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Nino kann seinen Augen kaum trauen, als er in der Tür steht. Es ist wie eine Szene aus einem dramatischen Actionfilm.

Gael ist erstarrt und schwebt mindestens dreißig Zentimeter über dem Boden. Sein Körper ist umgeben von hellem außergewöhnlich roten Nebel, der die Ursache für seinen schwebenden, bewegungslosen Zustand zu sein scheint. Nino sieht Haruka an. Er sitzt mit dem Rücken an die Wand gekauert, seine Augen glühen blutrot in dem spärlich beleuchteten Raum.

Haruka trägt einen Ausdruck absoluten Entsetzens. Nino tritt einen Schritt vor und plötzlich trifft ihn etwas. Nicht körperlich, sondern emotional. Ein starker Duft rührt etwas fundamental und ganz tief in seinem Inneren. Es ist Haruka. Dieser rosige, kühle und erdige Duft, den sein Körper immer sanft ausströmt, ist jetzt in seiner vollen Kraft freigesetzt. Er ist wahrlich göttlich, wie er in Ninos Nase weht und sich einen Weg die Kehle hinunter in seine Adern bahnt, um ihn zu erregen und seinen ganzen Körper zu erwärmen.

Plötzlich fällt Gael schwer zu Boden, befreit aus seiner magischen Schwebe. Sein Gesicht ist zornverzerrt. Nino zögert nur eine Sekunde – die Gefahr des Moments und seine tief sitzende Angst durchzucken seine Gedanken. Aber er schüttelt energisch den Kopf. Er atmet tief ein.

Hektisch sieht er sich um. Als er in der Nähe eine große antik aussehende Keramikvase auf einer Säule bemerkt, fällt er schnell eine Entscheidung. Gerade als Gael sich hinkniet, schnappt sich Nino die Vase, stürmt auf ihn zu und zieht sie dem großen Vampir über den Schädel. Er schlägt hart zu. Mit aller Kraft. Gael sackt wieder auf dem Boden zusammen und Nino wartet darauf, dass er sich erhebt. Aber das tut er nicht.

Nino stellt sich aufrecht hin und blinzelt. Er ist ehrlich überrascht, dass es funktioniert hat. In Actionfilmen hat er so was schon häufig gesehen, aber er ist sich nicht sicher gewesen, wie effektiv es tatsächlich sein würde. Er sieht auf und macht einen Schritt vorwärts, aber als Haruka eine Hand hochhält, bleibt Nino stehen.

»Komm nicht … Komm nicht näher .« Harukas tiefe Stimme klingt abgehackt, aber trotzdem hart in der starren Stille.

Sie stehen beide bewegungslos da und beobachten den anderen mit glühenden Augen. Ninos Magen verkrampft sich und er keucht auf. Haruka blutet am Nacken. Wie automatisch geht Nino noch einen Schritt vorwärts. »Mein Gott, du bist …«

»Ich sagte, bleib stehen .« Haruka erhebt die Stimme. Verzweifelt drückt er sich an die Wand, in dem Versuch mehr Abstand zwischen sie zu bringen. Er ist kreidebleich und völlig fertig, seine Schlafkleidung unordentlich und blutverschmiert.

Vollkommen bewegungslos steht Nino da, aber hebt langsam die Hand. Mit leiser Stimme sagt er: »Haru … Ich werde dir nicht wehtun.«

»Und warum glühen deine Augen dann?«

Nino runzelt nachdenklich die Stirn. »Weil es hier drinnen angenehm riecht?«

Er hört ein Geräusch hinter sich und dreht sich um. Asao betritt das Zimmer und bleibt abrupt neben Nino stehen, während er das Bild in sich aufnimmt. Er atmet schwer aus. »Oh verdammt.«

»Warum hast du so lange gebraucht?« Haruka schäumt vor Wut, seine Stimme klingt bitter und er sieht seinen Bediensteten mit gerunzelter Stirn an. Asao geht an Nino vorbei und beugt sich vor, um Gaels Puls zu fühlen.

»Wie oft habt Ihr mich gerufen?«, fragt Asao geistesabwesend und steht wieder auf.

»Zweimal

»Ich habe Euch beim ersten Mal nicht gehört, Haruka. Es tut mir leid, aber manchmal schlafe ich tatsächlich auch. Seid Ihr in Ordnung? Was soll ich tun?«

»Ich … ich bin in Ordnung. Bitte weck Emory«, sagt Haruka, als er den Kopf an die Wand lehnt und die Augen schließt. Seine Brust hebt und senkt sich leise vor Anstrengung. »Sag ihm, dass Gael mich angegriffen hat. Und bitte Elsie darum, so schnell wie möglich herzukommen, um sich mir zur Verfügung zu stellen.«

Nino wird die Kehle eng. Verwundert tauschen er und Asao einen vielsagenden Blick aus. Dann sieht Asao wieder Haruka an und fragt mit ernster Stimme: »Seid Ihr Euch sicher?«

»Bitte tu, was ich dir aufgetragen habe.«

Asao atmet hörbar aus, bevor er wieder Nino fokussiert, während er sich auf den Weg aus dem Raum macht. »Kann ich Euch mit ihm allein lassen? Seid Ihr bei klarem Verstand?«

»Mir geht’s gut«, verspricht Nino. »Es riecht einfach nur angenehm … hier drinnen.«

Asao klopft ihm fest auf die Schulter, bevor er das Zimmer verlässt. Nino atmet tief durch. Der wunderbare Geruch in seiner Nase verfliegt langsam, so als würde Haruka die Energie in sich zurückziehen. Nino fokussiert seine Gedanken und rollt die Schultern. Es dauert einen Moment, in dem er auf und ab springt und sich schüttelt, aber dann lässt das Glühen seiner Augen nach.

Anschließend sieht er auf Haruka hinunter. Dieser schaut zu ihm hoch, als hätte er den Verstand verloren. »Keine glühenden Augen mehr.« Nino lächelt und hält unterwürfig die Handflächen hoch. »Darf ich mich zu dir setzen?«

Haruka drückt sich die langen Finger an die Stirn und schließt die Augen. »Ja.«

Nino steigt über Gaels massigen, bewegungslosen Körper, bevor er sich direkt vor Haruka auf die Knie sinken lässt. »Anstrengende Nacht?«

»Gelinde gesagt«, murrt Haruka, während er sich mit geschlossenen Augen weiterhin die Stirn massiert.

»Du hast richtige Kräfte.« Nino starrt ihn an, immer noch von Ehrfurcht ergriffen darüber, was er seinen Freund gerade hat tun sehen. »Ich habe schon von Vampiren gehört, die übernatürliche Kräfte haben, aber ich habe noch nie gesehen, wie jemand seine Aura körperlich beeinflusst hat. Das ist unglaublich.«

Mit geschlossenen Augen verzieht Haruka den Mund zu einem bitteren Grinsen. »Sei nicht so beeindruckt von meinem schier verzweifelten Wunsch, am Leben zu bleiben. Ich bin eine Schande für meine Blutlinie.«

Altes Blut . Nino unterdrückt den Drang, wegen dieser dramatischen Aussage mit den Augen zu rollen. Aber er fasst einen Entschluss. »Trink nicht von Elsie. Du willst das gar nicht und du kannst ihr auch nicht vertrauen.«

Haruka öffnet die Augen. Sie sehen nicht wie sonst tiefbraun aus, sondern milchig und ausgewaschen. Er wirkt so erschöpft, blass und elend, dass es Nino das Herz bricht.

»Anders überlebe ich das nicht«, sagt Haruka ausatmend, seine Stimme brüchig. »Ich habe keine Wahl.«

»Würdest du … dich wohl dabei fühlen, von mir zu trinken?«, fragt Nino.

Ohne zu blinzeln starrt Haruka ihn einen langen Augenblick mit seinen durchscheinenden Augen an, bevor er antwortet. »Was willst du als Gegenleistung?«

Nino schüttelt den Kopf. »Nichts. Ich will gar nichts von dir. Na ja, vielleicht will ich einfach, dass du gesund aussiehst und nicht so elend vor mir sitzen musst.«

Harukas Blick ist abschätzend. Ungläubig. Als würde er die Antwort finden, wenn er nur stark genug danach sucht. »Und du wünschst wirklich nichts als Entschädigung?«

»Nichts«, wiederholt Nino.

Haruka wendet nachdenklich den Blick ab. Es fühlt sich an, als würden einige Sekunden vergehen, bevor er Nino wieder in die Augen sieht. »Darf ich deine Hand haben?«

»Meine Hand?« Nino legt den Kopf schief.

»Ja … bitte«, sagt Haruka, sein ausgemergelter Ausdruck wird endlich weicher. Jetzt hält Nino sie ihm offen hin und Haruka legt die Finger sanft um sein Handgelenk. Seine Fingerspitzen fühlen sich kühl an, als er Ninos Hand an seinen Mund führt. Die unschuldige Berührung lässt Ninos Arm warm kribbeln.

Haruka zögert kurz. Er hält den Blick auf Nino gerichtet, während er sanft über dessen Handballen nahe dem Daumen leckt, bevor er hineinbeißt. Nino spürt, wie Harukas Reißzähne länger werden und seine Haut durchbrechen. Langsam fangen Harukas Augen zu glühen an, bis sie in einem leuchtenden Blutrot brennen, während er trinkt.

Er trinkt nicht lange. Und er nimmt auch keine besonders tiefen Züge. Als er fertig ist, hebt er den Kopf und leckt sauber über die schnell heilenden Einstichstellen, bevor er sich aufsetzt. Bedacht atmet er ein und dann aus. Nino kann die subtile Veränderung der Haruka innewohnenden Energie körperlich spüren, als würde etwas Verborgenes allmählich anschwellen. Kühl und mächtig.

Als Haruka ihn ansieht, ist in seinen Augen deutliche Besorgnis zu lesen. »Vielen Dank«, sagt er. Das Glühen seiner Augen lässt langsam nach.

»Gern geschehen. Wie fühlst du dich? Weniger elend?«

Nur still – kaum wahrnehmbar – lacht Haruka schnaubend auf. »Ja … viel weniger.«

Spät am nächsten Morgen läuft Nino mit seinem Smartphone aufgeregt durchs Zimmer und sucht verzweifelt nach Empfang. Das spektakuläre alte Steinschloss im tiefsten Hinterland ist nicht gerade nachsichtig mit dem Telefonempfang.

Als er endlich ein vielversprechendes Plätzchen neben einer lebensgroßen mittelalterlichen Ritterrüstung findet, drückt er schnell auf die Kurzwahl seiner besten Freundin. Nachdem es dreimal geklingelt hat, hebt sie ab.

»Ciao ciao«, sagt sie mit ihrem warmen Tonfall, was Nino lächeln lässt.

»Sie ist rangegangen«, neckt er. »Ein Wunder.«

»Du rufst sonst immer an, wenn ich bei der Arbeit im Museum bin. Sei nicht so kindisch. Wie ist Sussex? Ich habe gehört, zu dieser Jahreszeit soll’s da ziemlich beschissen sein?«

»Englisches Wetter.« Nino zuckt die Schultern und lehnt sich entspannt an den verblichenen rot-goldenen Wandteppich. »Es ist okay. Die Zeremonie war genau so unangenehm, wie ich erwartet habe.«

»Ach was. Igitt. Obwohl … Ich schätze, es könnte auch heiß sein? Kommt auf das Paar an.«

»Das war es nicht. Und einer der Bräutigame hat Haruka mitten in der Nacht angegriffen.«

Nino macht eine Pause, um Cellina Zeit für eine Reaktion zu geben, die sie auch prompt liefert. Mit ihrer sonst so sinnlichen Stimme stößt sie einen schrillen Schrei aus.

»Was? Wie meinst du das?«

»Es ist einfach verrückt gewesen, Lina. Du weißt, dass ich es in der Bar gelegentlich mit Spinnern zu tun habe, aber was Haruka durchmachen muss, ist auf einem ganz anderen Niveau.«

»Kein Wunder, dass er sich immer in seinem Haus versteckt«, sagt Cellina. »Der Arme.«

Nino reibt sich den Nacken, ein kleines Lächeln formt sich auf seinen Lippen. »Ich … habe mich ihm angeboten. Gestern Nacht.« Er macht erneut eine Pause, aber anstelle der erwarteten Reaktion kommt nur Stille von der anderen Seite der Leitung. »Lina?«

»Nino, ist das dein Ernst?«

Sie kann ihn zwar nicht sehen, aber er nickt trotzdem. Die Ernsthaftigkeit in ihrer Stimme dient ihm als Spiegel für die Realität und die Schwere seiner gewagten Entscheidung. »Ja«, antwortet er. »Ist es. Seine Blutlinie ist so verdammt alt … Mit Blut der Ersten Generation kann er im Gegensatz zu anderen Reinblütern nicht richtig funktionieren.«

»Das ist unglaublich«, sagt sie aufrichtig. »Meine Güte … Ich bin nur so überrascht. Ich meine, du hast zwar vor ein paar Tagen schon so wahnsinnig von ihm geschwärmt …«

»Ich habe nicht geschwärmt

»Okay«, sagt sie, wobei sie sehr amüsiert klingt. »Aber du fühlst dich offensichtlich wohl mit ihm und hältst auch viel von ihm. Hat er angenommen? Bist du jetzt seine Quelle?«

Nino lehnt den Kopf an die Wand hinter sich. »Über die Details haben wir noch nicht gesprochen. Als er gestern von mir getrunken hat, ist er in ziemlich schlechtem Zustand gewesen. Deshalb habe ich ihm anschließend Ruhe gönnen wollen. Hoffentlich können wir heute darüber sprechen … Ich will nicht, dass es unangenehm zwischen uns wird.«

»Willst du seine Quelle sein?«, fragt Cellina.

Nino hält kurz inne und nimmt die Frage auf. »Ja, will ich. Er braucht auf jeden Fall eine hochrangigere Quelle, als er sie bis jetzt gehabt hat. Ich habe dir doch erzählt, dass seine Haut eine seltsame Farbe hat?«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Mir ist jetzt klar geworden, dass er vermutlich die ganze Zeit über unterernährt ist. Dank Vater weiß ich, wie stark unterernährte Vampire aussehen. Aber so einen leichten Fall habe ich noch nie gesehen. Dank Haruka habe ich in den letzten Tagen eine Menge gelernt. Wenn ich es kann, will ich ihm auch helfen.«

»Du bist so süß, Nino. Du hast noch nie einem anderen hochrangigen Vampir so vertraut. Du hast ihn wirklich gern, hm?«

»Na ja …« Nino massiert sich den Kopf, die Hitze der Verlegenheit wärmt seine Wangen. »Ich habe dir immer vertraut – und er ist ein Freund. Natürlich mag ich ihn.«

»Klar«, sagt Cellina. »Er hat also von dir getrunken, aber wie hast du dich dabei gefühlt? Konntest du dich entspannen? Hat er dir angenehme Gefühle geschickt?«

»Ich habe gar nichts dabei gefühlt, weil er an meinem Handgelenk getrunken hat.«

»Deinem Handgelenk ?«, sagt Cellina, selbst ihr Stirnrunzeln ist dabei deutlich hörbar. »War das deine Idee? Nino, du weißt, das ist nicht, wie so was normalerweise vonstatten …«

»Ich weiß , und ich habe es nicht vorgeschlagen. Er hat es so angeleiert.« Nino atmet schwer aus. So trinkt er selbst auch von Cellina. Am Handgelenk. Sie ist eher wie eine große Schwester für ihn, daher ist es nie infrage gekommen, dass er an ihrem Hals trinkt – eine gemeinschaftliche Entscheidung.

Aber bei Haruka … Nino ist besorgt, dass er dazu bestimmt ist, für immer nur über das Handgelenk Blut auszutauschen. Wie eine vierzigjährige Jungfrau oder ein erwachsener Mann, der noch immer mit Stützrädern Fahrrad fährt.

Nino fährt mit seiner Kopfmassage fort und versucht das bemitleidenswerte Bild aus dem Kopf zu bekommen. »Es ist einfach ein seltsamer Moment gewesen. Und Haru versucht immer so höflich zu sein.«

»Interessant. Ach, übrigens fahre ich im Februar für zwei Wochen nach Hause, weil ich Vorstellungsgespräche habe. Wenn du also bis dahin keine andere Quelle hast, solltest du schon mal dein Flugticket kaufen.«

»Schickst du mir die Daten?« Er liebt diese Frau einfach. Sie ist wie Familie. Er wünscht sich plötzlich, dass sie sich zusammen in seinem Zimmer verkriechen und Junk Food essen könnten, während sie einen Serienmarathon mit einer menschlichen Sci-Fi-Serie veranstalten, wie sie es in den 1990ern häufig gemacht haben.

Ein leises Klopfen ertönt an seiner Zimmertür und Nino hebt den Kopf. »Herein.«

Die Tür wird langsam geöffnet. Haruka steckt den Kopf herein. Als er Nino entdeckt, lächelt er süß.

Nino stockt der Atem. Haruka … strahlt förmlich. Seine Haut sieht im Kontrast zu seinem sehr dunklen Haar aus wie glatte, satin-ähnliche Mandelmilch. Sogar seine Augenfarbe ist jetzt kräftiger – reich und glänzend wie ein erlesener Rotwein. Und sein Duft …

Cellina ruft am Telefon Ninos Namen und ihm fällt auf, dass ihm der Mund offen stehen geblieben ist. »Lina, kann ich später noch mal anrufen? Haru ist gerade reingekommen.«

»Klar. Ruf mich später an. Geh und hab Spaß mit deinem neuen Freund, den du so gern hast.«