6. KAPITEL

An Deck war es ruhig und still, eine feuchte Nacht, in der die Wolken den fast vollen Mond verdeckten. Keine Brise ließ die Flaggleinen klimpern. Ganz leise drang Musik vom Jachtclub herüber, aber ansonsten war der Anlegeplatz friedlich. Auf den anderen Booten war kein Licht, waren keine Stimmen.

Niemand da, der sah, wie Rick den Kopf ans Steuerrad schlug.

Als er sich auf diese Reise eingelassen hatte, schien alles klar. Die Sirena und Inigos Schatz lagen irgendwo da draußen, und er und seine beste Freundin Stella, die wie eine Schwester für ihn war, würden sie finden.

Schließlich war das Nathans Letzter Wille.

Aber jetzt hatte Rick einen ganz anderen Gedanken im Kopf, der nichts mit Geschwisterliebe zu tun hatte.

Und der ganz bestimmt nicht in Nathans Sinn war.

Nathan hatte Rick damals nicht ausdrücklich gesagt, er solle die Finger von Stella lassen. Aber er hatte gesagt, dass seine Tochter etwas ganz Besonderes sei, und ließ keinen Zweifel darüber, dass Stella auch einen ganz besonderen Mann verdiente. Jedenfalls keinen Seemann.

Für seine Tochter wollte Nathan das, was er selbst seiner Frau nie hatte geben können – Stabilität.

Jemand, der immer für sie da war.

Und jeder wusste, dass Nathans Tochter tabu war.

Auch für ihn.

Aber jetzt war Nathan tot. Und Stella erwachsen.

Sie hatte Brüste und Hüften und eine Fantasie, die jedem Matrosen die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte.

Wie zum Teufel sollte er das ignorieren?

Und es war erst der zweite Tag.

Wie lange würde er das durchhalten?

Andererseits …

Rick hob den Kopf vom Steuerrad und richtete sich kerzengerade auf, als ihm die List eines gewissen Piraten in den Sinn kam.

Was, wenn er den Spieß umdrehte?

Was, wenn er einige der pikanteren Szenen aus Piratenherz zum Leben erweckte?

Sein Blick fiel auf die Dusche auf dem Achterdeck, und er lächelte.

Stella war gerade dabei, die Vorräte in der Kombüse zu verstauen, als sie vor dem Bullauge ein lautes Platschen hörte. Stirnrunzelnd spähte sie in die Nacht.

Hatte Rick sich über Bord gestürzt, weil er es nicht ertrug, die Wette zu verlieren?

„Rick?“, fragte sie, ein Lächeln auf dem Gesicht. Keine Antwort. „Rick?“

Noch immer keine Antwort.

Oder hatte ein Einbrecher Rick bewusstlos geschlagen und ins Wasser gestoßen?

Ihr Lächeln erstarb, ihr Herz pochte. Sie griff nach der nächstbesten Waffe, einer schweren Bratpfanne, und beschloss, an Deck nach dem Rechten zu sehen. Mit weichen Knien kletterte sie die Wendeltreppe hoch, einen Schritt nach dem anderen.

Sie atmete tief durch, dann reckte sie wie ein Erdmännchen den Kopf aus der Luke.

„Rick?“, flüsterte sie, während ihre Augen sich nur langsam an die Dunkelheit gewöhnten.

Immer noch nichts.

Da erhaschte sie eine flüchtige Bewegung und nahm den Klang von laufendem Wasser wahr, der sich vom sanften Schlagen des Meeres und Zirpen der Insekten abhob. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können.

Da war jemand.

Ein Mann.

Unter der Dusche.

Unter der Dusche?

In diesem Moment schob sich der Mond hinter den Wolken hervor, und Stella bekam die Seitenansicht des Mannes unter der Dusche geboten, als hätte jemand einen Scheinwerfer auf ihn gerichtet.

Rick.

Ein splitternackter Rick.

Sie blieb wie angewurzelt stehen.

Den Kopf zurückgeneigt, das Gesicht dem Nachthimmel zugewandt, die Augen geschlossen, schien er das Mondlicht anzubeten, das ihn in Alabaster tauchte.

Er sah aus wie eine Statue. Ein Michelangelo.

Mit der herrlichen Symmetrie fließender Muskeln und den subtileren Details der Sehnen, Bänder und Venen eines lebenden, atmenden Kunstwerks.

Das Wasser lief über die breiten Schultern, die Brust, den Bizeps. Es rann über seinen Rücken, folgte der Rundung seiner Wirbelsäule, der Erhebung seiner Pobacken. Kleine Rinnsale liefen an dem kräftigen Oberschenkel hinab, der leicht vorgestellt war und Stella die Sicht nahm. Ihre Miene verfinsterte sich.

Mist.

Vascos Badeszene hatte sie vor über zwei Jahren geschrieben, und Rick, den sie hauptsächlich in Badeshorts oder hautengen Tauchanzügen kannte, hatte als Inspiration gedient.

Einige Teile jedoch hatte sie ihrer Vorstellungskraft überlassen müssen.

Sie war neugierig auf die Wahrheit. Hatte sie Vasco adäquat beschrieben, oder war die Fantasie mit ihr durchgegangen?

Und dann, als hätte er ihre Gedanken gelesen, drehte er sich leicht in ihre Richtung und verlagerte das Gewicht auf das andere Bein, und da wusste sie, dass ihre Beschreibung haargenau richtig gewesen war.

Es bestand kein Zweifel: Riccardo Granville war der leibhaftige Vasco Ramirez.

Rick wandte Stella den Rücken zu und lächelte in sich hinein, während er den Kopf von links nach rechts neigte und das lauwarme Wasser über seine verspannten Muskeln rinnen ließ. Es hatte überraschend viel Kraft erfordert, so unbefangen zu wirken, als wäre er ganz allein und unbeobachtet. Aber Stellas Kopf auftauchen zu sehen und dann ihren verlangenden Blick auf sich zu spüren, war jede Anstrengung wert gewesen.

Er fühlte sich gleich viel besser. Auch wenn er fast ein schlechtes Gewissen hatte, dass er so mit Stella spielte.

Aber nachdem sie ihn heimlich in einem Buch verewigt hatte, durfte er sich diesen kleinen Scherz wohl erlauben.

Solange er nicht übertrieb. Und solange er nicht vergaß, wer sie war – nämlich nicht nur eine erwachsene Frau, die schmutzige Bücher schrieb, sondern Nathans Tochter.

Am Ende der Reise würden sie beide darüber lachen.

Vasco betrachtete Lady Marys zarte milchweiße Hand, die er in seiner eigenen, viel dunkleren Hand hielt, und bewunderte den Gegensatz. So würden sie in seinem Bett aussehen, die Gliedmaßen ineinander verschlungen, Bauch an Bauch, Kokos und Kaffee.

Er fuhr mit dem Daumen an ihrem Zeigefinger entlang, in dem der lange Holzsplitter steckte, dann weiter über ihre Handfläche. Hörte, wie sie die Luft einsog. Spürte ihren Widerstand.

Er blickte in ihre smaragdgrünen Augen. „Ist gar nicht so schlimm, wie es aussieht“, murmelte er.

Mary schluckte. Sie hielt ihre Beine unter den Röcken züchtig aneinander gepresst, während er ihr auf seine typische „Was-kostet-die-Welt“-Art breitbeinig gegenübersaß. Der Stoff seiner Hose spannte über seinen Schenkeln, als er sich über ihre Hand beugte, sein Kopf gefährlich nah an ihrem Busen.

„Ich brauche nur ein Pinzette“, sagte sie und versuchte, ihre Hand wegzuziehen, doch er ließ sie nicht los, und sie ergab sich ihrem Schicksal.

Vasco lächelte sie an, ihre rosigen Lippen in verführerischer Nähe. „Ich glaube, das kann ich besser.“

Seine Stimme war sanft und tief, und brachte etwas in Mary zum Klingen, von dessen Existenz sie bis vor Kurzem nicht einmal etwas geahnt hatte. Ihre Blicke trafen sich, als er ihren Finger an seine Lippen hob und daran sog.

Vasco sah, wie sich ihr Mund zu einem überraschten kleinen Oh formte und sich ihre Pupillen weiteten. Sie atmete hörbar, als sie den Blick zu seinen Lippen senkte. Er spürte einen halbherzigen Versuch, sich zu befreien, doch statt den Finger freizugeben, liebkoste er ihn mit der Zunge.

Ihr leises Stöhnen traf ihn direkt in die Leistengegend.

Ohne sie aus den Augen zu lassen, zog Vasco langsam die Lippen zurück, suchte und fand mit den Zähnen das Ende des Splitters, der in der Fingerkuppe steckte, zog ihn vorsichtig heraus und gab ihren glänzenden Finger frei. Einen Moment lang hielt er den Splitter zwischen den Zähnen, dann wandte er den Kopf und spuckte ihn auf den Boden.

Lächelnd drehte er sich zurück und sah sie an. „So ist es besser“, murmelte er.

Mary konnte sich nicht rühren. Sie saß einfach da, ihre Hand noch in seiner, der Finger noch feucht, und starrte auf seinen Mund.

„D-danke“, stammelte sie.

Vasco neigte sich erneut zu ihrem Finger und drückte einen sanften Kuss auf die Wunde.

Er lächelte charmant. „War mir ein Vergnügen.“

Mary hätte am liebsten nach Riechsalz verlangt.

Nach der überaus unruhigen Nacht hatte Stella es nicht eilig, Rick zum ersten Mal nach der pikanten Duschszene vom gestrigen Abend in die Augen zu sehen. Aber sie konnte nicht ewig in der Kabine bleiben, und außerdem wusste er ja nicht, dass sie ihn beobachtet hatte. Sie durfte sich nur nichts anmerken lassen, dann war alles wie immer.

Außer, dass sich die Erinnerung für immer und ewig in ihrem Gehirn eingebrannt hatte.

„Hey“, begrüßte sie Rick, als sie fünfzehn Minuten später in die Kombüse ging. Er saß am Esstisch über Seekarten gebeugt. Vollständig bekleidet. Sie wandte den Blick ab, als er aufsah.

Rick bemühte sich, nicht wie die Grinsekatze auszusehen, sondern ein ganz normales, freundliches Lächeln aufzusetzen. Was angesichts einer weiteren knappen Shorts und nackter Schultern über einem trägerlosen Top nicht ganz leicht war.

„Guten Morgen“, sagte er. Du kesses halb nacktes Luder. „Wie hast du geschlafen?“

Dem ständigen Bimmeln ihres Fußkettchens nach ziemlich unruhig.

Stella riskierte erneut einen Blick und zuckte gleichmütig die Schultern. „Ganz gut.“

Rick unterdrückte ein Lächeln, als sie den Blick abwandte. Lügnerin. Gut, jetzt waren sie wenigstens quitt. Das verdammte Buch, das blöde kleine Glöckchen und ihre knappen Outfits raubten auch ihm den Schlaf.

„Du bist gestern Abend früh zu Bett gegangen“, meinte er unschuldig. „Ist alles in Ordnung?“

Stella stockte der Atem, während sie zwei Brotscheiben in den Toaster steckte. „Alles gut“, erwiderte sie, den Blick fest auf den Toaster gerichtet.

Rick amüsierte sich königlich über ihre einsilbigen Antworten. Er hätte sie gern noch ein bisschen weiter gequält, aber das Wetter war nicht besonders, und sie mussten los.

Er ging in die Kombüse, um seinen Teller und sein Glas wegzuräumen, und als er sich an Stella vorbeidrängeln wollte, fühlte er, wie sie sich leicht versteifte. Ihr nach Kokos duftendes Haar war zu einem hohen Zopf gebunden, und er verspürte den verrückten Drang, an ihrem entblößten Nacken zu knabbern.

Er widerstand der Versuchung, stellte den Teller ins Waschbecken und trank den letzten Schluck Orangensaft. „Heute wird’s ein bisschen stürmisch, wir sollten aufbrechen“, sagte er.

„Gut“, sagte Stella und verharrte in derselben Position, bis er verschwunden war.

Glücklicherweise war Rick vollkommen damit ausgelastet, in dem stärker werdenden Seegang die Kontrolle über das Boot zu behalten.

Sie arbeitete ein wenig an ihrem Laptop, aber vom Tippen bei schwankendem Horizont wurde ihr schwindelig, und so bekam sie nicht viel zustande. Selbst das Lesen der in den vergangenen Tagen geschriebenen Seiten erwies sich als unmöglich.

Obwohl Stella immer seefest gewesen war, senkte sich die Übelkeit auf ihren Magen wie ein Bleigewicht. Sie gab auf und klappte den Laptop zu.

„Siehst du mal nach, ob unter Deck alles richtig gesichert ist?“, rief Rick eine Stunde später, als sie immer noch auf den Horizont starrte und sich auf ihre Atmung konzentrierte.

Stella stand auf. Gute Idee. Vielleicht lenkte sie das von dem ewigen Auf und Ab des Schiffes ab.

Es begann zu nieseln. Rick hatte inzwischen sein T-Shirt ausgezogen, und seine Brust war mit Gischt gesprenkelt.

„Soll ich dir eine Regenjacke mitbringen?“, fragte sie, seinen Blick meidend.

Rick nickte und blickte ihr prüfend ins Gesicht. Es war weiß wie die Segel, die sich über ihren Köpfen blähten. „Danke. Alles in Ordnung?“, fragte er. „Laut Wetterdienst ist der Spuk in ein paar Stunden vorbei.“

Stella hielt sich an der Lederlehne des Kapitänsstuhls fest, auf dem er saß. Sie nickte. „Alles gut.“

Sein langes Haar wehte im Wind, und er lächelte ihr zu. „Im Schrank über der Spüle sind Tabletten gegen Seekrankheit.“

„Mir geht’s gut“, log sie.

Rick zuckte die Schultern. „Ich mein ja nur.“

Sie ging unter Deck, prüfte alle Zimmer und sicherte alle Gegenstände, die noch herumlagen. Dann holte sie ihre Regenjacke, nahm Ricks vom Haken an seiner Kabinentür, ging in die Kombüse und kippte zwei Dosen Suppe in einen Topf. Das Boot kippte seitlich, als sie den Topf auf die Kochplatte stellte, und ihr Magen krampfte sich zusammen.

Verdammt.

Sie griff in den Schrank über der Spüle und schluckte zwei kleine blaue Pillen.

Während sie die Suppe erhitzte, trat sie von einem Bein auf das andere, um die Bewegungen des Bootes auszugleichen. Dann pürierte sie die heiße Suppe, füllte sie in zwei Thermosbecher, schnitt dicke Scheiben von dem Brot ab, das sie gestern gekauft hatten, und stellte alles auf ein Tablett.

Als sie fünfzehn Minuten später wieder an Deck kam, ging es ihr tatsächlich besser.

„Danke“, sagte Rick, nahm ihr das Tablett ab und schlüpfte eilig in die Jacke.

Wassertropfen rannen von seinen Wimpern und an seiner gebräunten Brust hinab, ganz wie gestern Nacht unter der Dusche.

Mühsam wandte sie den Blick ab. Nicht daran denken.

„Hmm, das ist gut“, sagte er und sah, wie sich zwei rosa Flecken auf ihren blassen Wangen abzeichneten. „Ich glaube, ich behalte dich.“

Er wärmte sich die Hände am Thermosbecher und trank noch einen Schluck von der reichhaltigen, lecker duftenden Erbsensuppe. „Das Wetter beruhigt sich.“

Stella blickte auf das wogende Meer. „Findest du?“

Er lachte. „Aus dir ist eine richtige Landratte geworden. Kannst du das nicht spüren?“

Stella fühlte, wie sein Lachen ihr Innerstes wärmte. „Nein, Kapitän Ahab, tut mir leid.“

„Ah, ‚Moby Dick‘, mein Lieblingsbuch“, scherzte er, weil er wusste, wie sehr Stella das Buch hasste.

Sie verdrehte die Augen. „Du hast es nie gelesen.“

„Doch“, widersprach er.

„Wann?“

„Nachdem wir gewettet hatten“, behauptete er.

Stella sah ihn stirnrunzelnd an und kramte in ihrer Erinnerung. „Da war ich zwölf.“

Damals hatte sie gerade ihre klassische Phase und versuchte außerdem, alles zu lesen, was mit dem Meer zu tun hatte, um zu verstehen, warum ihr Vater die See mehr liebte als ihre Mutter.

„Ich habe noch nie bei einer Wette gekniffen. Außerdem hat es mir gefallen.“

Allerdings nicht so sehr wie die heißen Sexszenen in Piratenherz

Sie diskutierten über das Buch, während sie die Suppe austranken, und auch Stella spürte, dass sich die See allmählich beruhigte. Der Wind hatte nachgelassen, der Regen aufgehört, und sie zogen ihre Jacken wieder aus. Sein nackter Bizeps streifte ihre Schulter, als er seine Jacke über die Stuhllehne warf, und sie schloss kurz die Augen, als es sie bei der Berührung heiß durchfuhr.

„Ich räume dann mal ab“, sagte sie schnell.

Rick sah ihr nach, als sie mit verführerischem Hüftschwung davonging, um den Wellengang auszugleichen. Die Hüften waren eines Sommers einfach da gewesen, ebenso wie der BH, und sosehr er auch versuchte, sie im Alltag zu ignorieren, waren sie doch stets Bestandteil seiner feuchten Träume.

Eine plötzliche Böe kippte das Boot, und er sah, wie sie tänzelte, um die Balance zu halten. Lächelnd bewunderte er ihre anmutigen Bewegungen, bis er begriff, dass sie das Gleichgewicht verloren hatte.

„Stella!“, rief er und sprang auf.

Zu spät. Stella ging schlitternd zu Boden und knallte mit dem linken Arm auf das Deck. Das Tablett flog in hohem Bogen durch die Luft, als sie den anderen Arm ausstreckte, um sich abzu­fangen.

„Stella“, wiederholte er, als er sich mit klopfendem Herzen neben ihre gekrümmte Gestalt warf. „Stella. Alles in Ordnung?“

Stella stöhnte. Ihr linker Arm tat so weh, dass sie nicht denken konnte.

Rick berührte den Arm und wollte sie aufrichten. „Stella?“

Sie stöhnte, und er ließ von ihr ab. „Mir geht’s gut, mir geht’s gut“, keuchte sie. „Einen Augenblick.“

„Was hast du dir verletzt?“, fragte er.

„Meinen Arm“, sagte sie einen Moment später. „Meine Hand.“ Sie blickte ihn durch ihren Pony an. „Meine Würde.“

Rick lachte, erleichtert, dass sie ihren Sinn für Humor nicht verloren hatte. So schlimm konnte es also nicht sein. „Glaubst du, es ist was gebrochen?“

Stella konzentrierte sich auf den Schmerz in ihrem Oberarm. Sie schüttelte den Kopf.

„Darf ich dir helfen?“, fragte er.

Stella, deren Arme beide höllisch schmerzten, nickte gequält. Rick fasste sie um die Taille und zog sie in eine sitzende Position. Sein starker, warmer Körper war hinter ihr, und für einen Moment war sie so froh, dass sie nicht für immer wie ein gestrandeter Wal auf dem Deck liegen musste, dass sie sich an ihn lehnte und die Augen schloss.

Rick rieb seine Wange an ihrem Haar und Kokosduft stieg ihm in die Nase. Er nahm ihre rechte Hand. Die Knöchel waren abgeschürft und die mittleren drei Finger bluteten von Splittern.

Er bemühte sich sehr, nicht an Lady Mary und ihren Splitter zu denken, aber so wie Stella mit ihrem Piña-Colada-Duft sich an ihn lehnte, war das nicht leicht.

„Sieht übel aus“, murmelte er. „Wie geht es deinem Arm? Kannst du ihn bewegen?“

Vorsichtig bewegte Stella die Schulter. „Autsch“, schimpfte sie.

Er lächelte in ihr Haar. „Und deine Würde?“

„Die ist dahin.“

Er lachte leise. „Aber nein. Du bist sehr anmutig gefallen.“

„Na toll“, meinte sie trocken.

Wieder lachte er. „Na, komm. Lass uns unter Deck gehen und dich untersuchen.“

„Ich wette, das sagst du zu allen Mädchen“, murmelte sie.

Stella blinzelte erschrocken, als ihr die kokette Erwiderung herausrutschte. Was zum …

Jetzt lachte er erst recht. „Nur, wenn sie mir zu Füßen liegen.“

Als Rick ihr hoch half, neigte sich das Boot erneut zur Seite, und ihr ganzer Körper, von den weichen Brüsten bis zu den runden Hüften, wurde für einen kurzen Moment an ihn gepresst – was ihn in eine äußerst verfängliche Lage brachte.

„Geh schon mal vor. Ich muss hier oben noch was richten, dann komme ich nach“, murmelte er.

Als Rick eine halbe Stunde später zu ihr stieß, hatte Stella schon Schmerztabletten genommen, den Erste-Hilfe-Koffer geholt, ihre rechte Hand gewaschen und saß am Tisch, wo sie tapfer versuchte, sich mit der linken Hand die Splitter herauszuziehen.

Rick stemmte die Hände in die Hüfte. „Was tust du da?“, fragte er.

Stella, die alles nur noch schlimmer gemacht hatte, indem sie in der Wunde herumstocherte, war nicht gerade zu Scherzen aufgelegt. Und dass Rick mit seinem nackten Oberkörper schon wieder total sexy aussah, besserte ihre Laune nicht.

„Wonach sieht es denn aus?“, raunzte sie ihn an. „Ich versuche, die Splitter herauszubekommen.“

Er blickte lächelnd auf ihren Schmollmund. „Lass mich mal.“

Stella, die sich in ihren eigenen Roman versetzt fühlte, war wie gelähmt. Sie schluckte trocken.

Ihre Hand lag warm in seiner, als Rick die Wunde mit einem Desinfektionstuch reinigte. „Ich verspreche, ich bin ganz vorsichtig“, murmelte er.

Stella verdrehte die Augen über seinen flirtenden Unterton. Die einzige Möglichkeit, als einziges Zielobjekt seiner Charmeoffensive zu überleben, war zurückzuschießen. „Vielleicht stehe ich nicht auf vorsichtig.“

Überrascht sah Rick auf. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.

Sie flirtete mit ihm.

Er lachte in sich hinein, dann senkte er wie Vasco den Kopf und beugte sich über ihre Hand. Dank des glatt polierten Decks waren die Splitter wesentlich kleiner als die in Marys Finger. Jedenfalls ließen sie sich nicht mit den Zähnen entfernen, und es dauerte eine ganze Weile, bis er sie herausbekam.

Sie beklagte sich nicht, obwohl sie, als Rick einmal aufsah, die Augen geschlossen und das Gesicht verzogen hatte. Ab und zu streiften sich ihre Beine unter dem Tisch, ihre Oberkörper berührten sich fast, sein Kopf war auf Höhe ihres Dekolletés, und er fragte sich, wie sie reagieren würde, wenn er sie jetzt einfach küsste.

Stella schlug die Augen auf, und ihr stockte der Atem, als ihre Blicke sich trafen. „Was ist?“, fragte sie.

Rick ließ sich einen Moment Zeit, bevor er antwortete. Dann schüttelte er den Kopf, sagte: „Nichts“, und wandte sich wieder seiner Aufgabe zu.

Nach weiteren zehn Minuten war er fertig. „Das war’s“, verkündete er, während sie die Augen noch geschlossen hielt. „Ist es so besser?“

Stella blickte auf ihre Hand. Die Splitter waren verschwunden, und Rick strich mit dem Daumen über ihre Handfläche, genau so, wie Vasco es getan hatte. Einerseits verspürte sie das Verlangen, die Augen wieder zu schließen und seine Liebkosungen zu genießen, andererseits plagte sie das schlechten Gewissen, den arglosen Rick erneut zu benutzen, um eine ihrer Vasco-Fantasien zum Leben zu erwecken.

Die ganze Situation trieb sie noch in den Wahnsinn.

Und die Schmerzen machten sie reizbar.

„Nein“, sagte sie zickig. „Um ehrlich zu sein, es tut total weh.“

Rick spürte, wie sie versuchte, die Hand zurückzuziehen, doch er hielt sie fest. Die Gelegenheit war zu günstig, um sie ungenutzt verstreichen zu lassen. „Na gut“, seufzte er, „dann muss ich es anders versuchen.“

Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, was er vorhatte, und einen weiteren Moment, bis Stella den Mund öffnete, um zu protestieren. Bis dahin war es schon zu spät. Er hob ihre Finger an seinen Mund, ohne ihren Blick loszulassen. Ihr Protest verstummte in einem unverständlichen Gurgeln, als seine Lippen flüchtig erst eine Fingerkuppe streiften, dann die nächste. Bei der dritten weiteten sich ihre Augen, als sie seine Zunge an ihrer Fingerspitze spürte.

Ein erstickter Laut entrang sich ihrer Kehle, der in der aufgeladenen Atmosphäre zwischen ihnen fremd klang.

Fast wie ein Wimmern.

„So“, sagte er heiser. Ihre geweiteten Pupillen hatten einen seltsamen Effekt auf ihn. „Ist das besser?“

Sie wollte den Kopf schütteln. Wollte sagen: Nein. Doch sie konnte nur nicken.

„Gut“, sagte Rick mühsam, ihr Mund dem seinen so nah.

Gern geschehen.