19

Draußen schneit es stark am folgenden Sonntag. Gleichmäßig fällt der Schnee in dicken, nassen Wattebäuschen vom Himmel, sodass man das Moor durch das Fenster in der Bibliothek kaum noch sieht.

Haruka dreht sich auf seinem Platz nach vorne, wobei sein Blick ganz selbstverständlich auf Nino landet. Die Wettervorhersage hat für heute schwere Winterstürme angekündigt, daher hat er sich gefragt, ob sein Freund sich überhaupt die Mühe machen würde, herzukommen. Aber er ist wie immer pünktlich um zehn Uhr früh angekommen.

»Versteh das jetzt nicht … falsch«, sagt Nino, sein Bernstein-Blick ist immer noch auf den Laptop fokussiert, während er tippend auf dem Boden sitzt.

»Hm?«, erwidert Haruka.

»Manchmal erinnerst du mich an einen Panther.« Nino sieht grinsend hoch, um Harukas Blick zu begegnen.

Haruka lacht schnaubend. »Bitte?«

»Du beobachtest mich mit deinen tiefroten Augen und dabei muss ich an einen Panther denken, der sich darauf vorbereitet, seine Beute anzugreifen.«

Erneut lacht Haruka, aber diesmal vor Verlegenheit. Er vergräbt die Finger im Haar und senkt den Kopf. »Ich versichere dir, ich bereite mich nicht auf so etwas vor.«

»Ich weiß.« Nino lacht. »Manchmal fühlt es sich nur so an.«

Gott . Kopfschüttelnd nimmt Haruka seinen Stift in die Hand. Ihm ist gar nicht aufgefallen, dass er Nino so oft beobachtet. Er sollte mehr darauf achten, wie er selbst sich verhält.

»Hast du schon dein Flugticket für nächsten Monat gekauft?«, frag Nino. Haruka hält den Blick auf sein Journal gesenkt.

»Habe ich.«

»Gut. Ich freue mich schon darauf, dich mit zu mir nach Hause zu nehmen. Ich denke, wir werden eine gute vorläufige Grundlage für unsere Forschung sammeln können.«

»Wo wir gerade dabei sind …« Haruka sieht Nino wieder an und blendet die Scham von eben einfach aus. »Denkst du, fünf Fragen sind genug? Sollten wir nicht tiefer gehen?«

»Ich denke, es ist besser, wenn wir simpel anfangen und es falls nötig weiter ausbauen. Also, wie hast du diese Vampire aufgehalten?«

»Der Übergang kommt plötzlich.«

Nino lacht. »Weil ich es wissen will. Ich bin seit einer Stunde hier und du hast es noch nicht mal erwähnt. Ich habe gewartet!«

»Ich habe sie mit meiner Aura manipuliert und festgehalten«, sagt Haruka. Er lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. »Es gibt keinen dramatischen Hintergrund zu der Geschichte.« Wenn man vom Ende absieht. Haruka hat Asao gefragt, ob er in der Nacht etwas Seltsames gespürt hat – die Präsenz eines anderen Reinblüters, irgendetwas Unbekanntes. Aber in dem ganzen Chaos ist dem Bediensteten nichts aufgefallen.

Aber Haruka weiß, dass er sich das nicht eingebildet hat. Der schwere Duft von Salbei lungert immer noch in seinen Gedanken wie ein ominöser Nebel. Abgesehen von seinem Bericht Asao gegenüber hat er beschlossen, nicht mehr über diesen seltsamen Vorfall zu sprechen. Er hat Emory erzählt, dass Gael entkommen sei. Dabei hat er absichtlich die genauen Details für sich behalten.

»Deine Fähigkeit deine Aura nach außen zu schieben und sie so zu manipulieren, dass du andere hochrangige Vampire damit festhalten kannst, klingt für mich mehr als dramatisch«, sagt Nino kopfschüttelnd. »Du wickelst also einfach deine Energie um sie und … drückst zu?«

»Was?« Haruka runzelt die Stirn. »Nein . Ich bin zwar in der Lage meine Energie um sie zu wickeln, aber ich kann sie nur dank meiner Kenntnisse über anthropoide Anatomie unterwerfen. Je mehr ich über den Körper eines Lebewesens und dessen biologischen Aufbau erfahre, desto spezifischer kann ich es manipulieren.«

Nino sitzt mit übereinandergeschlagenen Beinen da und verschränkt nachdenklich die Arme. »Du könntest also jemanden bewegungslos machen und ihm dann den kleinen Zeh brechen?«

»Ja … Obwohl ich nicht weiß, warum ich das tun sollte.«

»Einen Milzriss verursachen?«, fragt Nino.

»Ja. Aber das ist auch seltsam spezifisch.«

Nino setzt sich aufrecht hin, in seinem Blick liegt etwas Verspieltes. »Kannst du es mir zeigen?«

»Ich benutze es primär zur Verteidigung.«

»Das heißt … du kannst es nicht ohne Gewalt? Du würdest mir dabei wehtun?«

»Nein, ich würde niemals  …« Haruka seufzt, bevor er die Schultern rollt. Er löst den Knoten der Aura in seiner Mitte. Seine Augen beginnen sofort hell zu leuchten. Er schiebt seine Energie sanft nach außen und wickelt sie vorsichtig um Nino, der auf dem Boden sitzt. Dieser keucht überrascht, als sein Körper in die Höhe schwebt. Haruka hat nur vom Hals abwärts die Kontrolle über ihn, sodass Ninos Augen vor Staunen geweitet sind, während er aufsteigt.

»Heilige Scheiße …« Lächelnd blinzelt er. Haruka steht auf und geht um den Tisch herum, sodass er genau vor Nino zum Stillstand kommt. Er hebt die Hand und wendet sie, als würde er einen Türknauf drehen, wodurch Nino mit einem Ruck kopfüber hängt. Die Wärme seines Lachens erfüllt die gesamte Bibliothek.

»Das ist so krass .« Er strahlt regelrecht, sieht sich mit seinen bernsteinfarbenen Augen aus der neuen Perspektive im Zimmer um. Haruka lächelt. Die unschuldige Freude seines Freundes ist ansteckend.

»Warum kann ich deine Aura jetzt nicht riechen?« Nino verzieht verwirrt das attraktive Gesicht. »Sie umgibt mich, aber dein Duft fehlt … Es ist anders als vorher, als du gegen Gael gekämpft hast.«

Haruka nickt und schätzt es sehr, wie Nino den beschämenden Vorfall beschrieben hat. »Du hast selbstverständlich die gleiche Energiequelle in dir«, erklärt er. »Aber stell dir vor, du hättest zwei verschiedene Filter. Ein Filter repräsentiert den natürlichen Reiz deiner ruhenden Aura. Der andere ist wesentlich fokussierter. Gereinigt und gestrafft. Jetzt da ich ideal mit Nährstoffen versorgt bin, kann ich beide unabhängig voneinander kontrollieren. Bei meinem ersten Zusammentreffen mit Gael konnte ich das nicht, daher sind fälschlicherweise beide Kräfte ausgedrungen.«

Langsam dreht er Nino wieder, sodass er aufrecht schwebt, streckt seine Beine aus und stellt ihn auf dem Boden ab. Als Haruka den Griff löst und seine Aura zurückzieht, dehnt Nino die Arme und grinst immer noch vergnügt. »Unglaublich«, sagt er.

»Ich bezweifle, dass die anderen Vampire so begeistert davon waren wie du.«

»Ja. Ich kann mich wohl glücklich schätzen, dass du mich tatsächlich magst.« Nino versteift sich und sieht plötzlich entsetzt aus. »Ich … Damit meine ich nichts Spezielles. Ich meine nur, dass ich froh bin, auf deiner Seite zu sein.«

Verwirrt tritt Haruka näher an Nino heran. Er hebt die Hände und lässt sie sanft durch das Haar an dessen Hinterkopf streichen. »Sollte ich dich nicht mögen?«, fragt Haruka leise, während er die Finger um Ninos Kopf legt und ihn massiert.

Nino steht vollkommen still da und sein Blick ist suchend. »Doch … du kannst mich mögen.«

Eine Hand lässt Haruka wieder sinken und legt sie um Ninos Oberarm, bevor er sich geschmeidig nach vorne beugt und das Gesicht an Ninos Halsbeuge legt. Mit der Nasenspitze streicht er über die Haut, dann entlang des Kiefers, während er Ninos waldigen Zimtgeruch genießt, bevor er sich innig an ihm labt. Harukas Augen fangen zu glühen an, als er mit der Zunge über die warme salzige Haut fährt. Sanft beißt er zu, damit er Nino nicht erschreckt.

Sein Blut erscheint Haruka so reichhaltig und würzig, so überaus befriedigend wie nichts, was er zuvor erfahren hat. Er spürt, wie seine Berührung die anfängliche Anspannung in Ninos Körper schmelzen lässt. Und kurz darauf fühlt er das Gewicht von Ninos Händen an seiner Hüfte ruhen. Sie wandern weiter nach hinten an Harukas unteren Rücken, um ihn zärtlich zu ermutigen, seine Bedürfnisse zu befriedigen.

Er will stärkere Züge nehmen, tiefere Schlucke nehmen. Seine Essenz in seinem Inneren windet sich, drängt ihn, es zu tun. Aber er zieht den Kopf zurück und ignoriert diese Empfindung rigoros. Er leckt über Ninos Hals, um ihn zu säubern, dann sieht er ihm ins Gesicht. Nino hat die Augen geschlossen und sein Atmen geht stoßweise. Haruka legt die Hände an seine Wangen. »Warum scheinst du in letzter Zeit so angespannt, wenn ich auf diese Art von dir trinke? Ist das unangenehm für dich?«

»Nein «, sagt Nino atemlos. Er nimmt die Hände von Harukas Rücken und tritt ein paar Schritte nach hinten, um Harukas Berührung zu entkommen. Seine Stimme klingt gedämpft, während er sich mit den Händen über das Gesicht reibt. »Ich habe dir doch schon gesagt, dass du mir nicht wehtust. Mir geht’s gut, es ist nur …« Er schüttelt den Kopf und atmet tief ein.

»Nur was, Nino?«, fragt Haruka. »Bitte sag es mir.«

Als Nino die Augen öffnet, glühen sie in ihrem wunderschönen Goldton. In Ninos attraktives Gesicht zu schauen, wärmt Haruka das Herz. Er glaubt, dass er Nino nicht einfach nur ›mag‹. Er mag ihn sehr.

»Nichts«, sagt Nino. »Alles ist wunderbar, keine Sorge. Also, was ist genau mit Gael passiert? Wie ist er entkommen? Denkst du, er versucht noch mal das Buch zu stehlen?«

Haruka kratzt sich den Hinterkopf. Wie es scheint, wird er wohl doch darüber reden. »Er … ist nicht aus freien Stücken verschwunden. Es ist eher so, dass er sich während der Auseinandersetzung einfach aufgelöst hat.«

Nino runzelt die Stirn. »Was meinst du mit ›aufgelöst‹?«

»Ich habe ganz unerwartet das schwere Gewicht eines anderen Reinblüters gefühlt, als ich Gael gegenübergestanden habe. Und er hat sich direkt vor meinen Augen in Luft aufgelöst. Die Essenz des Reinblüters ist im selben Moment verschwunden.«

Nino bleibt der Mund offen stehen. »Heilige Scheiße …«

»Nino, bitte beruhige dich.«

»Ist ›aufgelöst‹ ein Euphemismus für ›verschwunden‹?«

»Ich gebe zu, es ist beunruhigend. Aber der Moment war nur von sehr kurzer Dauer. Seitdem ist nichts weiter passiert. Ich kann nicht erklären wie, wer oder warum, aber wir sind sicher. Der Reinblüter hat mich in keiner Weise bedroht.«

Nino schüttelt den Kopf, seine Augen geweitet. »Du erzählst mir gerade, dass Gael einfach verschwunden ist, Haru … und dass ein unbekannter Reinblüter aus dem Nichts aufgetaucht ist. Das ist eine große Sache.«

»Aber es scheint einen unmittelbaren Grund für Gaels Verschwinden zu geben. Das Ganze muss nicht zwangsweise mit dem kulturellen Phänomen von vor hundertfünfzig Jahren in Verbindung stehen. Können wir es erst mal für uns behalten? Ich möchte nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen, da es sowieso schon genug gesellschaftlichen Unmut gibt. Aber deiner Reaktion nach zu urteilen, wäre das unausweichlich.«

Nino atmet tief durch und entspannt die Schultern. »Entschuldige. Alles klar, ich verstehe.«