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Als Nino abends auf dem weitläufigen Anwesen ankommt, das tief zwischen den sanften Hügeln des Berges Seppiko in Himeji versteckt liegt, dämmert es bereits. Die untergehende Sonne taucht den teils von Wolken bedeckten Himmel in zarte Rosa- und kräftige Orangetöne, sodass er wie ein Aquarell wirkt.

Das Haus vor ihm hat ein gepflegtes und modernes Design mit starken Einflüssen der traditionellen japanischen Architektur. Offene Veranden, eine Verkleidung aus Holz und papierne Schiebetüren. In einigen Bereichen des Hauses bestehen ganze Wände aus klarem Glas, sodass die majestätische Sicht auf den umliegenden Wald und die Berggipfel wie auf einer Landschaftsmalerei präsentiert werden.

Nino wird an der Seite des Hauses entlang in den hinteren Teil des Anwesens geführt. Er folgt einem Bediensteten in einem formellen Kimono durch einen gewundenen Weg aus sehr hohem Bambus – leuchtend grün wächst er geradewegs hoch in den dämmrigen Himmel. Der Boden ist elegant mit sanft leuchtenden weißen Laternen gesäumt und die einzigen wahrnehmbaren Laute sind ihre Schritte auf dem Steinpfad. Irgendetwas an dem Weg fühlt sich übernatürlich an, als wäre Nino der tapfere Protagonist einer wunderlichen Volkserzählung über Yōkai und Tengu.

Nervös zupft er an der schwarzen Seidenfliege um seinen Hals. In dem Smoking fühlt er sich steif und unwohl. Er hat Haruka nicht erzählt, dass er herkommt, aber durch ihre angeborene Fähigkeit, andere Reinblüter zu spüren, wird er es jetzt wissen.

Giovanni hat Nino geraten einfach hinzugehen und Haruka zu überraschen. Nino ist dem Rat seines Bruders gefolgt, hat aber dennoch seine Zweifel. Vor allem deshalb, weil Haruka in den letzten vierundzwanzig Stunden nur bedingt auf seine Textnachrichten reagiert hat. Nino versteht nicht, warum Haruka plötzlich distanziert ist. Sein Bericht zu Yunas Besuch ist ebenfalls entsetzlich vage gewesen.

Aber was auch immer der Grund dafür ist, Nino ist jetzt hier. Es gibt kein Zurück mehr.

Der bambusgesäumte Weg mündet in einen weitläufigen Garten. Reihen aus Kirschbäumen, an denen Blüten in dunklem Rosa blühen, umgeben den Bereich. Auf der schwarzen Oberfläche des großen Koiteichs reflektiert das gelbe Licht der hängenden Laternen wie Glitzer. Auf dem wunderschönen Gelände befinden sich einige Vampire. Der Bedienstete, der Nino eskortiert, verbeugt sich und zeigt auf eine schmale Bogenbrücke, die er überqueren muss, um sich den Festivitäten anzuschließen.

Nino nickt dankend, bevor er über die Brücke geht. Er kann Haruka in der Menge und dem gesellschaftlichen Durcheinander riechen, sein Körper wird durch eine unerklärbare Kraft innerlich von ihm angezogen. Wie ein Magnet oder die Schwerkraft. Die Vampire treten zur Seite und verbeugen sich höflich, aber beobachten Nino, während er den Weg zu seinem Ziel beschreitet.

Als die Menge sich teilt und er besagtes Ziel endlich vor Augen hat, sieht Haruka ihm direkt entgegen. Ohne zu blinzeln. In einem mitternachtsblauen Kimono sieht er geradezu königlich aus. Der wollene Überwurf, den er über die Schultern drapiert hat, ist von derselben satten Farbe, aber der breite Gürtel um seine Robe ist von einem dunklen Silber. Die ganze Aufmachung erweckt den Eindruck, er sei ein dunkles himmlisches Wesen – ein Gott des Nachthimmels.

Nino nähert sich ihm. Bewegungslos beobachtet Haruka ihn. Es steht je ein Vampir zu beiden Seiten: eine ältere Frau der Zweiten Generation und ein jüngerer, sehr großer Mann der Ersten Generation mit glatter brauner Haut in der Farbe von Mandelbutter. Das weiße Haar der Dame ist aufwendig hochgesteckt und sie trägt ebenfalls eine formelle Robe. Der Mann ist jung, scheint aber etwas älter zu sein als Haruka. Er sieht stilvoll aus in einem gewagten perfekt sitzenden Anzug in dunklem Petrol, der sich von seinem dunklen lockigen Haar und den onyxfarbenen Augen absetzt.

Beide verbeugen sich, als Nino genau vor Haruka zum Stehen kommt. Er erwidert die Geste höflich, aber den Blick hat er auf den stattlichen Reinblüter gerichtet.

Dieser blinzelt perplex. »Du … bist früher hier.« Nino kann Harukas Gesichtsausdruck nicht deuten und weiß daher nicht, ob er sich darüber freut. Aber er wird sofort von seinem körperlichen Zustand abgelenkt. Seine Augen sind braun anstelle des leuchtenden Weinrots, an das Nino sich gewöhnt hat und das er so verehrt. Und seine Haut hat einen aschfahlen Grauton. Nino verzieht besorgt die Miene.

Die weißhaarige ältere Dame dreht sich zu Haruka, die Verwirrung steht ihr ins Gesicht geschrieben, während sie auf Japanisch fragt: »Mein Herr, wer ist dieser bezaubernde junge Mann?«

»Sumimasen, nihongo ga hanasemasu.« Lächelnd verbeugt Nino sich. »Watashi no namae wa Nino Bianchi desu. Hajimemashite.«

Überrascht schreckt sie zurück, aber ihr Ausdruck ist jetzt ein wenig heiterer. »Entschuldigt, Euer Gnaden. Ich bin Aoi Shimamoto.«

»Eine Entschuldigung ist nicht nötig«, versichert Nino ihr, bevor er sich an Haruka wendet. »Haruka, könnte ich kurz allein mit dir sprechen?«

»Wenn Ihr dort entlang geht …« Der große Mann zeigt nach rechts. »Es ist waldig, aber ruhig. Ich habe vorhin telefonieren müssen. Willkommen in Japan, Nino. Ich bin Junichi Takayama.«

Dankend nickt Nino. »Freut mich Euch kennenzulernen, Junichi. Vielen Dank.« Er streckt die Hand aus und Haruka nimmt sie, ohne zu zögern. Er folgt Nino zu dem Bereich, auf den Junichi gezeigt hat. Als sie die dichte Menge hinter sich gelassen haben und um eine Biegung auf das Haus zugehen, wirft Nino Haruka einen Blick zu. »Warum sagst du nichts?«

»Ich … Ich habe dich hier nicht erwartet. Für die letzten dreißig Minuten haben ich zwar deine Präsenz gespürt, aber ich dachte, ich muss halluzinieren.«

Als sie die Biegung genommen haben und außer Sichtweite der Gäste sind, wendet Nino sich ihm direkt zu. Der Himmel ist jetzt dunkel. Der Mond steht hoch. Und das Zirpen von Grillen und Heuschrecken hallt durch den dichten Wald, der sie umgibt.

»Nun«, sagt Nino mit heftig schlagendem Herzen, »du halluzinierst nicht. Bist du verärgert darüber, dass ich hier bin?«

Haruka tritt auf ihn zu und legt ihm die Arme um den Hals. »Nein . Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich darüber freue. Es fühlt sich an, als würde ich träumen.«

Nino schmiegt die Arme um Harukas Taille und entspannt sich in der Umarmung. Saugt Haruka in sich auf. Er fühlt sich so gut in seinen Armen an und wieder bei ihm zu sein fühlt sich einfach richtig an. Seit Harukas letzter Nacht in Mailand vor einigen Wochen sind sie nicht mehr so nah beieinander gewesen. Die Natur tief in seinem Inneren schnurrt und windet sich angesichts Harukas Nähe, und verursacht ein Ziehen in seinen Lenden. Er schließt die Augen, während sie einander einfach halten. Dann lässt er die Hände an Harukas Rücken hochwandern, unter seinen Überwurf. »Ich bin nur froh, dass du mir nicht böse bist, weil ich in deine Party geplatzt bin.«

Haruka hebt den Kopf und sieht Nino mit seinen braunen Augen direkt ins Gesicht. Er fährt mit den Händen durch die Haare an Ninos Hinterkopf. Seine tiefe Stimme ist ruhig. »Ich könnte nie verärgert über dich sein. Ich liebe dich.«

Da zieht Nino scharf die Luft ein, bevor Haruka die Lippen auf seine drückt, um ihn zu küssen. Sein Herz hüpft bis in seine Kehle und er gibt umgehend nach, öffnet die Lippen, während er Haruka noch fester an seinen Körper drückt.

Er liebt mich.

Sie haben darum herumgetanzt. Wie in einem Walzer. Nino hat es einmal fast gesagt – hat es indirekt gesagt. Aber jetzt ist es so weit. Ganz einfach. Mit der Zunge erforscht Haruka die Tiefen von Ninos Mund, die Leidenschaft seiner Bewegungen ist durch die Offenheit seines Geständnisses verstärkt. Nino passt die Bewegungen seines Mundes dem Rhythmus an, aber die Wärme, die seine Brust durchflutet, lässt ihn kaum zu Atem kommen. Jetzt fühlt er sich, als würde er träumen – er hat Angst, dass er aufwacht und wieder zurück in seine alte, unsichere Realität gezogen wird.

Aber das hier ist real. Wird durch Harukas tiefes gehauchtes Stöhnen an Ninos Mund bekräftigt. Sein rosiger Duft verbreitet sich und überwältigt Ninos Sinne wie ein köstlicher, süßer Likör. Nino bewegt sich auf einen euphorischen Zustand absoluter Besinnungslosigkeit zu, als er schwach wahrnimmt, wie Haruka die Hand zwischen ihnen an der Länge von Ninos Körpers hinunterwandern lässt.

Die langen Finger streifen an der Anzughose entlang über die Rundung von Ninos Schaft. Dann drückt Haruka einmal sanft, aber bestimmt zu und Nino hebt abrupt und atemlos den Kopf. Panisch.

»Haru, wir … wir sind in der Öffentlichkeit

»Streng genommen nicht«, sagt Haruka gleichgültig und küsst weiter Ninos Kiefer entlang. Seine Finger hören ebenfalls nicht auf zu erkunden und zu greifen. Immer tiefer. Bis Nino zwischen sie reicht und sanft Harukas Handgelenk nimmt.

»Hör auf .« Er lacht angespannt, während er die Hüfte wegzieht. Überrascht ist er allerdings nicht, da Haruka in der Vergangenheit bereits ein ähnliches Verhalten an den Tag gelegt hat. Ein Date – an ihrem letzten gemeinsamen Abend in Mailand. Haruka entfaltet sich zunehmend und öffnet sich wie eine sinnliche Rose. Und der Blume ganz ähnlich, lässt er sich von Publikum nicht abschrecken.

Aber das hier ist Ninos erste aristokratische Veranstaltung in Japan und er hat sich seit einem Monat darauf vorbereitet. Das Letzte, was er gebrauchen kann, ist, dass jemand um die Ecke kommt und sie beim Rummachen erwischt. »Haruka, warum siehst du so aus

Haruka blinzelt, sein Ausdruck wird weicher. »Du … findest mich unattraktiv?«

»Nein.« Fassungslos schüttelt Nino den Kopf. »Das ist nicht  … Ich meine, deine Augen sind blass und dein Hautton ist fahl. Du hast doch gesagt, du hast eine hochrangige Quelle gefunden?«

»Habe ich auch«, sagt er. »Meine Gesundheit ist zugegeben nicht auf optimalem Stand, aber ich habe keine Schmerzen. Alles ist in Ordnung.«

Nino greift an seine Fliege und öffnet sie. Dann knöpft er seinen Hemdkragen auf. »Ist es nicht. Falls jemand dich herausfordern sollte, könntest du dich nicht mal richtig verteidigen. Ich fühle mich nicht wohl dabei, wenn du so rumläufst. Trink, bitte.«

Nino hebt das Kinn und ermutigt Haruka, etwas von ihm zu nehmen. Aber der schöne Vampir starrt ihn einfach nur an. Dann hebt er die Hände und legt sie an Ninos Wangen, um seinen Kopf zu sich zu drehen. »Ich verstehe nicht, warum du mir so viel selbstlose Freundlichkeit entgegenbringst, wenn das noch nie jemand für mich getan hat.«

Nino beugt sich vor und lehnt die Stirn an Harukas. »Weil ich dich auch liebe, Haru. Und das macht Liebe aus … Asao ist freundlich zu dir? Du bist ihm wichtig.«

»Ich bezahle ihn.«

Nino lacht. Er ist sich nicht vollkommen sicher, aber selbst wenn Haruka ihn nicht bezahlen würde, der ältere Vampir empfindet seinem jungen Master gegenüber offensichtliche Zuneigung. Nino hebt das Kinn und drückt die Lippen auf das Muttermal neben Harukas Nasenrücken. Haruka wiederum verzieht das Gesicht und lehnt sich etwas nach hinten. »Warum küsst du immer das Mal in meinem Gesicht?«

»Ich mag es.«

»Es ist eine Anomalie.«

»Ich finde es süß.« Nino grinst und küsst die Stelle noch einmal. »Trinkst du jetzt?«

In gespielter Verärgerung hebt Haruka die Nase, bevor er schnell das Kinn reckt, um einen Kuss auf Ninos Lippen zu drücken. Dann beugt er sich zu seinem Hals hinunter, greift die Hemdaufschläge und leckt über seine Haut. Sanft beißt er zu.

Er liebt mich.

Haruka saugt nicht stark genug, um Nino die Aura zu entziehen. Stattdessen lässt er die wunderbarsten Gefühle in ihn fließen. Liebe und Vertrauen – Dankbarkeit tropft langsam in sein Inneres wie warmer Schokoladensirup. Die Empfindung ist überwältigend, sie rührt Ninos Emotionen und lässt sie sprudelnd an seiner Wirbelsäule aufsteigen. Das Gesicht dem Nachthimmel zugewandt schließt er die tränenden Augen. Angesichts des Hochgefühls könnte er die Arme heben und einfach davonfliegen.

Als Haruka fertig ist, leckt er noch einmal über Ninos Hals, bevor er mit den eleganten Fingern sein Hemd zuknöpft. Nino senkt den Kopf und versucht noch immer zu Atem zu kommen. Harukas Augen glühen leuchtend rot, während er alles zurechtrückt. Kurz wirft er einen Blick hoch zu Nino, bevor er sich wieder auf die Fliege konzentriert. »Du siehst heute Abend vorzüglich aus.«

»Grazie.« Nino lächelt.

»Falls du es mir gestattest, würde ich dich gern ausziehen, wenn wir wieder zu Hause sind.«

Ninos ganzer Körper versteift sich – sein stiller Versuch sich zu beruhigen zunichtegemacht. Er zieht die Augenbrauen zusammen. »Wenn du so weitermachst, weiß ich nicht, wie ich den Rest dieser Party überstehen soll.« Er sieht hinunter und begutachtet das dicke, herrliche Material von Harukas Kimono. Es ist makellos entworfen und aus teuer aussehendem Stoff. Er glänzt beinahe im Mondlicht. »Du siehst darin unglaublich aus, Haru. Es steht dir hervorragend … Ich wüsste nicht mal, wie ich ihn dir ausziehen sollte.«

Die Fliege ist gerichtet und Haruka greift nach Ninos Hand. »Ich werde es dir zeigen.«

Es ist so weit. Das eine von den zwei Malen. Nino atmet tief durch. Aber egal was er macht, sein Herzschlag will sich nicht beruhigen – seine Essenz nicht aufhören sich zu winden.

Haruka liebt ihn. Heißt das, er könnte seine Meinung zu einer Verbindung ändern? Wäre er einem gezielten Versuch zwischen ihnen gegenüber offen?

Nino schiebt ihre Hände so, dass die Finger miteinander verschränkt sind. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Vielleicht versucht er später mit ihm darüber zu reden, das Thema vorsichtig anzuschneiden. Aber heute Abend genießt er erst einmal das Wiedersehen mit diesem atemberaubenden Vampir. »Sollen wir zurückgehen?«

»Ja«, antwortet Haruka. »Wäre es dir genehm, wenn ich dich offiziell vorstelle?«

»Das würde mir sehr gefallen.«

Sie machen kehrt und gehen Hand in Hand um die Biegung des großen Anwesens. Als der überfüllte Garten wieder in Sicht ist, kommt eine junge Vampirin auf sie zu. Sie ist zierlich gebaut und in einen gemusterten hellblauen Kimono gekleidet. Sie ist hübsch, aber als sie näherkommt, ist irgendetwas Verstörendes in ihren Augen zu erkennen.