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Haruka hat Mailand am Sonntagnachmittag verlassen. Zu genau der Zeit hat Nino angefangen sich zu fühlen, als hätte er ein klaffendes Loch in der Brust.

Es ist Montag und Nino sitzt allein im Büro seines Bruders. Während er wartet, spielen seine Gedanken die Erinnerungen der mit Haruka verbrachten Woche wie einen Film mit rosigem Filter ab. Alles ist in weichgezeichnetes Sepia getönt.

Er kann Haruka jetzt küssen – öffentlich. Hungrig. Und ihn berühren. Er ist nackt gewesen und Haruka hat Dinge getan … andere Dinge, die seinen Körper beinahe in Schockzustand versetzt haben. Er starrt ins Leere und geht den Moment in Gedanken detailliert durch, bis sich sein Unterleib zusammenzieht.

Der Panther ist nicht scheu. Oder zimperlich.

Und trotzdem hält Haruka sich noch immer zurück. Nino kann stets seine verknotete, gedämpfte Aura tief in seinem Inneren spüren. Aber wenn sie nur noch zweimal Sex haben können, nimmt Nino an, dass er sich zurückhalten muss.

Zweimal. Denn als sie vor Harukas Abreise in einen Jazzclub in Navigli gegangen sind und Haruka noch ein letztes Mal von Nino getrunken hat, sind die Dinge ein wenig aus dem Ruder gelaufen. Ein weiterer Überraschungsangriff von Mr Spontan. Es ist großartig gewesen, aber sie waren dabei wieder einmal nicht nackt. Wenn möglich hofft Nino beim nächsten Mal auf einen Mangel an Kleidung, schließlich zählt jedes Mal in diesem Countdown ihrer körperlichen Intimität.

»Nur noch zweimal. Mein Gott.«

»Zweimal was?« Giovanni betritt den Raum, als wäre er auf einer Mission. Er sieht stilvoll, aber elegant-leger aus in maßgeschneiderten schwarzen Anzughosen und einem gemusterten Hemd und bewegt sich auf den Tisch zu. »Hat Groß, Dunkel und Kompliziert sich dir schon angeboten?«

Stirnrunzelnd entscheidet Nino die erste Frage seines Bruders zu ignorieren. »Nein.«

Giovanni hält inne, bevor er die Augenbrauen zusammenzieht. »Warum siehst du mich so an?«

»Ich warte darauf, dass du mich anbrüllst oder etwas Unhöfliches sagst.«

»Warum? Weil ich reingeplatzt bin, als du mit deinem Freund rumgemacht hast?« Er setzt sich und schmunzelt, während er auf seine Armbanduhr aus Titan sieht. »Ich werde dich nicht anbrüllen. Aber unhöflich sein vermutlich schon.«

Wie peinlich … Nino verschränkt die Arme und wappnet sich. Er hat Giovanni schließlich nicht begleitet, als dieser Haruka zu Treffen mit der Aristokratie und Gesellschaftsbesuchen mitgenommen hat. Nicht ein einziges Mal. Es wäre allerdings idealer gewesen, wenn er das getan hätte, da Haruka sein Gast war. Aber nach dem schrecklichen Dinner bei Signor Moretti hat er sich so ausgelaugt gefühlt.

Giovanni hebt das Kinn. »Wie sieht der Plan in Bezug auf Haruka aus? Rede.«

Nino atmet tief ein. »Haru kehrt in sein Reich zurück.«

»Das sollte er auch.«

»Wenn er sich eingelebt hat – vielleicht in ein paar Monaten?«, schätzt Nino. »Da habe ich vor ihn zu besuchen. Wenn es mir gefällt und wir uns einig sind, ziehe ich zu ihm.«

Stille breitet sich im Raum aus und Nino zuckt die Schultern. »Das ist der Plan.«

Giovanni sitzt nur da und starrt ihn mit verschränkten Armen aus seinen haselnussbraunen Augen an. Nino verzieht das Gesicht. »Warum sagst du gar nichts?«

»Weil ich versuche nicht zu brüllen. Ich fange mal damit an, dir zu sagen, wie überaus erfreut ich darüber bin, dass du eine tiefer gehende Beziehung zu Haruka aufgebaut hast. Er ist intelligent, geduldig und pragmatisch. Ich denke, er ist genau das, was du brauchst.«

»Danke«, sagt Nino und entspannt die Schultern, aber bleibt gewappnet. Es kommt noch mehr.

»Mir gefällt es auch, dass ihr zusammen an etwas arbeitet, das unserer Spezies hilft«, fährt Giovanni fort. »Mit deiner Bar hatte ich schon Angst, dass du irgendwann mit einem Gossen-Vampir oder einem fetischistischen Menschen ankommst und erwartest, dass ich ihn in der Familie willkommen heiße. Daher bin ich angenehm überrascht, dass du genau das Gegenteil getan hast.«

Nino wendet den Blick ab. Ich hätte sie schon nicht mit nach Hause gebracht. Mein Gott, so dumm bin ich auch nicht.

»Jetzt da das gesagt ist …« Giovanni hebt eine Augenbraue. »Dein Plan ist Scheiße. Gefällt mir nicht.«

»Warum? Er ist sinnvoll für uns. Und du weißt, dass Haru sich nicht verbinden will.«

Giovanni verdreht die Augen. »Richtig. Ich habe noch nie davon gehört, dass eine Verbindung gebrochen wurde – das ist total verrückt. Aber dein Loverboy muss über seinen Schatten springen. Du ziehst zu ihm und machst dann was genau?«

Angesichts der Befragung seines Bruders, rutscht Nino unruhig auf seinem Platz herum. »Weiß ich noch nicht. Aber ich bin in der Lage ein erfolgreiches Geschäft zu führen, G. Ich muss nur erst mal dort ankommen und sehen, wo Bedarf …«

»Während Haruka sich also mit dem geschäftigen Schwachsinn der Vampiraristokratie rumschlägt und sein ganzes Reich allein führt, eröffnest du eine Bar am anderen Ende der Stadt, damit niederrangige Vampire und Menschen dich angaffen können? Du wirst in seinem Haus wohnen, sein Essen verspeisen und ihm einen runterholen, wenn er nach Hause kommt?«

Nino lässt den Kopf hängen und muss gegen seinen Willen lachen. »Nicht … unbedingt.«

»Nino, du kannst nicht nach Japan gehen – ein neues Reich, eine neue Aristokratie mit diesem formidablen Wesen von altem Blut – und denselben Mist abziehen wie bisher. Wenn du dorthin ziehst, musst du sein gleichberechtigter Partner sein. Du musst an seiner Seite stehen und deinen Platz vor den Mitgliedern seiner Aristokratie festigen. Du kannst nicht dort hingehen, um seine verdammte Hauskatze zu sein.«

Er hat recht . Nino lehnt sich zurück und reibt sich das Gesicht. Wenn er nach Japan geht und tut, was er immer getan hat – nämlich andere hochrangige Vam pire meiden und sich vor seiner rechtmäßigen Stellung in ihrer Kultur drücken – wird er in derselben Situation enden, in der er sich jetzt befindet. Missachtet. Bemitleidet.

»Du hättest mit uns kommen sollen, als ich ihn unserer Gesellschaft vorgestellt habe …«

»Das weiß ich, G«, sagt Nino seufzend.

»Du kannst nicht zulassen, dass Arschlöcher wie Moretti dich runtermachen. Er mag älter sein, aber in der Hierarchie unserer Kultur stehst du über ihm, Nino. Du bist reinblütig . Verstehst du das eigentlich? Du bist ein makelloses, seltenes, außergewöhnliches Wesen. Es gibt Milliarden von Menschen und Millionen hochrangiger Vampire auf diesem Planeten, aber vermutlich nicht einmal tausend reinblütige. Dessen musst du dir bewusst werden und drüber nachdenken, bevor du nach Japan rüberhüpfst und mit Haruka glückliche Familie spielst.«

Das versteht Nino. Die ganze Zeit, die er in den vergangenen Monaten mit Haruka verbracht hat, hat ihm gezeigt, dass er etwas ändern muss. Dass er wachsen muss. Am Anfang haben Haruka und er sich aufgrund ihrer gemeinsamen Abneigung gegenüber aristokratischen Veranstaltungen verbunden gefühlt. Das ist die Grundlage ihrer Beziehung gewesen. Die Ironie, die sie zusammengeführt hat.

Aber Haruka hat sich langsam verändert. Der vorsichtige Einsiedler hat sich gewandelt, seinen schweren Umhang abgelegt und das Gesicht dem Sonnenlicht zugewendet.

Jetzt sieht Haruka nach hinten zu Nino und streckt die Hand nach ihm aus, als wolle er bitten: »Komm mit mir?«

Aber anstatt nach der Hand zu greifen, zögert Nino.

»Ich verstehe, was du sagst, G. Aber was soll ich denn machen? Ich kann nicht einfach wie ein Arschloch mit geschwellter Brust bei seinen Meetings und Veranstaltungen auftauchen.«

»Dann übe es«, sagt Giovanni schlicht und lässt die Aussage sacken, bevor er fortfährt. »Bleib hier und begleite mich zu Meetings und gesellschaftlichen Veranstaltungen. Niemand wird verdammt noch mal so mit dir reden wie Moretti, wenn ich dabei bin – und nebenbei bemerkt, ich habe schon mit ihm darüber gesprochen.«

Nino nickt. Er wird die Angelegenheiten mit Scotch & Amaretto regeln und mit seinen Angestellten reden müssen. Mit Mariana hat er schon wegen der Teilhaberschaft gesprochen. Mit zusätzlichen Angestellten schafft sie es definitiv, die Verantwortung für die Bar langfristig zu übernehmen.

»Und außerdem«, fährt Giovanni fort, »wirst du schon früher nach Japan gehen müssen. Nichts von ›ihn sich einleben lassen‹. Innerhalb der ersten zwei Wochen, die er zurück ist, wird jemand eine große Soiree schmeißen, um ihn zu Hause willkommen zu heißen. Ich weiß nicht, wer oder wann, aber du wirst dabei sein müssen.«

»Ich sollte nicht einfach uneingeladen auftauchen«, sagt Nino zweifelnd. »Haruka hat gesagt …«

»Nino. Haruka weiß, dass du solche Veranstaltungen hasst . Natürlich lädt er dich nicht ein. Aber es wird ein wichtiges Event sein und eine Gelegenheit, an seiner Seite zu stehen und dich zu behaupten. Was er mir so von seinem Reich erzählt hat, lässt mich darauf schließen, dass er eine Menge zu tun haben wird. Er wird froh sein, dass du da bist. Glaub mir. Wenn es so weit ist, geh hin und überrasch ihn. Zeig ihm, dass du damit zurechtkommst, sein Partner zu sein.«

Komme ich denn damit zurecht, sein Partner zu sein? Nino will mit Haruka zusammen sein. Es fühlt sich natürlicher an bei ihm zu sein als getrennt von ihm. Selbst jetzt kribbelt es unangenehm an seinem ganzen Körper und sein Inneres ist unzufrieden mit der Entfernung zwischen ihnen.

»Nimmst du meinen Vorschlag an?«, fragt Giovanni. »Wie entscheidest du dich?«

»Ich bleibe«, beschließt Nino. »Ich will nicht seine Hauskatze sein.«

Lachend steht Giovanni von seinem Schreibtisch auf. »Perfekt. Wann kommt Mama-Ente vorbei, um dich zu ernähren? Hoffentlich hört dieser Quatsch dann endlich auf. Von wem zum Teufel trinkt sie überhaupt in England? Egal. Besser, wenn ich keine Namen kenne.«

Nino schüttelt lächelnd den Kopf. »So eifersüchtig.«

Abrupt bleibt Giovanni stehen, sein Lächeln verschwindet und er hebt die Stimme. »Willst du, dass ich dich verdammt noch mal anbrülle?«

»Nein .« Hastig erhebt Nino sich von der Couch und verlässt das Arbeitszimmer.