9 Milliardäre machen Politik

Für die meisten Menschen ist ihr Eigentum überschaubar: ein paar Möbel, ein Auto, vielleicht ein kleines Haus und ein Bankkonto mit Ersparnissen – das war’s. Der nagelneue Porsche 911, der den eigenen Opel Corsa auf der Autobahn überholt und anschließend sehr schnell am Horizont verschwindet, gehört aus dieser Perspektive einem Menschen, der mutmaßlich sehr reich ist, zumindest so vermögend, wie man es selbst, auch mit Glück, wohl nie sein wird.

Doch wie reich ist eigentlich reich? Man könnte den Faden weiter spinnen: Der Porsche-Fahrer, vielleicht ein erfolgreicher Orthopäde mit eigener Praxis, hat für den Wagen 100 000 Euro hingeblättert – als Millionär kann er sich das leisten. Wenn er sich am Ende seiner Fahrt durch den Stau in der Innenstadt gekämpft hat und das Auto auf dem Tiefgaragenstellplatz parkt, der zu seiner teuren Penthouse-Wohnung gehört, ertappt er sich vielleicht dabei, mit einer Spur von Neid an seine Vermieterin zu denken. Der gehört nämlich das ganze zwanzigstöckige Hochhaus. Der Porsche-Fahrer fühlt sich beim Gedanken daran sehr klein in seinem bordeauxfarbenen Ledersitz (für den er 4 000 Euro Aufpreis gezahlt hat) und gar nicht so reich. Schließlich hat die Vermieterin, wie in der Zeitung zu lesen war, mit Immobiliengeschäften ein privates Vermögen von über 50 Millionen Euro angehäuft. Damit gehört sie zu den reichsten Bürgern der Stadt. Sie ist mit dem Bürgermeister befreundet, kennt auch den Fraktionschef der Regierungspartei im Landtag, der, wie man munkelt, ein Studienfreund ihres Mannes ist. Ihn, den Porsche fahrenden Orthopäden hingegen, grüßt sie kaum. Hin und wieder spendet sie Geld, nimmt Einfluss, steht jedenfalls, so viel ist sicher, ganz oben an der Spitze der Gesellschaft. Sie ist superreich.

Die 50-Millionen-Frau selbst nimmt das wiederum ganz anders wahr. Finanzielle Sorgen hat sie keine, die Geschäfte laufen gut. Doch die Spitze der Geldelite, die wirklich Mächtigen, kennt auch sie nur aus der Ferne. Der Besitzer des Immobilienfonds zum Beispiel, der gerade plant, ihre Firma zu übernehmen, ist Milliardär und damit zwanzigmal so reich wie sie selbst. Sein Vermögen – Unternehmensanteile und Immobilien – hat er zum größten Teil vom Vater geerbt. Der Fondsbesitzer bewegt sich in einer ganz anderen Liga. Weder besucht er den Bürgermeister, noch trifft er überhaupt Politiker, allenfalls mal den Außenminister am Rande einer Wohltätigkeitsveranstaltung, die der Lobbyverein veranstaltet, den er finanziert. Die nötigen Kontakte zur Regierung regelt für ihn ein Mitarbeiter, der früher Abteilungsleiter im Kanzleramt war. Natürlich teilt der Fondsbesitzer auch mit anderen, spendet für das Krankenhaus und fühlt sich verantwortlich für die Gesellschaft. Im letzten Jahr etwa hat er, aus alter Verbundenheit, an der Universität seiner Heimatstadt eine Professur für Wirtschaftswissenschaften gestiftet. Hier wird nun in seinem Sinne geforscht. Ansonsten ist er viel unterwegs, meist in seinem Privatjet. Von dort oben wirkt die Welt sehr klein. Manchmal überquert sein Flugzeug eine Autobahn, auf der die Fahrzeuge wie kleine Käfer erscheinen, die sich mühsam vorwärts bewegen. Aus der Distanz ist es unmöglich, einen Porsche von einem Opel zu unterscheiden. Die Menschen da unten sind einfach zu weit weg …

Dieses kleine Gedankenspiel soll eines illustrieren: Wenn in diesem Buch von Eigentümern die Rede ist, dann ist damit nicht der Besitzer des Opel Corsa gemeint und auch nicht der Porsche fahrende Orthopäde. Es geht um die Leute, denen die Hochhäuser gehören, und um die Überflieger in den Privatjets. Denn deren Eigentum ist nicht mehr bloß Luxus und großzügiger Lebensstil, sondern politische Macht, die, je näher sie der Spitze steht, alle übrigen verfassungsmäßigen Gewalten – Regierung, Parlament, Justiz – zunehmend überragt. Besitz und Sozialkapital, – also der materielle Wert der menschlichen Beziehungen, die jemand pflegt, – ermöglichen derart reichen Menschen einen gesellschaftlichen Einfluss, der Demokratie zu einer naiven Illusion macht.

Das Geld allein lenkt dabei noch keine Politik. Man benötigt Zugang in die etablierten Kreise und muss dort akzeptiert werden. So ist Donald Trump zwar bekanntermaßen ein äußerst reicher Mann, wird aber vom größeren Teil der Elite weder gemocht noch toleriert, weshalb deren Netzwerke ihm auch nicht zur Verfügung stehen. Umgekehrt gilt: Wenn ein Prominenter – wie etwa ZDF-Moderator Claus Kleber oder FDP-Chef Christian Lindner1 – über gute Beziehungen zu den Eliten verfügt, selbst aber ohne ähnlich hohes Vermögen ist, dann mag er in deren Kreisen zwar als Gast akzeptiert werden, mehr aber auch nicht. Man befindet sich keinesfalls auf Augenhöhe. Selbst wenn Hillary Clinton mit Vortragshonoraren einen zweistelligen Millionenbetrag auf ihrem Konto angehäuft hat (was ihr tatsächlich gelungen ist)2, dann bleibt das doch lächerlich gering im Vergleich zum Besitz von Milliardären wie George Soros, auf deren Rückhalt sie weiterhin angewiesen ist – und die ihr diese Honorare indirekt überhaupt erst zukommen ließen.

Auch aus den Medien bekannte Konzernmanager wie Dieter Zetsche (Daimler) oder Joe Kaeser (Siemens) mit ihren gigantisch anmutenden Jahreseinkommen um die zehn Millionen Euro sind tatsächlich bloß gut bezahlte Verwalter des Eigentums der wirklich Reichen. Diese tauchen nicht im Fernsehen auf, und die Öffentlichkeit kennt kaum ihre Namen, abgesehen von Promis wie Bill Gates oder Mark Zuckerberg. Wird über sie doch einmal berichtet, dann meist im Zusammenhang mit großzügigen Spenden. In der medialen Wahrnehmung sind Milliardäre geisterhafte Wesen, die seltsam losgelöst von allem erscheinen und fast wie Märchenfiguren absichtslos und surreal über der Welt schweben. Doch dieser Eindruck täuscht: Keiner von ihnen handelt ohne Plan, und niemand ist so gut vernetzt wie die Milliardäre, bei denen schließlich alle finanziellen Fäden zusammenlaufen.

Wenig ist transparent in ihrer Welt.3 Man weiß, dass sie mit ihren Milliarden gern Stiftungen gründen, um Steuern zu sparen und ihren Familien über den Tod hinaus Macht und Einfluss zu sichern. Derzeit existieren allein in USA mehr als fünfzig private Stiftungen reicher Familien und Firmen, die über so hohe Einnahmen verfügen, dass jede einzelne von ihnen mehr als 100 Millionen Dollar verteilen kann – wohlgemerkt: pro Jahr.4 Mit diesem Geld werden nicht nur wohltätige Initiativen gefördert, sondern auch sehr konkrete politische Ziele verfolgt.

Eine der international mächtigsten Stiftungen, die Rockefeller Foundation, existiert seit 1913 und verfügt über ein Vermögen von mehreren Milliarden Dollar. Der Gründer John D. Rockefeller war seinerzeit der reichste Mensch der Welt. Sein Enkel David (1915–2017) galt als einer der politisch bestvernetzten Banker in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Von 1950 bis 1985 gehörte er zur Führungsebene des Council on Foreign Relations, einer außenpolitischen Lobbygruppe. Er zählte den CIA-Gründer Allen Dulles zu seinen Vertrauten und verhalf unter anderem dem späteren Außenminister Henry Kissinger zum Aufstieg.

Der Einfluss der Rockefeller Foundation in den vergangenen hundert Jahren ist kaum zu ermessen. Im 4. Kapitel wurde bereits geschildert, wie die Stiftung gemeinsam mit der Ford Foundation ab 1948 verdeckt die Programme für eine europäische Einigung finanzierte, aus denen später die EU hervorging. Ziel war es damals, Westeuropa gegenüber dem sowjetischen Kommunismus fest zusammenzuschweißen. Moskau stellte das Privateigentum infrage und damit den Kern der Macht von Familien wie Rockefeller oder Ford. In den 1960er Jahren, während der Hochphase des Kalten Kriegs, ernannte der frisch zum US-Präsidenten gewählte Hoffnungsträger John F. Kennedy den Chef der Rockefeller Foundation zu seinem Außenminister.5

Die Stiftung wurde aber schon früher politisch aktiv. Von 1939 bis 1945 finanzierte sie die »War and Peace Studies« des Council on Foreign Relations. Dabei handelte es sich um grundlegende Planungen für die Nachkriegszeit. Schon im September 1939, unmittelbar nachdem Deutschland den Krieg in Europa begonnen hatte, starteten die Beratungen dazu in Washington.6 Der Council bildete zügig mehrere Arbeitsgruppen, etwa einhundert Planer waren beteiligt, alles in enger Abstimmung mit dem Außenministerium, das allerdings eher eine unterstützende als eine führende Rolle spielte.7

Zunächst ging es um die Frage, ob die USA sich aus dem Krieg heraushalten und autark bleiben konnten, ob also ein von Deutschland dominiertes Europa und ein von Japan beherrschtes Südostasien ohne größere Gewinneinbußen für die amerikanische Elite hinnehmbar wären. Nach gründlicher Prüfung der Handelsbilanzen kam man zum Ergebnis, dies sei nicht der Fall. Dem Council zufolge – der die Wall Street und überhaupt das finanzielle und industrielle Establishment der USA vertrat – benötigte man weiterhin Großbritannien als Absatzmarkt für die eigenen Produkte sowie außerdem den pazifischen Raum als Rohstoffquelle und Absatzmarkt. Daraus ergab sich für die Planer die Notwendigkeit, den expandierenden Imperien Deutschland und Japan militärisch entgegenzutreten. Die amerikanische Kriegsstrategie und überhaupt die politischen Ziele der USA wurden dabei ab 1940 wesentlich vom privaten Council on Foreign Relations formuliert, in einem aufwendigen Projekt, das – es sei noch einmal betont – die Stiftung der Milliardärsfamilie Rockefeller finanzierte. Im Rahmen dieser Planungen kamen 1941 und 1942 auch die ersten Ideen für einen zu schaffenden internationalen Währungsfonds und eine Weltbank zur Sprache, also genau diejenige Weltfinanzordnung unter amerikanischer Führung, die nach dem Zweiten Weltkrieg Realität wurde.8

Den Council-Planern ging es in diesem Krieg nicht zuerst um eine Befreiung Europas vom Faschismus oder eine Demokratisierung Südostasiens – die zwar manchem wünschenswert erschienen, aber kaum den Aufwand und die Kosten eines großen Krieges rechtfertigten –, es ging ihnen vielmehr darum, in Konkurrenz zu den anderen aufstrebenden Großmächten Deutschland und Japan das britische Weltreich zu beerben und eine Führungsrolle in der Welt zu übernehmen. Intern wurde das auch offen so formuliert.9 Das Problem dabei lag auf der Hand: Um das eigene Volk für den Krieg zu begeistern und auch im Ausland öffentliche Unterstützung zu bekommen, musste man moralischer argumentieren. In einem Papier der Council-Arbeitsgruppe vom April 1941 hieß es dazu sehr klar:

»Wenn Kriegsziele erklärt werden, die nur im Sinne des anglo-amerikanischen Imperialismus zu sein scheinen, werden sie den Menschen im Rest der Welt wenig bedeuten und auch angreifbar sein für Gegenversprechungen der Nazis. Solche Ziele würden außerdem die reaktionärsten Kräfte in den USA und im britischen Empire stärken. Es sollten die Interessen anderer Völker betont werden, nicht nur der Europäer, sondern auch der Asiaten, Afrikaner und Lateinamerikaner. Das würde eine bessere Propagandawirkung entfalten.«10

Und so wurde fortan behauptet, die USA handelten im Interesse »der freien Welt« und damit letztlich aller Menschen, genau so, wie man es auch aus den diversen Kriegsbegründungen der Gegenwart kennt, von Afghanistan und Irak bis Libyen und Syrien. Das ist auch deshalb von Belang, da mit Blick auf den Kampf gegen die Nazis bis heute argumentiert wird, dass Kriege manchmal unvermeidlich seien. »Hätten die Amerikaner damals etwa Hitler gewähren lassen sollen?«, wird dann gefragt und im selben Atemzug geantwortet, dass dieser Krieg eben nötig und gerecht war, so wie andere Kriege auch, wenn denn ein »verrückter Diktator« gestürzt und ein Volk befreit werden müsse.

Der Haken daran: Wer so argumentiert, der verwechselt die moralische Fassade einer Kriegsbegründung mit ihrem wahren Kern. Die protokollierten internen Beratungen in den Gremien des Council on Foreign Relations und des US-Außenministeriums zeigen klar, dass man Hitler sehr wohl hätte gewähren lassen, wenn denn die wirtschaftlichen Kennzahlen aus Sicht der Wall Street passend gewesen wären und die US-Elite neben einem großem Nazi-Reich noch genügend »Ellenbogenfreiheit« (ein Originalbegriff aus den Council-Beratungen) für sich gesehen hätte, um auch ihre eigenen Interessen durchzusetzen.11 Der Kriegseintritt wurde für Amerika erst durch die Maßlosigkeit der deutschen und der japanischen Expansion nötig, welche die eigene wirtschaftliche Ausdehnung in der Zukunft zu sehr behindert hätte – so die Analyse der Planer.

Der Zweite Weltkrieg erscheint in diesem Licht als Konkurrenzkampf zwischen Eigentümereliten verschiedener Nationen, der den jeweiligen Völkern auf allen Seiten als hochmoralische Notwendigkeit verkauft wurde, in dem die politischen Kriegsziele aber sowohl in den USA wie auch in Deutschland von kleinen privaten Gruppen aus der Oberschicht bestimmt wurden.

In der Biografie einzelner Menschen fokussiert sich der Einfluss solcher Kreise wie in einem Brennglas. Einer der engsten Vertrauten und führenden politischen Vertreter der Interessen der Rockefeller-Familie war der aus einfachen Verhältnissen stammende John McCloy (1895–1989). Als junger Jura-Student brachte er in den 1920er Jahren den Rockefeller-Kindern das Segeln bei, hielt später als Wall-Street-Anwalt enge Kontakte nach Europa, wechselte im Zweiten Weltkrieg in die US-Regierung, wurde danach Präsident der neugegründeten Weltbank und amtierte von 1949 bis 1952 als amerikanischer Hochkommissar und damit mächtigste Person im besetzten Westdeutschland. McCloy stand in dieser Zeit faktisch über Bundeskanzler Adenauer.

Die vom Nürnberger Kriegsverbrechertribunal bereits verurteilten deutschen Großindustriellen Friedrich Flick und Alfried Krupp, die zur gleichen Oberschicht wie Rockefeller gehörten, begnadigte McCloy 1951. Er setzte ebenfalls durch, dass beide ihr beschlagnahmtes Firmenvermögen zurückerhielten. Auch Hitlers Finanzminister Graf Schwerin von Krosigk – Großvater der heutigen AfD-Politikerin Beatrix von Storch – begnadigte er, ebenso den Nazi-Diplomaten Ernst von Weizsäcker, Vater des späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Eine Elite schützte die andere.

McCloy wurde danach zum Vorsitzenden der Ford Foundation berufen, dann Chef von Rockefellers Chase Manhattan Bank. Schließlich wechselte er in den Vorstand des Council on Foreign Relations und gründete nebenbei den Lobbyverband Atlantik-Brücke. Deutlich wird bei der Betrachtung einer solchen Karriere, wie der ganze internationale diplomatische Apparat auf die Interessen einzelner Bankiers und Milliardäre zugeschnitten ist und dass deren verschiedene politische Institutionen wie gut geschmierte Zahnräder ineinander greifen.

Das betrifft nicht bloß die USA. In Deutschland arbeitet seit vierzig Jahren die Bertelsmann Stiftung, die zwar keine Kriege plant, mit ihren Millionen aber ebenfalls massiv Politik betreibt. Die Stiftung (Slogan: »Menschen bewegen. Zukunft gestalten«)12 ist Haupteigentümer des Bertelsmann-Konzerns, eines der größten Medienunternehmen der Welt. Zum Konzern gehören die Fernsehsender RTL, n-tv, VOX, die weltgrößte Verlagsgruppe Random House (250 Verlage), der Zeitschriftenverlag Gruner & Jahr (Stern, Geo, Brigitte, 25 Prozent des Spiegel-Verlags) sowie der Dienstleister Arvato, der mit seinen annähernd 70 000 Mitarbeitern unter anderem Callcenter betreibt und über ein 600-köpfiges Team verfügt, das im Auftrag von Facebook alles löscht, was dem Netzwerk unpassend erscheint (siehe Kapitel 3). Bertelsmann ist einer der mächtigsten Medienmacher und gehört nach Mitarbeiterzahl zu den zwanzig führenden Unternehmen Deutschlands.

Aus steuerlichen Gründen wurde der größte Teil des Konzerns vor vierzig Jahren in eine Stiftung überführt, die seither auf vielen Feldern versucht, die politischen Vorstellungen ihres 2009 verstorbenen Chefs Reinhard Mohn durchzusetzen. Ähnlich wie die Rockefeller Foundation verschaffte man sich Einfluss nicht nur durch Geld, sondern auch durch kluge Personalpolitik. In den 1980er Jahren engagierte Mohn den vormaligen CDU-Generalsekretär Kurt Biedenkopf als Chef des Stiftungsbeirats. Horst Teltschik, einer der engsten Vertrauten von Bundeskanzler Helmut Kohl, wechselte nach seiner Zeit im Kanzleramt Anfang der 1990er Jahre direkt als Geschäftsführer zur Stiftung. Gerhard Schröder wiederum lobte wenige Tage nach seiner Wahl zum Bundeskanzler im Oktober 1998 auf einem Bertelsmann-Kongress: »Das Land wäre ohne die gemeinsinnorientierte Politikberatung der Bertelsmann Stiftung ärmer.«13

Teil dieser »Politikberatung« war eine intensive Lobbyarbeit für den Umbau des Sozialstaats. Schröders Hartz-IV-Reformen wurden wesentlich von Bertelsmann vorbereitet und begleitet.14 Der Kanzler beauftragte 1998 im Rahmen seines »Bündnisses für Arbeit« eine sogenannte Arbeitsgruppe Benchmarking, welche die Sozialsysteme verschiedener Länder vergleichen sollte. Ihr im Jahr 2001 veröffentlichter Bericht »Benchmarking Deutschland«, der im Stil einer Unternehmensberatung wesentliche Forderungen der Konzerne (flexiblere Arbeitszeiten, weniger Kündigungsschutz, Ausbau der Leiharbeit, weniger Unternehmenssteuern) als objektive Empfehlungen präsentierte, wurde zur Grundlage der Agenda 2010.15

Der Denkansatz war simpel: Man behandelte das Land wie einen Sitzenbleiber, der keine optimalen Leistungen erbringt und sich daher doch bitte an den Musterschülern, also »fortschrittlicheren« Ländern orientieren soll. Der Haken dabei: Die Maßstäbe dieser Beurteilung wurden nicht debattiert, sie standen schon fest. Man handelte im Geist des populären Slogans »sozial ist, was Arbeit schafft« (der schon in den 1930er Jahren von der Deutschnationalen Volkspartei verwendet worden war).16 Das hieß: »überflüssige« Regulierungen abbauen oder »flexibilisieren«. Was gut ist für Unternehmer, das nützt auch dem Land. Hinter dieser Denkweise verbarg sich eine Unfähigkeit (oder Unwilligkeit), die Bedürfnisse anderer zu erkennen, sofern sie den eigenen zuwiderlaufen – man könnte sagen, eine Art von Autismus auf höchster Ebene.

An der langwierigen Diskussion und Abfassung des Berichts waren ständig fünf Mitarbeiter der Bertelsmann Stiftung beteiligt. Einer – mit dem passenden Namen Dr. Profit – wechselte währenddessen sogar offiziell ins Arbeitsministerium unter Walter Riester.17 Auch ein wesentlicher Teil der Finanzierung der Studie kam von Bertelsmann. Der Wirtschaftsprofessor Günther Schmidt, ein Mitglied der Hartz-Kommission, meinte später: »Der Einfluss der Bertelsmann Stiftung auf die Hartz-Kommission und Hartz IV ist relativ stark. Vor allem hat die Stiftung das Weltbild der Kommissionsmitglieder geprägt.«18

Kritik und andere Sichtweisen wurden dabei von vornherein ausgeblendet. Die Arbeitsrechtsprofessorin Helga Spindler hat die Rolle der Stiftung bei den Hartz-Reformen genauer untersucht und meint:

»Was mir besonders auffiel, war, dass sich seit der zunehmenden Netzwerkarbeit durch die Bertelsmann Stiftung die Akteure überhaupt nicht mehr mit Gegenmeinungen und Kritik auseinandergesetzt haben, Gegenargumente praktisch an einem Panzer der Selbstgewissheit abprallten, die Wahrheit bereits erkannt zu haben.«19

Worum ging es nun bei »Benchmarking Deutschland«? Empfohlen wurde insbesondere die Schaffung eines Niedriglohnsektors, also die massive Ausweitung von Jobs, bei denen der Lohn nicht zum Leben reicht.20 In einer Vorarbeit zum Bericht war vornehm umschreibend von einer »Lohnspreizung nach unten« und einer »Öffnung des Tarifgitters nach unten« die Rede. Den notwendigen Zusammenhang zwischen der Durchsetzung niedrigerer Löhne und einem dafür nötigen Zwangssystem, wie es später mit Hartz IV Wirklichkeit wurde, sprachen die Autoren deutlich aus:

»Parallel dazu müssten wahrscheinlich (…) zur Sicherung eines entsprechenden Arbeitsanreizes die Regelsätze der Sozialhilfe gesenkt werden; eine Integration der Arbeitslosenhilfe in die Sozialhilfe erschiene ebenfalls zweckmäßig.«21

Das leuchtet ohne Weiteres ein: Menschen sind nicht ohne Zwang bereit, für weniger Geld zu arbeiten. Da muss gesetzlich nachgeholfen werden – was dann ja auch geschah. Wenige Jahre später präsentierte Kanzler Schröder stolz die Ergebnisse der Verwirklichung der Bertelsmann-Ideen, im passenden Rahmen, während einer Rede vor internationalen Wirtschaftsführern im Schweizer Nobelort Davos:

»Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt. (…) Deutschland neigt dazu, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, obwohl es das Falscheste ist, was man eigentlich tun kann. Wir haben einen funktionierenden Niedriglohnsektor aufgebaut, und wir haben bei der Unterstützungszahlung Anreize dafür, Arbeit aufzunehmen, sehr stark in den Vordergrund gestellt. Es hat erhebliche Auseinandersetzungen mit starken Interessengruppen in unserer Gesellschaft gegeben. Aber wir haben diese Auseinandersetzungen durchgestanden. Und wir sind sicher, dass das veränderte System am Arbeitsmarkt erfolgreich sein wird.«22

Die »Erfolge« sind heute sichtbar: Millionen Menschen, die unter dem Druck des neuen Systems aufgerieben werden, eine nicht abreißende Klageflut an deutschen Gerichten sowie, nicht zuletzt, der Untergang der SPD. Unter dem vernünftig klingenden Deckmantel, die Arbeitslosigkeit senken zu wollen, führte die Agenda 2010, mit der strategischen Vorarbeit der Stiftung des Milliardärs Reinhard Mohn, im Grunde den Klassenkampf »Reich gegen Arm« in eine neue Runde.

Bertelsmann hatte der Regierung ein explosives Ei gelegt, das diese bereitwillig ausbrütete, völlig benebelt von Modewörtern wie »Benchmarking«, »Matching« oder »Reformstau«. Die gefällige Marketing-Verpackung dominierte über Jahre hinweg die Öffentlichkeit und wurde in unzähligen Talkshows und Leitartikeln als frohe Botschaft verkündet. Es ging darum, »modern« zu sein, »nicht den Anschluss zu verpassen« und den berühmten »Zwängen der Globalisierung« gerecht zu werden. Schon Joschka Fischer wusste in seiner Zeit als Außenminister: »Wir können nicht Politik gegen die Finanzmärkte machen.« Der Attac-Mitgründer Peter Wahl ergänzte diesen Satz kurz nach Einführung der Hartz-Reformen sarkastisch so: »Immerhin, gegen Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger zeigt die Regierung Mumm.«23

Wer hinter die Fassade blickte und die gängigen Schlagworte hinterfragte, wie der langjährige SPD-Politiker Albrecht Müller 2004 in seinem Bestseller Die Reformlüge, der irritierte den neuen Gleichklang und wurde bald nicht mehr in die üblichen Fernsehrunden eingeladen.

Die Tatsache, dass Regierungspolitikern, Wissenschaftlern und Intellektuellen so mühelos die Ideen einer kleinen Elite eingepflanzt werden konnten, offenbart ein grundsätzliches Problem an der Spitze: Führende Vertreter des Staates wissen anscheinend nicht mehr, zu welchem Zweck ein Gemeinwesen überhaupt existiert. Das hektische und eilfertige Bemühen um Effektivität und Profitabilität allerorten – was sich nicht rechnet, das muss dichtmachen –, das Betonen der Verpackung und des Marketings (»die Bürger mitnehmen«), all dies kaschiert eine Form von moralischer »Bewusstlosigkeit«, ein ethisches Vakuum in zentralen Fragen. Denn wozu eigentlich die ständige Effizienz, der große Profit? Wer hat etwas davon, was bringt es der Gesellschaft insgesamt? Was bedeutet »Globalisierung«, und wer sind »die Märkte«? Schließlich: Ist das wirklich alles so »neu«?

An dieser Stelle kommt die Wissensvermittlung der Universitäten ins Spiel und ihre Aufgabe, einen geistig wachen Nachwuchs auszubilden. Auch hier hat die Bertelsmann Stiftung schon lange einen Fuß in der Tür.24 Seit 1994 betreibt sie das sogenannte Centrum für Hochschulentwicklung (CHE). Dessen Mission ist simpel: Hochschulen sollen nach betriebswirtschaftlichen Regeln arbeiten, so wie Konzerne. Erfolge sollen messbar sein. Wer mehr Geld heranschafft, durch Studiengebühren oder Einwerbung von Drittmitteln aus der Wirtschaft, der ist Vorbild. Die Stärksten setzen sich durch, und die Gesetze des Geldes lenken alles »zum Besten«. Regelmäßig werden vom CHE Rankings, also Vergleichstests der Unis, veröffentlicht, um den Wettbewerbsgedanken und den Konkurrenzkampf unter den Hochschulen zu befördern. Bertelsmann hat seine Sichtweise in den vergangenen Jahren in großer Breite durchsetzen können. Das CHE und seine Hochschulpolitik gelten als eines der erfolgreichsten Programme der Stiftung, auch intern bei den Verantwortlichen.25

Ein Milliardär, so könnte man es zusammenfassen, erklärt also kurzerhand sein persönliches Erfolgsrezept zum Masterplan für das ganze Land. Was der Firma genutzt hat, soll nun das gesamte Volk beglücken. Fragen braucht man dazu niemanden, man hat ja das Geld – Beweis genug für die Richtigkeit der eigenen Ansichten. Dass es sich hierbei um einen Zirkelschluss handelt, geht anscheinend nur den wenigsten solcher »weisen« Philanthropen und Mäzene auf. Auch ein anderes Problem übersteigt offenbar ihren börsengeschulten Horizont: Bildungserfolg lässt sich nicht so einfach messen wie ein Betriebsergebnis. Ist ein Professor »besser«, wenn er mehr Veröffentlichungen vorweisen kann und mehr Sponsoren einwirbt? Macht das seine Studenten klüger? Bertelsmann zufolge: ja.26

Aber was ist überhaupt eine Universität? Wozu gibt es sie? Der Publizist Hauke Ritz hatte schon 2003 eine Studie zur Rolle der Bertelsmann Stiftung bei den Hochschulreformen verfasst und gab zu bedenken, dass hier »durch Umstrukturierung der Universitäten das gesellschaftspolitische Bewusstsein der nächsten Generationen« geplant werde:

»Fast der gesamte zivilisatorische Fortschritt der Neuzeit ist direkt oder indirekt der Entstehung der Universitäten im ausgehenden Mittelalter zu verdanken. (…) Wir haben heute keine Vorstellung mehr davon, was es eigentlich bedeutete, dass es den Universitäten gelang, nach tausendjähriger Herrschaft der katholischen Kirche erstmals deren Bildungs- und Wissensmonopol zu brechen. (…) Die derzeitige, sich teils in Planung und teils bereits in Durchführung begriffene Umstrukturierung der Universitäten unterscheidet sich von früheren Reformversuchen durch die Radikalität der Veränderung. (…) Worum geht es eigentlich? Es geht dem Bertelsmann-Konzern und dem von ihm ins Leben gerufenen CHE darum, die Entstehung eines Bildungsmarktes in die Wege zu leiten, auf dem dann Universitäten als Bildungskonzerne agieren können (…), die auf einem internationalen Markt in Konkurrenz zueinander treten, was zwangsläufig zu Konzentrationsprozessen, Fusionen und der Expansion der im Wettstreit besonders erfolgreichen Bildungskonzerne führt. Am Ende dieser Entwicklung wären Konzentrationsprozesse denkbar, die einen ähnlich hohen Grad erreichen könnten, wie jene, die in dem vor 20 Jahren privatisierten Fernsehmarkt vonstattengegangen sind. Die Harvard University verfügt alleine über ein Kapital von 20 Milliarden Dollar.

Ist der Markt für Bildung erst einmal geschaffen, so könnte sie leicht in verschiedenen europäischen Ländern Zweigstellen eröffnen. Es könnten also Konzerneinheiten entstehen, die – wie der Murdoch-Konzern auf dem Markt für Massenmedien – zahlreiche Hochschulen eines Landes unter sich vereinigen, ja sich über mehrere Kontinente und Länder erstrecken. (…) Und selbstverständlich sind Entscheidungen, bestimmte Lehrstühle zu schaffen und wiederum mit bestimmten Personen zu besetzen, politisch nie neutral. Denn jede wissenschaftliche Arbeit ist in einen kulturellen Kontext eingebunden und bleibt häufig von deren unhinterfragten Grundüberzeugungen gefärbt. In politisch bedeutsamen Wissenschaften wie Soziologie, Politologie oder Philosophie lassen sich deshalb verschiedene Schulen durchaus verschiedenen politischen Richtungen zuordnen. In diesem Sinne gibt es keine wissenschaftliche Wertneutralität.«27

Eben diese vermeintliche Neutralität der Wissensvermittlung unterstellen aber Akteure wie die Bertelsmann Stiftung. Sie reden von Universitäten wie ein Blinder von der Farbe. Der Begriff Bildung wird entkernt, mit weitreichenden Folgen. Dazu noch einmal Hauke Ritz:

»Ein Mensch ist gebildet, wenn ihm die Fähigkeit zugefallen ist, unabhängig vom Konformitätsdruck der Gesellschaft seine Persönlichkeit nach einem ihm eingegebenen und nicht von außen vorgegebenen Bild selbständig zu formen. Sobald man aber nach Maßgabe von Intelligenztests, persönlichen Beziehungen oder schlichtweg der Bereitschaft, gigantische Studiengebühren zu zahlen, eine kleine Gruppe von Menschen herausgreift, in der Absicht, aus ihr die zukünftige Elite zu formen, so wird man mit Sicherheit das Gegenteil einer echten Elite bekommen.«28

Auf den Punkt gebracht: Eine Vermarktung des Bildungssektors bedeutet schlicht und einfach das Ende umfassender Bildung – ebenso wie eine Kommerzialisierung des Gesundheitssystems das Ende einer gesunden Gesellschaft zur Folge hat. Mehr Kranke bringen mehr Umsatz, bessere Heilung ist schlecht fürs Geschäft. Mit den Hochschulen ist es ähnlich: Mehr »Fachidioten« nützen der Wirtschaft, eine bessere, humanistisch umfassende Bildung hingegen bedroht den Kommerz. Privatisierungen und Profitorientierung in den Bereichen Gesundheit und Bildung sind deshalb besonders dramatisch, weil damit die Lebensfähigkeit und das ethische Niveau der gesamten Gesellschaft grundsätzlich verringert werden. Die durchprivatisierte Gesellschaft fällt auf eine niedrigere Entwicklungsstufe zurück – eigentlich ein Zerfallsprozess.

Problematisch an Familien wie Mohn oder Rockefeller ist dabei nicht, dass einzelne reiche Menschen fragwürdige Vorstellungen diskutieren und in die Gesellschaft hineintragen. Damit könnte man leben, dagegen ließe sich argumentieren. Das Problem besteht vielmehr darin, dass solche Familien kraft ihrer Milliarden oft auch in der Lage sind, ihre Vorstellungen durchzusetzen.

Wenn einige wenige Reiche beschließen, dass ein großer Krieg geführt werden muss, dass die Löhne gesenkt oder Universitäten nach neuen Prinzipien geleitet werden sollten – dann wird genau das häufig Realität. Nicht von heute auf morgen, per Dekret eines Herrschers wie in einer Diktatur, sondern langsam, durch jahrelange Planung, Kontaktpflege, den Aufbau von beratenden Stiftungen, die Anstellung von Politikern und, vor allem, mit Hilfe eines nie versiegenden Geldstroms. Das Ergebnis aber ist am Ende das gleiche wie in einer Diktatur: Beschlüsse einer Minderheit, die der Gesellschaft großen Schaden zufügen.

Die extreme Ungleichverteilung der Macht zwischen Superreichen und Normalbürgern betrifft alle. Sie findet ihren alltäglichen Ausdruck in der unterschiedlichen Gültigkeit der Grundrechte, je nach Umfang des privaten Eigentums. Um diese erstaunlich wenig diskutierte Frage soll es im folgenden Kapitel gehen.