26

Ein paar Stunden später erklimmt Nino, immer noch verärgert von Signor Morettis Verhalten, die Treppenstufen zu seinem Schlafzimmer. Er hat mit negativen Reaktionen auf sein unerwartetes Erscheinen bei einem gesellschaftlichen Ereignis in seinem Reich gerechnet, aber der ältere Mann ist ganz eindeutig zu weit gegangen.

Nino streift den Mantel etwas gröber als nötig von seinen Schultern. »Ich komme einfach nicht drüber hinweg, was für ein Arschloch er war. Warum wollte Lina, dass ich dort hingehe?«

»Vielleicht ist ihr seine arrogante Art nicht bekannt?«, führt Haruka an, während er Nino die Treppe hinauffolgt. »Wobei … wie jemandem so eine offensichtliche Tatsache entgehen könnte, ist mir ein Rätsel.«

Beim Betreten des Zimmers wirft Nino seinen Mantel auf die Ottomane, die am Ende seines Bettes steht. Sein Bediensteter hat bereits den kleinen Kamin angeheizt, sodass der Raum von Wärme und einem orangefarbenen Licht erfüllt ist. Nino streift sich die Schuhe ab, bevor er sich auf das Bett wirft. Seine Stimme klingt gedämpft, weil er flach auf dem Bauch liegt. »Ich werde für eine lange Zeit zu keiner verdammten gesellschaftlichen, aristokratischen Vampir-Veranstaltung mehr gehen. Gott.«

Das Bett bewegt sich und er hört Harukas tiefe, ruhige Stimme. »Übung macht den Meister?«

Als Nino sich auf den Rücken dreht, sieht er, dass Haruka auf der Kante der Matratze sitzt. Nino rutscht etwas höher, um den Kopf auf das Kissen zu stützen.

Er lächelt. »Muss ich denn ein Meister sein? Du hast mir mal gesagt, dass ich wunderbar bin, so wie ich bin. Erinnerst du dich?«

»Das tue ich.« Haruka grinst, das helle Licht des Kamins hinter ihm lässt seine Silhouette strahlen. »Und ich stehe zu meiner Aussage. Aber gerade weil du so ein außerordentlich intelligenter, kluger und interessanter Mann bist, wäre es eine Schande, unserer Gesellschaft deine Talente und rücksichtsvolle Natur vorzuenthalten.«

Ninos Lächeln wird breiter, sein Herz federleicht. Er zieht ein Bein an, um den Ellbogen darauf abzustützen und das Kinn auf die Hand. »Danke, Haru … Ich gebe mir weiterhin Mühe. Warum hast du Moretti erzählt, dass du noch keinen Vampir gefunden hast, mit dem du kompatibel bist? Du hast doch gesagt, du willst dich nie wieder verbinden.«

»Das will ich auch nicht. Das war meine gesellschaftlich angemessene Antwort auf eine sehr persönliche Frage. Wenn ich erzählen würde, dass ich nicht die Absicht habe, mich zu verbinden, führt das nur zu einem Spektakel, dem ich mich nicht aussetzen möchte.«

»Klingt einleuchtend …« Stille breitet sich aus, während Nino daran denkt, wie Haruka seine Energie nach Außen geschoben und alle auf der Party hat erstarren lassen. »Danke, dass du mir heute Abend geholfen hast. Wenn du bei diesen Veranstaltungen meine Begleitung bist, ist alles immer viel angenehmer.«

»So geht es mir auch mit dir«, sagt Haruka. Er sieht kurz weg, als würde er über etwas nachdenken. »Nino, wer ist Cosimo de Luca? Ist er mit Cellina verwandt?«

Nino stöhnt und lässt das Bein wieder flach auf das Bett sinken.

»Du musst mir nicht antworten«, versichert Haruka ihm. »Ich wollte nicht aufdringlich sein …«

»Das bist du nicht.« Nino dreht sich auf die Seite, um Haruka besser ansehen zu können. Er stützt den Ellbogen auf das Kissen, um die Hand an das Kinn zu legen. »Cosimo ist Cellinas jüngerer Bruder. Ich bin mit den beiden aufgewachsen, weil unsere Väter beste Freunde waren. Etwa zu der Zeit, als ich volljährig geworden bin, fing Cosimo an mit mir zu flirten.«

Haruka nickt verständnisvoll. »Du hattest romantisches Interesse an ihm.«

»Eigentlich nicht. Nicht lange jedenfalls. Er … Er ist keine schlechte Person. Er hat nur sehr deutlich gemacht, dass er irgendwann von mir trinken will. Er hat immer gesagt ›Natürlich erst, wenn du so weit bist‹. Aber er hat mich jeden Tag gefragt, ob ich so weit bin.«

Da lacht sein Freund auf diese tiefe, kehlige Art, die Nino so mag. Sein Lachen ist wie Donnergrollen, nur ist der nahende Sturm Grund zur Freude. Nino grinst, als er fortfährt. »Es war immer dasselbe. Er hat gesagt ›Erst wenn du so weit bist‹ und buchstäblich fünf Minuten später folgte mit einem todernsten Blick: ›Also, bist du so weit?‹«

Diesmal lacht Haruka freiheraus und legt die Hand an die Stirn. Nino liebt es, ihn zum Lachen zu bringen. Es fühlt sich an, als bräuchte er es, und jedes Mal, wenn es Nino gelingt, erinnert ihn das Gefühl an Sonnenlicht, das sich den Weg durch dichte, dunkle Wolken kämpft. »Das klingt nicht sehr ideal.«

»Das war es auch nicht. Ich … hatte einige Zeit lang eine Geliebte in England. Eine menschliche.«

»Tatsächlich?« Haruka weitet die Augen und reißt den Kopf überrascht zu Nino herum.

»Ja, aber ich habe nie von ihr getrunken. Menschen riechen nicht besonders appetitlich, weißt du? Ich fand sie nett, aber sie … Ich weiß auch nicht. Vielleicht habe ich ihr nur eine Art Fantasie erfüllt? Sie hat mich ständig angefleht von ihr zu trinken. Und mich immer ihren ›reinblütigen Vampir‹ genannt, was ich ziemlich unangenehm fand. Als wäre ich ihr Haustier oder so … das sie ihren Freunden vorgeführt hat.«

»Nino, das klingt schrecklich.« Haruka schüttelt den Kopf, die Hand immer noch auf dem Gesicht. »Und ihr Spitzname für dich ist … furchtbar einfallslos gewesen.«

Nino lacht. Da kann er nur absolut zustimmen. Es war schlimm. Da er den Großteil seines Lebens vorsichtig gewesen ist und Gesellschaft gemieden hat, hat er nur eine Handvoll sexueller Erfahrungen mit anderen Vampiren gehabt. Und keine davon war tatsächlich nennenswert.

Er beißt sich auf die Lippe, bevor er den Fuß neckend unter die Daunendecke und weiter unter Harukas Körper schiebt. Dieser schreckt hoch, als Ninos Zehen seinen Hintern berühren. »Was ist mit dir? Hast du irgendwelche Erfahrungen mit anderen Vampiren gehabt, nachdem die Verbindung zu Yuna gebrochen ist?«

Haruka erstarrt, als hätte er seine besondere Fähigkeit auf sich selbst angewendet. Ein nervöses Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. »Muss … ich darauf antworten?«

»Du musst gar nichts, Haru. Ich habe nur gedacht, dass wir gerade unsere Erfahrungen teilen?«

Haruka schüttelt den Kopf. »Das würde ich lieber nicht tun.«

Das ist dann wohl ein eindeutiges Ja. Nino schnaubt lachend, während er sich wieder bequem auf den Rücken zurückrollt. Plötzlich stellt er sich seinen wortgewandten, jungen, professorenhaften Freund vor, wie er sexuelle Eskapaden in ganz Europa erlebt.

Schnell verzieht er das Gesicht und unterdrückt diese Vorstellung. Sie gefällt ihm ganz und gar nicht.

Haruka reibt sich mit der Hand den Hinterkopf. »Jetzt fühlt es sich allerdings unausgewogen an – verderbe ich gerade eine Art Kameradschaftsritual?«

»Tust du nicht. Alles gut.«

»Nino, hast du dich diesem Cosimo nie angeboten?«

»Nein.«

»Aber … du hast dich doch sicherlich in der Nähe irgendeines anderen Vampirs wohl genug dafür gefühlt?«

Ninos Herzschlag beschleunigt sich, seine Atmung wird flach. Haruka nähert sich allmählich der offensichtlichen Schlussfolgerung und plötzlich fühlt sich der Raum ein wenig zu warm an. Nino hält den Blick nach oben gerichtet und auf die Decke konzentriert. »Nun ja … nein.«

»Warte«, sagt Haruka und stützt sich mit den Händen auf dem Bett ab. »Heißt das, es hat noch nie jemand deine Aura auf intime Art freigesetzt? Das hast du noch nie erlebt?«

Jetzt reitet er aber ganz schön drauf rum. Nino schließt die Augen. »Habe ich nicht, aber das ist okay. Ich muss dir nicht leidtun, ich …«

»Ich bemitleide dich nicht«, sagt Haruka bestimmt. »Dein Leben, deine Entscheidungen. Allerdings …«

Nino öffnet erwartungsvoll die Augen. Er starrt an die dicken Holzbalken der Decke, während sein Freund schweigt. »Ja?«, hakt er nach.

»Welche Art Beziehung hast du wirklich zu Cellina?«, fragt Haruka. »Warum hat sie noch nie deine Aura freigesetzt?«

»Cellina ist wie eine große Schwester für mich. So eine Beziehung haben wir nicht.« Ninos Blick flackert zu Haruka hinüber. Dieser sieht auf seine Hände hinunter, seine sonst perfekte Haltung leicht in sich zusammengefallen.

»Verstehe«, sagt er. »Aber … vielleicht wünschst du dir insgeheim, dass sie …«

»Nein «, sagt Nino etwas lauter als nötig. Haruka reißt den Kopf überrascht herum. Dankbar, dass Nino jetzt seine volle Aufmerksamkeit hat, spricht er sanft, aber bestimmt: »Nein, Haru. Ich vertraue Cellina, aber es gibt absolut keine romantischen Gefühle zwischen uns. Und die hat es auch nie gegeben. Ich würde nicht wollen, dass sie das tut.«

Haruka nickt verstehend, aber seine Stirn ist gerunzelt. »Würdest du …« Er unterbricht sich kopfschüttelnd. Ohne Ankündigung steht er auf, was auch Nino aufrechter sitzen lässt – er schießt geradezu hoch, wie eine Harke, auf die jemand getreten ist. Eine Dringlichkeit strahlt von Ninos Rücken aus in den Rest seines Körpers.

»Es war ein langer Abend«, sagt Haruka und reibt sich den Nacken. »Ich sollte gehen …«

»Was wolltest du sagen? Würde ich was ?« Das Adrenalin in Ninos Körper ist von null auf hundert angestiegen. Von entspannt zu absolut verzweifelt. Sie befinden sich an der Schwelle zu etwas Wichtigem. Etwas, dem sie behutsam und höflich ausgewichen sind. Er kann fühlen, wie es langsam durchsickert und seine Natur entzündet – wie es warm über seine Haut fährt und ihm Gänsehaut verursacht.

»Nein«, sagt Haruka mit gesenktem Blick. »Das ist anmaßend von mir. Ich sollte meinen Stand kennen …«

»Sag es einfach. Bitte

Einen ruhigen Moment sehen sie einander an, bevor Haruka die Schultern entspannt. Seine melodische Stimme erklingt leise. »Wenn … es dir nicht unangenehm ist, dann könnte ich es für dich tun? Deine Aura freisetzen.«

Die Hitze, die Nino am Rücken spürt, verstärkt sich. Erblüht. Wie ein emotionaler Cocktail wirbeln Erleichterung und Aufregung in seinem Inneren. Er schluckt schwer und während er seinen Freund ansieht, nickt er – vielleicht ein wenig zu energisch. »Ja, bitte. Das würde mir sehr gefallen.«