ist fehlgeschlagen. Keine dramatischen Lichtblitze. Kein Gefühl von innerer Schwere. Keine geteilten Gefühle oder Wahrnehmungen. Keine Verbindung. Er hat das Zertifikat diesbezüglich auf den neuesten Stand gebracht und währenddessen die ganze Zeit versucht, einen triftigen Grund zu finden, warum er morgen verschwinden muss.

Haruka möchte nach Hause zurückkehren. Dringend. Er braucht eine Pause von den oberflächlichen Schmeicheleien, den blumigen Anreden und unverhohlenen Blicken. Plötzlich fühlt sich England um einiges schlimmer an als jeder andere Ort, an dem er gewesen ist. Dublin und Quebec sind angenehm gewesen. Genau wie Santorini, wenn man von Harukas schlechtem Urteilungsvermögen in Bezug auf einen gewissen Mann absieht. Er hatte die Aristokratie in Paris als am aufgeblasensten und herausforderndsten erachtet, aber England zeigt ihm allmählich, wie falsch er da gelegen hat.

Vielleicht beeinflusst der Mangel an einheimischen Reinblütern ihre Natur fundamental? Britische Vampire reinen Blutes waren zum Ende des 19. Jahrhunderts ausgestorben – sie waren aufgrund von Bürgerkriegen, Clan-Streitigkeiten und dem großen Verschwinden einfach vom Erdboden verschwunden. Die Überempfindlichkeit der britischen Aristokratie auf Harukas Blutlinie ist ermüdend.

Vielleicht sollte er einfach in sein eigenes Reich zurückkehren. Es ist nun viele, viele Jahre her und die emotionalen Wunden, die ihm zugefügt worden sind, sind größtenteils vernarbt. Ist es an der Zeit?

Gerade als er ein Knie auf der Matratze platziert, hört er ein lautes Klopfen an der Zimmertür. Es ist schon spät und da er Elsies Annäherungsversuche früher am Abend höflich umgangen hat, erwartet er niemanden mehr. Er konzentriert sich und dehnt die Sinne bis auf die andere Seite der Tür aus. Dann atmet er ein, um den Geruch zu identifizieren. Feuchte Erde und Teebaum. Gael.

Harukas ganzer Körper spannt sich an, seine Instinkte schicken ihm leuchtend rote Warnsignale. Die Verbindungszeremonie ist ein Desaster gewesen – förmlich eine Farce. Gael hat sich nicht im Geringsten auf seinen Zukünftigen konzentriert, aber Oliver scheint das nicht aufgefallen zu sein. Es ist ein klassischer Fall von ›Man sieht nur, was man sehen will‹, obwohl die Zeichen sich überaus offensichtlich vor ihm auftun.

Lautlos bewegt Haruka sich auf die Tür zu. Nachdem er eingetreten ist, hat er den kleinen Riegel an der Tür vorgeschoben, aber das Holz des Rahmens ist veraltet und schief. Es gibt absolut keinen Grund für Gael, um diese Uhrzeit noch hier aufzutauchen. Alles, was er benötigen könnte, kann auch bis morgen warten.

Haruka steht nahe an der Tür, aber schreckt hoch, als Gael erneut laut klopft – zwei kurze, schroffe Schläge mit seinen breiten Knöcheln. Schweigend steht Haruka da und wartet ab. Er atmet kaum. Stille. Einen langen Augenblick stehen sie beide nur so da, Haruka spürt die einnehmende Präsenz des Vampirs auf der anderen Seite der Tür.

Dann verlässt ihn die Geduld und er dreht sich um.

»Asao …«

Ein lautes Krachen ertönt und Haruka weiß nicht, was ihn zuerst trifft – das zersplitterte Holz der Tür oder Gaels massive Gestalt. Noch bevor er überhaupt blinzeln kann, kommt er hart auf dem Steinboden auf. Ein unerträgliches Gewicht lastet schwer auf seinem Rücken und schränkt seine Bewegungsfreiheit ein. Kräftige Finger greifen ihn und legen sich fest um seinen Nacken.

Haruka kneift die Augen zusammen und versucht sich hochzudrücken, aber Gael ist zu schwer, seine imposante Statur zu dominant auf Harukas schmalerer. Gaels Griff an Harukas Nacken wird noch fester, sein Ohr wird schmerzhaft auf den Steinboden gepresst, beides führt dazu, dass brennender Schmerz ihm fast den Atem raubt.

»Meu lindo, me mostre o livro«, flüstert Gael, seine tiefe Stimme klingt dabei bedrohlich, aber auch neckend. Verlockend. Sein Atem ist feucht und heiß an Harukas Ohr. Er windet sich, als Gael seine raue, nasse Zunge an der Seite seines Gesichts entlangfahren lässt – wie ein Tier, das von seiner Beute kostet. Seinen Anspruch geltend macht.

Mein Hübscher, zeig mir das Buch.

Harukas Augen verändern sich, brennen hell in der Dunkelheit, während er sich konzentriert. Innerlich löst er den Knoten seiner Aura, zwingt sie sich zu entfalten und lebendig zu werden.

Seine Kraft auf diese Weise rauszulassen – in einem Schloss voller hungriger, schamloser Vampire – ist nicht sehr weise. Sollte der Duft seiner einzigartigen Natur die anderen anziehen, hat Haruka in seinem momentanen Zustand keine Möglichkeit, sich gegen alle zu wehren. Er hat seit Jahren nicht mehr von einem anderen Reinblüter getrunken, und vor sechs Tagen seinen letzten Beutel von Elsie aufgebraucht.

Aber was bleibt ihm anderes übrig?

Haruka konzentriert und manipuliert die Energie in seinem Inneren, erlaubt ihr aus seinem Körper auszuströmen und sich fest um Gaels zu legen. Die Unterwerfung lässt den gewaltigen Vampir über ihm verharren, aber er vergräbt die Fingernägel in Harukas Hals. Dieser wimmert, als Gaels kratzende Nägel heißen Schmerz durch sein Fleisch jagen. Haruka verstärkt seine Kraft, hält Gael rigoros fest und drückt den Körper hoch, damit er sich unter dessen Gewicht rausmanövrieren kann.

Schnell krabbelt er unter der erstarrten, schwebenden Gestalt des großen Vampirs hervor und bewegt sich auf die Wand zu. Gael ist körperlich stark – seine solide Gestalt erscheint Haruka massiv. Das hier ist nicht wie der Vorfall mit Amelia, bei dem er kurzfristig von seiner Kraft Gebrauch gemacht hat. Es war wie das Halten und Zähmen eines Rehkitzes. Das hier … Das hier war wie das Bändigen eines wütenden Bullen.

Gaels Blick ist wild. Haruka kann ihn nicht vollständig unterwerfen und seine Kehle fühlt sich jetzt schon wund an, seine Brust schmerzt von den schweren Atemzügen. Er ist zu schwach. Er legt die Hände an seinen Nacken und spürt Blut herunterlaufen. Die Heilkraft seines Körpers versagt. Was zur Hölle soll ich jetzt nur machen?

Und wo ist Asao? Haruka hat schon vor mindestens einer Minute seine Aura freigesetzt, er muss irgendetwas unternehmen, bevor …

Seine glühenden Augen weiten sich. Er drängt sich fester gegen die Wand, als Gael seine Finger nacheinander bewegt und sich langsam aus der Starre befreit. Haruka verengt die Augen und versucht die Aura noch stärker um Gael zu wickeln. Aber bald darauf zieht Gael den Kopf zurück und dreht ihn auf unheimliche Art zu Haruka.

»Asao! «, ruft dieser aus, diesmal lauter.

Ein Geräusch kommt von der Tür her. Haruka sieht auf in der Hoffnung, dass es sein Bediensteter ist. Aber es ist Nino, der dort mit einem Ausdruck unverhohlener Erschütterung im Gesicht steht. Dann atmet er Harukas Essenz und Duft ein und sein Gesichtsausdruck ändert sich zu etwas Unbeschreiblichem. Seine Augen erglühen in einem satten goldenen Licht – wie brennender Honig. Zunehmende Panik breitet sich in Haruka aus. Er kann Gael kaum bändigen, auf gar keinen Fall ist es ihm möglich, einen Reinblüter zu zähmen.

Wie ein ominöser Lichtblitz am verdunkelten Himmel durchbricht plötzlich ein Gedanke den dichten Nebel in Harukas entsetztem Verstand.

Ich werde hier sterben.