Am nächsten Morgen wacht Haruka desorientiert auf. Wo befindet er sich? Wie spät ist es und wessen Leben führt er plötzlich?
Als er die Augen öffnet, ist sein Gesicht halb von einem Kissen bedeckt. Er bewegt sich nicht. Stattdessen atmet er ein. Ninos köstlicher, rauchiger und zimtgetränkter Duft durchflutet ihn, ertränkt seine Sinne auf äußerst befriedigende Art. Er dreht sich unter der Daunendecke auf den Bauch und schiebt das Gesicht komplett in das Kissen.
Haruka atmet tief ein, bevor er mit einem zufriedenen Stöhnen laut ausatmet. Er lächelt in das bauschige Kissen.
Wie es sich angefühlt hat, gestern Nacht Ninos Aura aus seinem Körper freizusetzen … Er kann es nicht richtig beschreiben. Einfache Worte sind dafür nicht ausreichend – nutzlos, wenn man versucht das exquisite Meisterwerk darzustellen, das Ninos Essenz ausmacht. Vielleicht wenn man es auf Latein versucht oder eine ganz neue Sprache entwickelt? Er hat in der Vergangenheit Yunas Aura freigesetzt. Viele, viele Male. Aber die Erfahrung im Vergleich zu der mit Nino? Es ist unvergleichlich.
Es ist magisch gewesen. Sprudelnd, leuchtend und golden. Champagner auf unerklärliche Weise mit Feuer verwoben. Die Energie ist aus Ninos Körper gerauscht wie ein Zauberspruch. Sie war so rein und angereichert mit Zuneigung, dass sie beinahe reinigend gewirkt hat, als sie Haruka warm gestreichelt und sich um seinen Körper gelegt hat. Sie hat ihn mit voller Absicht eingeschlossen, als hätte sie nach der Aura in seinem Inneren getastet – wie ein wunderschönes Wesen, das verzweifelt nach seinem lang verschollenen Freund sucht.
Unerwarteterweise hat Harukas Natur darauf reagiert und heftig in ihm pulsiert. Er hat aufhören müssen von Nino zu trinken, andernfalls hätte sich seine Natur eigenständig aus dem Knoten gelöst und wäre aus seinem Körper gerauscht.
Die Schlafzimmertür geht knarrend auf und Haruka hebt den Kopf vom Kissen. Als er Nino spürt, setzt er sich aufrecht hin. Der Himmel ist bewölkt, aber das gedämpfte Sonnenlicht taucht den Raum in kühle Atmosphäre. Nino ist komplett angekleidet, sein kupferfarbenes Haar ordentlich nach hinten gekämmt und die Seiten sind frisch geschnitten. Haruka erscheint sein Freund immer mühelos stilvoll und lässig. Unaufdringlich, als wäre er geradewegs zwischen den Seiten eines Lifestyle-Magazins für Herren hervorgetreten.
»Guten Morgen«, sagt Haruka, während er sich das Gesicht reibt.
»Guten Nachmittag .« Stirnrunzelnd verzieht Nino den Schmollmund.
»Wie spät ist es?«
»Viertel vor eins.«
Verwirrt kratzt Haruka sich den Hinterkopf. Das Haar steht ihm gerade vom Kopf ab, anstatt flach anzuliegen. Er will sich gar nicht vorstellen, wie lächerlich er aussieht. »Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Ich habe es versucht .« Nino sieht ihn mit großen Augen an und geht auf den Ecktisch zu. »Du hast mich zu Tode erschreckt. Dein Körper war ganz kalt und du hast dich nicht gerührt, egal was ich gemacht habe.«
Haruka lacht und lässt die Hände sinken, der Versuch seine Haare zu bändigen ist nicht sehr erfolgreich gewesen. »Wenn ich sehr viel Energie aufwende, muss ich den Verlust manchmal durch besonders tiefen Schlaf ausgleichen.«
»Das weiß ich jetzt auch«, sagt Nino, während er sich vorbeugt und sein Laptopkabel aus der Steckdose zieht. »Ich habe Asao angerufen, weil ich besorgt war, und er hat es mir erzählt. Ich habe gedacht, ich wache auf und verbringe einen schönen, gemütlichen Morgen mit dir. Stattdessen bin ich neben einer Leiche aufgewacht.«
Nachdem Haruka vergangene Nacht so tief von Nino getrunken hat, ist er davon ausgegangen, dass er die Erholungszeit womöglich nicht braucht. Vielleicht hat es ihn zusätzliche Energie gekostet, dass er seine Aura beim Trinken zurückgehalten hat?
»Bitte entschuldige, Nino. Ist es zu spät für eine angemessenere morgendliche Begrüßung?«
Mit dem Laptop und dem Kabel in den Armen hält Nino inne. Er grinst und geht zu Haruka. Als er an der Seite des Bettes ankommt, hebt Haruka den Kopf und Nino beugt sich herunter, um ihn schnell zweimal auf den Mund zu küssen. »Hi.«
»Guten Nachmittag«, sagt Haruka und fühlt die Wärme seiner Zuneigung zu Nino in seinem ganzen Körper glühen. Irgendwie fühlt es sich natürlich an Nino zu küssen und das, obwohl sie diese Intimität erst einige Stunden zuvor eingeführt haben. Als hätte man etwas auf eine Art gemacht und merkt, dass es auf eine andere viel besser funktioniert.
Zufrieden stellt Nino sich wieder aufrecht hin. »Ich bin sehr dankbar, dass du nicht tot bist.«
»Es wären schon eine ausgeprägte Hungerphase und ein schweres Trauma notwendig, um mich tatsächlich zu töten. Du musst dich nicht sorgen.«
»Natürlich.« Nino schmunzelt und geht zurück zur Tür. »Wir müssen diese Fragebögen zur Absicht heute noch eintüten und abschicken. G kommt morgen zurück, dann wird er dich definitiv durch ganz Mailand schleifen wollen, um dich allen vorzustellen. Wir sollten heute in seinem Büro im Haupthaus arbeiten, da das offizielle Siegel und alle Materialien dort sind. Kommst du zu mir, sobald du angezogen bist?«
»Natürlich«, sagt Haruka gehorsam.
»Lass es Luciano wissen, wenn du Kaffee oder irgendwas anderes brauchst. Wir sehen uns unten?«
»Ich werde nicht lange benötigen.«
Nino schließt die Tür. Gähnend streckt Haruka die Arme über dem Kopf aus. Er kann sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal so gesund, ausgeruht und generell lebendig gefühlt hat.
Als Haruka endlich Giovannis elegantes Büro im Haupthaus betritt, hat Nino schon alles organisiert und bereitgelegt, was sie für ihre Arbeit heute benötigen: die auf Pergamentpapier gedruckten Fragebögen, einen Stapel an passenden Briefumschlägen, ein Wachssiegel und Schreibutensilien, um die Dokumente mit dem Wappen des Bianchi-Clans zu versehen.
Nino ist an diesem Morgen bereits sehr fleißig gewesen – er hat fachgerechte Briefe aufgesetzt, in denen er sie beide und ihre Forschungsziele vorstellt. Außerdem hat er eine zweite Seite mit den abgesprochenen Fragen angefertigt. Fünfzig Briefe sind bereits fertig und an Vampirpaare in Florenz, Mailand und Venedig adressiert. Bisher hat Giovanni eine Liste mit dreihundert Kontakten erarbeitet und laut Nino wird sein Bruder bald auch mit den reinblütigen Oberhäuptern von Rom und Sizilien sprechen.
Im Laufe des Nachmittags tippen und adressieren sie weitere Briefe, stecken sie in Umschläge, die sie wiederum mit Siegeln versehen. Währenddessen besprechen sie mögliche weitere Schritte, sollte die Umfrage die gewünschten Informationen liefern. Nino schlägt außerdem vor, dass sie die älteren Artikel von Lore and Lust neu anordnen, sodass die Abschnitte weiter in die Ränge der Paare unterteilt sind. Aber Haruka ist sich nicht sicher, ob er sich darauf einlassen will. Es klingt nach einer Menge Arbeit. Daher wird er zweifellos prokrastinieren.
»Ich denke, es wäre wesentlich einfacher bestimmte Einträge zu finden, wenn wir es umstrukturieren würden«, schlägt Nino vor. Er sitzt am Schreibtisch seines Bruders und tippt auf seinem Laptop. »Und dann könntest du es vielleicht neu drucken lassen? Es vielleicht sogar verteilen? Was, wenn Gael anderen Vampiren davon erzählt hat, die dich auch angreifen wollen?«
Haruka verschränkt die Arme und lehnt sich auf dem weichen Ledersofa zurück. Der tiefe Kaffeetisch vor ihm ist überhäuft mit Papieren, Stapeln von Briefumschlägen und dem Wachssiegel. »Meine Hoffnung ist, dass Gaels Reaktion auf die Forschung eine Ausnahme und nicht die Regel ist. Es der großen Masse zur Verfügung zu stellen ist heikel, da die Informationen im Manuskript vertraulich sind. Dabei geht es um Privatsphäre.«
Nino zuckt die Schultern. »Wir könnten die Namen mit Nummern austauschen? Oder nur die Vornamen nehmen? Ich denke nur, dass wertvolle Forschungen geteilt werden sollten. Warum diese Erkenntnisse geheim halten? Und momentan beaufsichtigst du auch kein Reich, sodass du anderen Vampiren helfen könntest, wenn sie Fragen haben.«
Haruka zieht eine Augenbraue hoch. Es ist still, daher hebt Nino den Blick vom Laptop. Dann lächelt er verlegen. »Das sollte natürlich keine Kritik sein. Ich habe noch nie mehr beaufsichtigt als meine Bar und nicht mal das tue ich im Moment.« Er lacht und kratzt sich am Kopf, bevor er weiterspricht.
»Was ich damit sagen will, ist: Vielleicht würden andere Oberhäupter – gute Vampire, die anständig und zuverlässig sind – davon profitieren, wenn sie eine Kopie erhielten? G hat mir gesagt, dass er gern eine hätte. Und meinem Vater sind praktisch die Augen aus dem Kopf gefallen, als ich ihm davon erzählt habe. Ich denke, das Buch hat das Potenzial, der Bevölkerung zu helfen. Wie eine Landkarte für Verbindungen. Vielleicht hilft es ja, die Ängste aller zu beseitigen?«
Die Ängste aller. Der Rückgang der Reinblüter. Ein Mangel an erfolgreich verbundenen Paaren, woraus sich auch ein Defizit an gedeihenden reinblütigen Familien ergibt. Viel Hysterie, die sich um die Verbindung dreht. Das erstaunt Haruka. Für ihn ist die Verbindung der größte Fehler seines Lebens gewesen. »Ich verstehe dein Argument.« Er seufzt. »Gib mir etwas Zeit, es in Betracht zu ziehen.«
»Klar, kein Druck.« Nino sieht wieder auf seinen Laptop hinunter und tippt weiter. »Wollte nur eine andere Sichtweise bieten. Da wir gerade von meinem Vater sprechen, ich glaube, er würde sich gern noch mal mit dir unterhalten, bevor du abreist. Das Treffen mit dir an dem einen Abend hat ihm wirklich gefallen.«
»Es wäre mir eine Freude.«
Domenico Bianchi ist aschfahl und seine vampirische Aura ist schwach. Dennoch strahlt der kultivierte Mann eine unbestreitbare Würde aus. Der Verlust von Gefährten wird nur in extrem seltenen Fällen überlebt, schließlich bedeutet es, dass die primäre, praktisch maßgeschneiderte Nahrungsquelle versiegt, wenn sie dahinscheiden. So abhängig von jemandem zu sein, der dann einfach verschwindet, kann ein enormes Trauma in der Natur eines verbundenen Vampirs verursachen.
»Nino, ich hoffe, das kommt jetzt nicht herzlos rüber, aber wie schafft es dein Vater schon so lange ohne seine Gefährtin zu überleben?«
»Nun. Das ist … irgendwie kompliziert.«
Stille. Haruka blinzelt erwartungsvoll. Normalerweise ist Nino außerordentlich mitteilsam, dieser seltene Fall von Verschwiegenheit fühlt sich also seltsam an. »Okay, verstanden.«
»Tut mir leid, Haru. Aber ich kann dir sagen, dass er Mutter sehr vermisst. Ich schätze, ich ähnele ihr auf eine subtile Art, deshalb spricht er oft über sie, wenn ich bei ihm bin … Was nicht so häufig vorkommt, wie es sollte …« Nino zuckt die Schultern.
Haruka ist sich nicht sicher, aber als er und Nino bei Domenico waren, ist ihm aufgefallen, dass ihre Beziehung zueinander seltsam gewesen ist. Ninos Vater ist überaus dankbar für ihre Anwesenheit gewesen, als würde er normalerweise keinen Besuch erhalten.
»Besuchst du deinen Vater nicht oft?«, fragt Haruka. Er ist sich sicher, dass er noch in Japan leben würde, wäre sein Vater noch am Leben. Vielleicht hätte er es nie verlassen. Sein Vater ist ein unglaublich liebevoller und fürsorglicher Vampir gewesen.
»Nein.« Nino lehnt sich im Stuhl zurück. »Unsere Beziehung ist etwas schwierig. G würde ausrasten, wenn er das hier hören würde, aber erinnerst du dich noch, dass ich dir von der Sache mit meinem Onkel erzählt habe?«
»Natürlich.«
»Er und mein Vater sind eineiige Zwillinge gewesen, also war die Dynamik der ganzen Situation ziemlich unangenehm. Ich habe dir nicht davon erzählt, aber er hat nur damit aufgehört, weil meine Mutter das eine Mal in mein Zimmer gekommen ist und gesehen hat, wie er von mir getrunken hat. Ohne irgendeine Frage zu stellen ist sie zum Tier geworden. Sie hat ihm vor mir buchstäblich die Kehle rausgerissen. Diese Seite von ihr hatte ich vorher noch nie gesehen. Es war Angst einflößend.«
Haruka versucht gleichmäßig zu atmen, während er den schrecklichen Details aus Ninos Kindheit zuhört.
Nino steht vom Schreibtisch auf und setzt sich neben Haruka auf die Couch. »Nachdem Mutter gestorben ist, hat Vater einfach … Ich weiß auch nicht. Er ist passiv in Bezug auf mich. Ich denke, es sind Schuldgefühle? Er hat mich nie zu irgendwas gedrängt oder mich ermutigt, etwas über die Aristokratie zu lernen oder mich gesellschaftlich einzubringen. Also bin ich lieber für mich geblieben – ich hatte eine Menge Zeit mit Privatlehrern oder für mich, die ich mit der Popkultur der Menschen zugebracht habe. Aber Vater setzt Giovanni extrem unter Druck und verbietet ihm viel, was zu Reibungen zwischen G und mir führt … Und dann kommt noch mehr seltsame Spannung dazu, weil G so richtig auf Cellina steht, aber ich von ihr trinke. Also, das ist die ganze Geschichte über meine seltsame Familie!«
»Die Situation klingt in der Tat facettenreich«, sagt Haruka. »Aber vielleicht ist in jeder komplexen, emotionalen Beziehung eine gewisse … Unordnung garantiert?«
Nino lacht schnaubend. Sanft stupst er mit dem Oberschenkel gegen Harukas. »Glaubst du, wir werden auch so?«
Haruka schüttelt den Kopf. »Ich weiß es nicht.«
Nino zeigt stirnrunzelnd auf den Tisch. »Du bist jetzt schon unordentlich, also ist es vermutlich unvermeidbar. Sieh dir das an. Was machst du hier? Wo ist das bitte organisiert?«
»Das nennt man kontrolliertes Chaos.«
»Tut man nicht.« Nino schmunzelt, während er den Tisch aufräumt. »Wir müssen die Stapel ordentlich halten, nicht ›spontan‹ … Sind das Tintenflecken auf diesen Umschlägen …«
Haruka lehnt sich an ihn und legt verstohlen die Hand auf Ninos Bein, von wo aus er mit den Fingern der Wölbung seines Schenkels folgt. Er hat seine Aura überhaupt nicht benutzt, aber plötzlich ist Nino vollkommen bewegungslos und blinzelt nur noch. Haruka streicht mit der Nasenspitze an Ninos Kiefer entlang, bevor er weiter hinunterfährt und über seine Halsbeuge leckt. Ninos salzige honigfarbene Haut pulsiert warm. Haruka wünschte, er könnte erneut von ihm trinken. Aber es wäre zu früh, da er gestern Nacht erst so tief von ihm getrunken hat.
»Ich drücke Spontaneität auf vielerlei Arten aus.« Haruka küsst die Stelle, über die er gerade geleckt hat. Dann drückt er erneut die Lippen an die elegante Kurve genau unter Ninos Kiefer. Nino atmet sanft ein, als Haruka die Finger an seinem Schenkel höher wandern lässt. »Ist das hier auch inakzeptabel?«, fragt Haruka zwischen den Küssen.
Immer noch spricht Nino nicht, aber seine Augen verändern sich, fangen an strahlend gold zu leuchten. Haruka grinst zufrieden. Das hier gönnt er sich ganz bewusst. Nur für eine Weile. Er schiebt die Fingerspitzen näher an die feste Schwellung zwischen Ninos Schenkeln. »Vor wenigen Minuten bist du noch so redselig gewesen, und jetzt gar nichts mehr?«
Ein Klopfen ertönt an der Tür des Zimmers. Haruka nimmt beiläufig die Hand von Ninos Bein. Dann lehnt er sich zurück und verschränkt die Arme genau in dem Moment, als eine Bedienstete im Türbogen erscheint. Sie verbeugt sich.
»Entschuldigt, Mylords. Master Giovanni ist früher zurückgekehrt. Er wünscht, dass Ihr heute mit ihm im Porta Romana zu Abend speist. Eure Kleidung sollte semi-formal sein.«
Die Bedienstete sieht sie beide an. Nino sitzt mit den Ellbogen auf den Knien nach vorne gebeugt und reibt sich das Gesicht. Die Bedienstete hebt eine Augenbraue. »Euer Gnaden?«
»Ja, okay «, sagt Nino mit gedämpfter Stimme. »Richte ihm aus, wir haben okay gesagt.«