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Am folgenden Abend begleitet Haruka auf Cellinas Beharren hin Nino zu einem Treffen mit einem der höchstgeschätzten Mitglieder der Mailänder Aristokratie. Francesco Moretti ist Kurator der Galleria d’Arte Moderna. Harukas zugegeben dürftiger Nachforschung nach trägt Moretti diesen angesehenen Titel schon seit zwei Jahrhunderten und ist bekannt für seine persönliche Beziehung zu Pompeo Marchesi.

Bei ihrer Ankunft werden Haruka und Nino einen marmornen Gang entlanggeführt, der in gedämpftes, romantisches Licht getaucht ist. Klassische europäische Kunstwerke hängen in antiken Goldrahmen an der Wand – Trivulzio Madonna von Mantegna, Portrait of a Warrior von Dossi. Moretti hat eine unverkennbare Affinität für unbezahlbare Kunstwerke der Renaissance.

Der Gang endet an Türen aus Eichenholz. Die Bedienstete, die sie eskortiert, öffnet eine und tritt zur Seite. Zu Harukas Staunen befindet sich ein großes Atrium hinter Signor Morettis Heim.

Der rechteckige Raum wird von einer üppigen tiefgrünen Landschaft geziert. Alles wird von dieser wunderschönen Farbe geflutet: Sich windende Zypressen stehen entlang des inneren Bereichs und saftiges gepflegtes Gras erstreckt sich über den Garten wie ein satter Teppich aus Smaragden. Klare Glühbirnen hängen wunderschön arrangiert an Bändern über einem Tisch auf dem Innenhof aus Ziegelsteinen, der sich in der Mitte des Glashauses befindet. Die moderne Beleuchtung taucht alles in einen sanften, fast traumähnlichen Nebel.

Auf der Fahrt zu Morettis Anwesen ist Nino ungewöhnlich still gewesen. Haruka weiß, dass sein Freund diese Art von formellen Anlässen verabscheut, aber er weiß nicht genau weshalb. Es ist nur eine Dinnerparty und Nino befindet sich nicht in Gefahr. Die einzigen Bedrohungen sind Langeweile und der unangenehme Schwall an blumigen Komplimenten.

Sie gehen auf den Tisch zu und alle anwesenden Vampire starren sie an. Als sich ein älterer Mann am Kopfende erhebt, folgen alle seinem Beispiel. Dank seiner Internetrecherche auf Ninos Laptop erkennt Haruka den Mann als Francesco Moretti. Die dicken silbernen Locken des älteren Vampirs glänzen in der sanften Beleuchtung des Atriums. Sein Gesicht ist markant und attraktiv mit einem kräftigen Kiefer. Es ist deutlich zu erkennen, dass er ein würdevoller und gut gepflegter Vampir ist.

»Der jüngere Bianchi, es ist mir eine Freude, Euch in Abwesenheit Lord Bianchis bei diesem Abendessen begrüßen zu dürfen.«

Signor Moretti öffnet die Arme weit und Nino begibt sich ungelenk in seine Umarmung. Der ältere Vampir küsst ihn auf die Wange, bevor er sich zurücklehnt und ihm ins Gesicht sieht. »Solch ein umwerfender junger Mann seid Ihr geworden. Habe ich Euch das letzte Mal gesehen, bevor Ihr volljährig geworden seid? So eine Schande.«

»Vielleicht.« Nino schenkt ihm ein Lächeln, das nicht an seine Augen reicht. »Signor Moretti, das ist mein Freund Haruka Hirano aus Kurashiki, Japan. Er ist diese Woche unser Gast.«

»Davon habe ich gehört.« Moretti strahlt, als wäre Haruka ein großer Beutel gefüllt mit Edelsteinen. Er verbeugt sich leicht. »Ihr seid eine beeindruckende Kreatur. Willkommen in Mailand, Master Hirano.«

»Vielen Dank, Signore«, entgegnet Haruka höflich nickend. »Bitte nennt mich nur Haruka. Es ist mir eine Ehre Euch kennenzulernen.«

»Euer Italienisch ist hervorragend, Haruka. Bitte nehmt Platz und macht es Euch bequem.«

Moretti stellt reihum alle seine Gäste vor – mit Rang, Alter, Beruf und nennenswerten Auszeichnungen, die sie erworben haben. Es ist ermüdend. Und sinnlos. Auf Basis seiner Erfahrungen mit europäischen Aristokratien wird keiner dieser Individuen heute viel zu Wort kommen. Der Gastgeber dominiert immer und lässt kaum jemand anderen sprechen.

Nino holt sein Handy aus der Hosentasche und sieht diskret auf den Bildschirm. Haruka muss sich gar nicht fragen, warum. Cellina ist noch nicht hier.

Signor Moretti bittet um Harukas Aufmerksamkeit, also streckt er den Rücken durch und bereitet sich auf den unausweichlichen Ansturm an Fragen vor.

Wein wird eingeschenkt. Warme Vorspeisen werden serviert. Genau wie Haruka erwartet hat, liegt Signor Morettis Fokus auf ihm. Sein Hintergrund, seine Meinung, seine Familie, seine Interessen. Das Gespräch ist fordernd, aber auch langweilig.

Nino hat kaum ein Wort gesagt, seitdem sie angekommen sind.

Signor Moretti nimmt einen großen Schluck Wein, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder Haruka zuteilwerden lässt. »Wir wissen alle gut über die … Probleme des jüngeren Bianchi Bescheid. Aber darf ich fragen – mit Eurem Intellekt, der verlockenden Aura und Haltung, warum habt Ihr da entschieden unverbunden zu bleiben?«

Haruka blinzelt verdutzt. Probleme? Er sieht Nino fassungslos an, aber sein Freund weicht seinem Blick aus und hebt beiläufig sein Glas Wasser an – als hätte niemand etwas Unangebrachtes gesagt. Haruka atmet tief ein und konzentriert sich wieder auf Signor Moretti. Er greift schnell auf seine vorgefertigte Antwort zurück: »Ich habe noch keinen Vampir gefunden, mit dem ich kompatibel bin.«

»Vielleicht wird sich das ändern, während Ihr hier in Italien weilt?« Er grinst verschmitzt. Der ältere Vampir hat schon jemanden für Haruka im Hinterkopf. Vielleicht sogar mehrere. Das haben sie immer alle. Zeitgleich stößt Nino ein leises Stöhnen aus.

»Der jüngere Bianchi ist … unerfahren und unwissend, was unsere soziale Hierarchie angeht.« Moretti hebt das Kinn. »Auf den älteren Bianchi, Giovanni, solltet ihr den Fokus Eurer wertvollen Aufmerksamkeit legen. Er ist ein außerordentlich gerissener Mann und in ganz Europa sehr bekannt – wahrlich der Stolz unserer Region. Da wäre außerdem noch eine Vampirin von Rang in Rom …«

»Amore, du benimmst dich unhöflich.« Morettis Partnerin Lilliana verpasst seiner Schulter einen sanften Hieb und lächelt Nino entschuldigend an.

»Spreche ich denn nicht die Wahrheit?«, fragt Signor Moretti stolz und hebt die große Hand in einer ergebenden Geste. »Dieser Mann hat keinen von uns in seinem ganzen Leben je beachtet oder sich je angemessen mit uns unterhalten. Wie sollte er da etwas wissen? Und verkehrt Ihr immer noch heimlich mit diesem Blutegel Cosimo De Luca?«

Nino fällt schockiert die Kinnlade hinunter. »Nein . Woher wisst Ihr …«

»Oh, alle wissen davon.« Moretti winkt beiläufig mit der Hand. »Verhaltet Euch nicht wie ein Kind. In dieser Gemeinschaft gibt es keine Geheimnisse. Er ist eine Schande, seine Schwester hingegen … exquisite Kreatur. Ich freue mich schon auf ihre Ankunft heute.«

Nino fährt sich mit den Fingern durch das kupferfarbene Haar – ein deutliches Zeichen dafür, dass sein Stresslevel ansteigt.

»Vor heute Abend«, spricht Moretti Nino direkt an, »habt Ihr da je auch nur von einem der Vampire an diesem Tisch gehört  – von mir einmal abgesehen, natürlich?«

Nino sieht am Tisch entlang, bevor er höflich lächelt. »Nein, Signore, aber …«

»Welche Kenntnis habt Ihr über die Welt der Kunst? Habt Ihr Euch vor diesem Essen schlau gemacht? Ihr habt nichts zu unserem Gespräch beigetragen …«

»Amore, bitte «, meldet sich Lilliana erneut zu Wort. »Er ist ein sehr empfindlicher Mann. Denk doch an das Trauma, das er erlitten hat.«

»Empfindlichkeiten beiseite, warum weiß er nichts über unsere Kunstgeschichte?«, fragt Moretti und hebt Nino sein Weinglas entgegen. »Es handelt sich um unsere Kultur, Herrgott noch mal. Und es ist ja nicht so, als hättet Ihr nicht mehr als genug Zeit allein verbracht, um Recherchen anzustellen.«

Moretti setzt zu einem Schluck Wein an, überlegt es sich jedoch abrupt anders, sodass die Flüssigkeit überschwappt, als er sich vorbeugt. »Habt Ihr von Da Vinci gehört? Was haltet Ihr davon, drei seiner Werke aufzulisten? Könnt …«

Haruka löst in Sekundenschnelle den Knoten seiner Aura in seinem Inneren und dehnt die Stärke seiner Essenz so weit aus, dass sie alle Anwesenden einhüllt.

Er hat genug.