23

Was möchte ich wissen?

Alles. Nino möchte alles wissen, aber er ist nicht sicher, ob er alles verarbeiten kann, denn es gibt jetzt schon zu viele Dinge, die er verdauen muss. Die Gedanken schwirren durch seinen Kopf wie glänzende metallisch schimmernde Libellen.

Haruka ist verbunden gewesen.

Wie lange ist das her? Warum? Was ist passiert?

Verbindungen können gebrochen werden?

Haruka sitzt in seinem Schlafzimmer … Und er riecht gut.

Haruka ist verbunden gewesen.

Nino setzt sich aufrechter hin und reibt sich mit den Händen die Oberschenkel. Er sieht auf. Haruka hat in einem Sessel neben dem Fenster Platz genommen. Die Lichtverhältnisse dort verleihen seiner Mandelmilchhaut einen strahlenden Teint.

»Mit wem bist du verbunden gewesen?«, fragt Nino, der es für das Beste hält, mit einfachen Fragen anzufangen.

Haruka stützt sich mit dem Ellbogen auf der Sessellehne ab und legt träge den Kopf in die Handfläche. »Yuna Sasaki. Wir sind einander durch ein Arrangement unserer Eltern als Kinder versprochen worden.«

»Wann seid ihr die Verbindung offiziell eingegangen? Und für wie lange?«

»Wie es üblich ist, haben wir uns verbunden, als wir mit einundzwanzig volljährig geworden sind. Unsere Verbindung hat zehn Jahre angedauert.«

Nino nickt verständnisvoll. Der allgemeingültige Brauch formal arrangierter Verbindungen ist in den 1970ern ausgestorben.

»Nur zehn Jahre?«, fragt Nino. Warum so kurz? Hast du sie geliebt? Hat sie dich verletzt? Die Fragen springen immer noch wild durch seine Gedanken, alle wollen verzweifelt aus ihm herausbrechen.

»Ja«, antwortet Haruka. »Sie …« Er hält inne, sein Blick aus weinroten Augen fokussiert Nino. »Wie viel soll ich dir erklären?«

»So viel, wie für dich angenehm ist.«

»Ich möchte dich nicht mit den banalen Details meines Lebens langweilen.«

»Haru, du langweilst mich nicht. Ich könnte nie von dir gelangweilt sein.«

Ein kleines Schmunzeln zieht Harukas Mundwinkel nach oben. Die subtile Geste lässt auch Nino in dem flüchtigen Moment lächeln.

»Yuna hatte in ihrer Jugend einen guten Freund. Kenta Miyoshi«, erklärt Haruka. »Er hat der Ersten Generation angehört. Trotz ihrer offenkundigen Zuneigung zueinander haben unsere Eltern beschlossen, dass wir uns verbinden sollten, wenn wir volljährig wären.«

»Weil ihr beide reinblütig seid?«, rät Nino.

»Richtig. Yunas Blutlinie ist wie meine sehr alt, es ist also ideal gewesen. Aber als wir herangewachsen sind, hat sich zwischen Yuna und mir etwas entwickelt, das ich als … aufrichtige Zuneigung bezeichnen würde. Wie du weißt, sind meine Eltern gestorben, als ich zwölf war. Als wir dann volljährig wurden, habe ich sie gefragt, ob sie wirklich eine Verbindung mit mir einer mit Kenta vorzieht. Obwohl ihre Eltern noch am Leben waren, hätte ich das Arrangement aufgelöst, wenn das unser beider Wunsch gewesen wäre.«

»Sie hat dich gewählt, obwohl du ihr eine Wahl gelassen hast?«

»Ja«, sagt Haruka ausatmend. »Sie hat ihre … Liebe … zu mir ausgedrückt und darauf bestanden, dass ich ihre erste Wahl wäre. Also habe ich dem vertraut. Ihr vertraut.«

Haruka setzt sich aufrecht hin und reibt sich mit den Händen über das Gesicht. Sein Blick wirkt abwesend, während er die Erinnerungen in sich hervorruft. Nino lässt ihm einen Augenblick, bevor er wieder spricht.

»Was ist dann passiert?«, fragt er leise.

Harukas Kehle entringt sich ein Lachen, aber es klingt bitter. Nicht warm und sprudelnd wie sonst – wie Nino es gewohnt ist.

Schwach lächelnd lässt Haruka die Hand in den Schoß fallen. »Jetzt kommt der eher … demütigende Teil. Später ist mir klar geworden, dass Yuna und Kenta viele geheime Treffen vereinbart haben, nachdem wir unsere Verbindung eingegangen sind. Eines dieser Treffen hat darin resultiert, dass Kenta auf intime Weise von Yuna getrunken hat. Fast umgehend habe ich unsere Verbindung brechen gespürt – wie tiefgreifende Risse im Fundament.«

»Hast du gewusst, dass so etwas passieren kann? Hast du während deiner Forschungen je davon gehört?«

»Nein.« Haruka lehnt sich wieder in dem Sessel zurück. »Das ist das erste Mal gewesen, dass ich von so einem Ereignis gehört habe, und auch im Anschluss habe ich nichts Vergleichbares gefunden.«

Nino erinnert sich an den leeren Abschnitt am Ende des Buches. Gebrochene Verbindungen . Als er die Worte gelesen hat, haben sie keinen Sinn ergeben. Sie klangen wie ›nüchterner Betrunkener‹ oder ›wütender Frieden‹. Wie konnten diese zwei Worte nebeneinander existieren? Das verdeutlicht, wie tief verwurzelt die Überlieferungen über die Verbindung in der Psyche der Vampire sind. In ihrer Kultur.

»Das Ergebnis der Untreue«, sagt Haruka, seine tiefe Stimme leise, »war unsagbarer Schmerz. Wie ein tiefgehender Schuss oder ein Stich mitten in die Essenz meiner Natur. Wir haben entschieden, unsere Beziehung offiziell zu beenden, und für die darauffolgenden sechs Monate hat mein Körper … Yunas Natur tief aus meinem Inneren gestoßen. Selbst wenn man das Ableben meiner Eltern miteinschließt, ist dies vermutlich die grauenvollste Erfahrung in meinem Leben gewesen. Ich … war mir nicht sicher, ob ich überleben würde. Ich wollte es nicht … Bis heute verstehe ich wirklich nicht, wie ich es geschafft habe.« Haruka hebt die Finger an seinen dunklen Schopf und vergräbt sie darin, während er zusammensackt. Er kneift die Augen zusammen, als hätte er noch immer Schmerzen.

Nino klettert leise vom Bett und geht die wenigen notwendigen Schritte, um ihn zu erreichen. Als er ankommt, öffnet Haruka blinzelnd die Augen. Nino beugt sich vor und stützt die Hände auf den Sessellehnen ab. Er beugt sich weiter vor und drückt die Stirn an Harukas. Dann schließt er die Augen. Haruka versteift sich kurz angesichts Ninos Nähe, aber als Nino die Wärme und den Frieden seiner Aura nach außen schiebt, entspannt Haruka sich.

Kurz darauf beruhigt sich seine Atmung und passt sich perfekt dem Rhythmus Ninos eigener an. Dieser öffnet die glühenden Augen und hebt den Kopf. Harukas bleiben geschlossen, aber sein Gesicht ist entspannt.

»Alles in Ordnung?«, fragt Nino.

Als Haruka die Augen öffnet, leuchten sie scharlachrot. Wunderschön. »Ich bin … Tut mir leid …«

Nino tritt einen Schritt zurück und streckt eine Hand in der Aufforderung aus, Haruka aufzuhelfen. »Mein Vater hat eine alte Bibliothek auf der Südseite unseres Geländes. Hättest du heute Lust, dort etwas Zeit zu verbringen?«

Harukas Augen weiten sich überrascht, während sie langsam wieder ihr normales, gesundes Weinrot annehmen. »Sehr gern.« Er legt die Hände in Ninos und lässt sich von ihm hochziehen. Als sie beide stehen, macht Nino einen Schritt nach vorn und legt die Arme um Harukas Schultern. Er weiß nicht, ob das in Ordnung ist – oder ob er damit Grenzen überschreitet. Aber während er Haruka so nahe ist, dreht er das Gesicht so, dass er es an die seidenweichen Haare an Harukas Schläfe drücken kann.

»Ich bin sehr dankbar dafür, dass du überlebt hast«, sagt Nino ruhig. »Danke, dass du mir das anvertraut hast. Ich weiß, das ist nicht leicht gewesen.«

Haruka legt Nino die Hände an die Taille und drückt ihn an die ganze Länge seines Körpers. Nino weitet angesichts der Umarmung überrascht die Augen, aber schnell schließt er sie wieder und hält seinen Freund noch ein wenig fester.

»Danke fürs Zuhören«, sagt Haruka. »Ich habe noch nie … laut darüber gesprochen. Nicht ein einziges Mal.«

Wie lange können sie so dastehen – sich im lautlosen, goldenen Sonnenlicht umarmen? Harukas starken Körper in seinen Armen und das sanfte Heben und Senken seines Brustkorbs spüren, das ihn mit jedem Atemzug an Ninos drückt. Nino hat nicht die leiseste Ahnung. Aber er könnte es den ganzen Tag tun. Und selbst dann würde es sich noch zu kurz anfühlen.