7. KAPITEL

Verlegen saß Lady Mary auf dem sonnenüberfluteten Deck, den neugierigen Blicken der Mannschaft ausgeliefert.

„Sie müssen sich zurücklehnen“, sagte Vasco hinter ihr.

Mary wandte sich gerade so weit um, dass sie ihn am Rande ihres Blickfelds wahrnahm. „Wirklich, ich denke nicht, dass das nötig ist“, protestierte sie zimperlich, die Hände in den Schoß gefaltet.

Mit sanftem Druck legte Vasco eine Hand auf ihre Schulter. „Die Lady möchte ihr Haar waschen. Und ihr Wunsch ist mir Befehl.“

Mary gab dem Druck seiner Hand nach und blickte wieder geradeaus. „Ich bin sehr wohl in der Lage, mir selbst die Haare zu waschen, Captain Ramirez.“

Vasco beugte sich vor, die Lippen ganz nah an ihrem Ohr und atmete ihren blumigen Duft ein, ein Hauch Weiblichkeit in seiner von Männern beherrschten Welt. „Ach, aber wo bleibt denn da der Spaß, Mary?“

Er lächelte, als sie bei seiner Vertraulichkeit hörbar die Luft einsog. „Lösen Sie Ihr Haar“, befahl er flüsternd. „Lehnen Sie sich zurück.“

Mary spürte, wie beim schlüpfrigen Unterton in seiner Stimme ihre Brustspitzen an den Stoff ihres Unterkleides drängten. Wieder wollte sie protestieren, doch sie hielt sich zurück. In der einen Woche an Bord hatte sie gelernt, dass der spanische Kapitän stets bekam, was er wollte.

Außerdem musste ihr Haar wirklich dringend gewaschen werden.

Ihre Finger zitterten, als sie eine Nadel nach der anderen aus dem eleganten Haarknoten löste. Sie konnte den eigenen Atem laut in den Ohren hören, während er ihr zusah. Als alle Nadeln gelöst waren, schüttelte sie das Haar aus und fuhr mit den Fingern durch die dichten Locken, um widerspenstige Strähnen zu entwirren.

Plötzlich wurde ihr bewusst, dass die Stimmen der Mannschaft verstummt und alle Blicke auf sie gerichtet waren. „Captain“, sagte sie atemlos, „Ihre Leute starren mich an.“

Vasco konnte es ihnen nicht übel nehmen. Marys Haar war ein gleißendes Meisterwerk, eine lodernde Fackel unter der goldenen Sonne. Behutsam hob er eine lange Spirallocke von ihrer Schulter und zog sie zu ihrer ganze Länge, bevor er sie wieder auf das scharlachrote Kleid fallen ließ.

„Sie bekommen nicht oft eine Frau von solcher Schönheit zu sehen, Madam“, schmeichelte er ihr und blaffte dann ein paar Befehle in Richtung seiner Leute, mehr als zufrieden mit der durchschlagenden Wirkung.

„Vielen Dank“, murmelte Lady Mary, als etwa ein Dutzend Männer sich wieder ihrer Arbeit zuwandten.

„Ihr Wunsch ist mir Befehl …“

Er blickte auf ihre glänzende Haarpracht herab und stellte sich vor, wie die Locken sich gegen die milchig weiße Haut ihrer Brüste abheben würden.

Schon bald würde sie ihm gehören.

„Neigen Sie den Kopf zurück.“

Als sie sich widerspruchslos fügte und ihr Haar in einer weichen roten Welle über die Stuhllehne fiel, versetzte ihre atemberaubende Schönheit ihm einen Stich. Er nahm den Eimer, goss ihr das Wasser langsam und gleichmäßig übers Haar und sah zu, wie die Locken durchnässt wurden und die leuchtende Pracht sich zu glänzendem Satin verdunkelte. Das Wasser bildete Pfützen um seine Stiefel, doch er bemerkte es gar nicht, denn sein Blick blieb an einem einzelnen Tropfen auf ihrer Stirn hängen, der ihr langsam über das Gesicht lief, über das geschlossene Augenlid, über die zarte Wange bis zu ihrem Mund, wo sie ihn mit der Zunge auffing.

Vasco hätte fast den Eimer fallen lassen und seine Lippen auf ihre gepresst. Das Verlangen, sie zu küssen hatte sich seit Tagen aufgestaut. Doch selbst durch den Nebel der Begierde, die einen Sturm in seinen Lenden entfacht hatte, spürte er, dass sie noch nicht bereit war.

Also verteilte er die Seife im Haar und massierte sie mit den Händen ein.

Mary hätte fast gestöhnt, als Vasco die Hände in ihr Haar grub und seine Fingerkuppen mit sinnlicher Leichtigkeit über ihre Kopfhaut fuhren. Ihre Brustspitzen und ihr Magen zogen sich zusammen, überall Gänsehaut. Warum wusste sie nicht so genau, denn eigentlich war ihr heißer als je zuvor in ihrem Leben.

Bestimmt lag es an der Sonne.

Nicht an seinem Blick, der, wie sie wusste, ohne die Augen zu öffnen, auf ihrer wild pulsierenden Halsschlagader ruhte.

„Und wie ist das?“, murmelte er.

Eigentlich wusste Mary, dass sie sich die Antwort besser verkniffen hätte, doch der betörende Zauber seiner Berührung, der Duft von Lavendel, die Wärme der Sonne benebelten ihre Sinne. „Fantastisch“, hauchte sie, und Vasco lachte leise.

Ihre Tante wäre in Ohnmacht gefallen, hätte sie gesehen, dass ein Pirat ihre Nichte auf so unzüchtige Weise berührte. Doch Mary für ihren Teil überließ sich ganz dem Moment.

Vasco massierte ihren Haaransatz, dann ließ er seine geschmeidigen Finger in ihren Nacken wandern, und er schluckte, als ein Seufzer ihren Lippen entwich. Ihm entging nicht, wie sich die Hände in ihrem Schoß abwechselnd zu Fäusten ballten und wieder lösten, wie ihr Busen gegen das Gefängnis des Ausschnitts drängte, und er spürte, dass sie Dinge empfand, die sie noch nie empfunden hatte.

Er arbeitete sich zu ihren Schläfen vor, wanderte weiter zu ihren Ohrmuscheln, ließ den Daumen über die Erhöhungen gleiten und lächelte, als er hörte, wie sie die Luft einsog. Er beugte sich vor, die Lippen nah an ihrem Ohr. „Sie sind sehr schön, Mary.“

Mary öffnete die Augen, als seine Worte schlangengleich in jede Zelle ihres Körpers drangen. Ihr fielen ein Dutzend Erwiderungen ein. Was erlaubte er sich? Doch seine Hände stürzten sie in Verwirrung, ihr Körper verlangte nach etwas, das sie nicht verstand. Sie wandte leicht den Kopf, ihre Münder einander näher, als schicklich war.

„Sie auch, Vasco, Sie auch.“

Denn er war schlicht der schönste Mann, den sie je gesehen hatte.

Nach zwei stürmischen Tagen war es endlich warm und sonnig, und Stella konnte sich wenigstens wieder an Deck aufhalten.

Rick machte sich Sorgen, dass ihr Oberarmknochen gebrochen war, und wollte umkehren, doch Stella weigerte sich.

Inzwischen fielen ihr selbst die einfachsten Dinge schwer, und sie war ungeduldig und grantig. Rick hatte, ganz nach Art seines Alter Egos, galant angeboten, ihr beim Waschen und Anziehen zu helfen, was sie weniger galant ablehnte.

Und so musste sie allein klarkommen, duschte nur notdürftig und trug Sarongs, weil sie den Arm nicht heben konnte. Kompliziertere Vorgänge wie Beine rasieren oder Haare waschen waren ferner Luxus.

Am schlimmsten war das Schreiben. Die Worte strömten ihr durch den Kopf, doch sie konnte wegen der verletzten rechten Hand und der Schmerzen im linken Arm einfach nicht schnell genug tippen und musste alle zwanzig Minuten Pause machen.

Deshalb tat es wirklich gut, endlich wieder die Sonne auf dem Gesicht zu spüren.

Doch von dem Moment an, wo sie den Laptop aufklappte, ging es bergab. Es dauerte nicht lange, bis ihre Laune im Keller war, denn trotz des herrlichen Tages machten ihre nutzlosen Finger das Schreiben zu einer Tortur. Und als ihr Arm nach einer halben Stunde wieder zu schmerzen begann, klappte sie den Laptop genervt zu.

Dabei hatte sie am Morgen geglaubt, auf dem Weg der Besserung zu sein. Die blauen Flecken waren zu einem ungesunden Gelbgrün verblasst, und die Schwellung war zurückgegangen. Sie konnte den Arm sogar fast bis auf Schulterhöhe anheben.

„Alles okay?“

Sie drehte sich um und sah Rick auf sich zukommen, dank des herrlichen Wetters einmal mehr mit nacktem Oberkörper. Sie zuckte zusammen, als bei der plötzlichen Bewegung ein Schmerz durch ihren Arm schoss. „Alles prima“, sagte sie missmutig und blies sich den Pony aus dem Gesicht.

Rick setzte sich neben sie. „Komm schon, was ist los. Erzähl’s Onkel Rick.“

„Ich habe die Worte im Kopf, aber ich kann sie nicht schnell genug tippen.“

„Ich könnte doch für dich tippen“, schlug er vor. „Du kannst mir diktieren.“ Er lächelte sie an. „Wie Barbara Cartland.“

Stella verdrehte die Augen.

Rick lächelte amüsiert. „Das heißt wohl Nein. Was noch?“

„Mein Arm tut weh“, klagte sie. „Und mein Kopf juckt, weil ich ewig keine Haare gewaschen habe, und ich kann mich nicht mal richtig kratzen, weil meine Fingerkuppen wund sind.“

Rick konnte sein Glück kaum fassen. Er hatte die Szene, in der Vasco Lady Mary das Haar wäscht, ungefähr ein Dutzend Mal gelesen. Sein Blick wanderte träge über Stellas Haar, das notdürftig von einer Plastikspange zusammengehalten wurde. „Na, dabei kann ich dir doch helfen“, sagte er bemüht nüchtern.

Sie starrte ihn an. „Das Angebot, mir beim Duschen zu helfen, war schon beim ersten Mal nicht besonders witzig“, motzte Stella.

„Ach, irgendwie schon.“ Rick zuckte die Schultern und hob die Hand, um erneuten Prostest aus ihrem Mund zum Verstummen zu bringen. „Aber so meinte ich das gar nicht. Ich wasche es hier an Deck.“ Er lächelte. „Ich verspreche, du bleibst vollständig bekleidet.“

Stella erstarrte, als der Groschen langsam fiel. Noch eine Vasco-und-Mary-Szene. Sie suchte in seinem meerblauen Blick nach einer versteckten Bedeutung. Nach einem Zeichen, dass sein Angebot nicht so unschuldig war, wie er tat.

„Du meinst mit einem … Eimer?“, fragte sie schließlich.

Rick biss sich auf die Wange, um ihrem prüfenden Blick standzuhalten, und spielte den Ahnungslosen. „Nein …“ Er deutete zum Achterdeck. „Mit der Dusche.“

Behutsam drehte sie sich zu dem metallenen Duschkopf um, unter dem sie ihn neulich Nacht beobachtet hatte. Ihre Wangen brannten bei der Erinnerung daran.

Rick beschloss, ihr Zögern gnadenlos ausnutzen. Das Boot wurde per Autopilot gesteuert. „Geh schon mal vor, ich hole dein Shampoo.“

Stella nickte wie betäubt und blieb reglos auf ihrem Stuhl sitzen, als Rick verschwand. Durfte sie es sich ein drittes Mal gönnen, ihre erotischen Fantasien auszuleben?

War das nicht unmoralisch?

Verdorben?

Rick kam zurück und sah lächelnd, dass sie noch immer wie angewurzelt auf ihrem Stuhl saß. „Na, komm schon“, rief er. „Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“

Stellas Blick fiel auf seinen nackten Rücken, als er zum Achterdeck ging. Wie von selbst stand sie auf und zog den Stuhl hinter sich her – doch sofort meldete sich ihr schlechtes Gewissen.

„Ich glaube, das ist keine gute Idee.“

Rick konnte sich nicht erinnern, je einen so schwachen Protest gehört zu haben. „Spinnst du? Das ist eine brillante Idee. Die Sonne scheint, es weht eine leichte Brise, dein Haar wird schnell wieder trocknen.“

Außerdem willst du es doch auch.

Er nahm ihr den Stuhl aus den schlaffen Fingern und stellte ihn unter den Duschkopf. Als er die perfekte Position gefunden hatte, schien sie sich in ihr Schicksal gefügt zu haben. Sie setzte sich brav hin, rutschte tief in den Stuhl, sodass nur Hals und Schultern über die Lehne ragten, und neigte den Kopf zurück. Der Sarong entblößte ihre Schenkel, fest und glatt, die vormals milchweiße Haut leicht gebräunt.

Er drehte das Wasser auf und duschte sich selbst kurz ab, bevor er den Duschkopf aus der Halterung nahm, sich hinter Stella stellte und den Strahl auf ihr Haar richtete. Sie erschrak ein wenig, und er schluckte, als er bemerkte, wie sich ihre Brustspitzen unter dem Sarong aufrichteten. „Zu kalt?“

Stella versuchte, ihren Herzschlag zu beruhigen, als er mit den Händen durch ihr Haar fuhr. „Nein. Ich war nur nicht darauf gefasst.“

„Sorry“, sagte er, den Blick auf ihre Brüste geheftet. „Ich hätte dich vorwarnen sollen.“

Ich hätte mich selbst vorwarnen sollen. Schon spürte er eine Enge in den Lenden.

Stella schloss fest die Augen, als er sich Strähne für Strähne ihrem Haar widmete. Wenn seine Finger gelegentlich ihre Kopfhaut streiften, presste sie die Schenkel zusammen, weil sich die Berührung direkt zu einer Stelle zwischen ihren Beinen fortsetzte.

Wie Akupunktur. Oder Reflexzonenmassage.

Rick stellte das Wasser aus, zwang sich, den Blick von ihren Schenkeln und Brüsten loszureißen und sich stattdessen auf ihr Haar zu konzentrieren.

„Jetzt das Shampoo“, sagte er, als er einen großzügigen Klecks in seine Handfläche drückte und eine Kokosduftwolke ihn direkt in den Solarplexus traf. Das Shampoo war wie flüssige Seide in seinen Händen, und er verteilte es gleichmäßig in ihrem nassen Haar, bevor er es aufschäumte.

Stella hätte fast geseufzt. Erst waren seine Bewegungen forsch, doch nach einer Weile änderte sich das, und sie wurden langsamer, feiner, und seine Fingerspitzen schleiften träge über ihre Kopfhaut. Sie spürte es bis in die Zehenspitzen, jede Körperzelle in Alarmbereitschaft. Unbeabsichtigt wölbte sie den Rücken, ein Stöhnen unterdrückend.

Das Shampoo schäumte zwischen Ricks Fingern, während sie sich auf dem Stuhl wand. Nichts wünschte er sehnlicher, als die seifigen Hände auf ihre Schultern gleiten zu lassen, den Sarong abzustreifen, ihre Brüste einzuseifen, die Brustspitzen zu liebkosen, bis sie in seinen Armen kam.

Er war härter als das Holz unter seinen Füßen.

„Du hast wunderschönes Haar“, murmelte er. Schon als Kind war er davon fasziniert gewesen, vor allem beim Tauchen, wenn ihr Haar ihr Gesicht umsäumte wie eine Krone. „Wie die Meerjungfrau, die du immer sein wolltest.“

Stella schlug die Augen auf und dachte an diese Zeit der Unschuld zurück. „Damals war alles so einfach“, murmelte sie.

Rick nickte. Damals war er einfach Rick gewesen, und sie Nathans Tochter, ohne Brüste und Becken. Jetzt war er Vasco Ramirez, Nathan war tot, und sie besaß Brüste, Becken und eine schmutzige Fantasie.

Er massierte ihren Haaransatz, wie Vasco bei Mary, fuhr mit den Daumen in ihren Nacken, tiefer, massierte die Halsmuskeln, und noch tiefer, bis zu ihren Schultern.

„Mmm“, stöhnte sie. „Das fühlt sich gut an.“

Sie konnte nicht anders, es war ihr einfach so herausgerutscht. Denn es fühlte sich wirklich gut an, es fühlte sich überall so gut an, dass sie sich am liebsten umgedreht und ihn geküsst hätte, egal ob sie Freunde waren oder Geschäftspartner.

Rick schluckte. „Du bist verspannt“, meinte er leichthin, obwohl er sich selbst ziemlich verspannt fühlte. Und er massierte all die kleinen Knoten in ihren Halsmuskeln fort, weil sie dabei diese kleinen kehligen Laute ausstieß, nach denen er süchtig war.

Als er schließlich die Dusche anstellte, war seine Erektion so hart wie die Schiffsplanke, auf der Vasco seine Gefangenen ins Verderben zu stoßen pflegte.

Stella hatte die Hände zwischen die Beine geschoben, und er fragt sich die ganze Zeit, ob sie wirklich nur ihren Sarong zusammenhielt.

In seiner Fantasie war sein Kopf längst zwischen ihren prallen Schenkeln verschwunden, und als er fertig war und sie das gebürstete Haar in der Sonne trocknete, hatte er das Gefühl zu zerspringen.

„Vielen Dank“, rief sie ihm nach.

Rick winkte, ohne sich umzudrehen, weil er von vorn vorerst nicht gesellschaftsfähig war. Das Bild, wie sie sich vor ihm mit gereckten Brüsten räkelte, hatte sich auf seine Netzhaut gebrannt. „Gern geschehen“, murmelte er leise zu sich selbst und verschwand, so schnell ihn seine Beine trugen, unter Deck.

Um Mitternacht gab Rick den Versuch, schlafen zu wollen, auf und kletterte an Deck, um eine Weile in die Sterne zu blicken. Das hatte immer eine beruhigende Wirkung auf ihn, und die hatte er bitter nötig.

Die Nacht war still, das sanfte Schaukeln des Bootes kaum spürbar, und Rick konnte den eigenen Atem hören. Der abnehmende Mond warf einen schmalen Lichtstrahl auf die Wasseroberfläche.

Rick lag mit angezogenen Knien auf dem Rücken und atmete tief durch.

Er erinnerte sich daran, wie er mit fünfzehn in Dartmouth aufgetaucht war, einen Rucksack auf dem Rücken und vier Pfund in der Tasche. Er war am Vortag in London losgetrampt. Nathan hatte vom Deck der Persephone auf ihn hinuntergeblickt und gesagt: „Sophia hat mich angerufen.“

Trotzig hatte er Nathans Blick erwidert. Er liebte seine Großmutter, aber sie verstand nicht, dass ihm das Meer im Blut lag. Sie wollte, dass er studierte, doch alles, was er wollte, war eine Meeresbrise im Haar. Er rebellierte. Schwänzte. Flog von der Schule.

„Ich gehe nicht zurück. Mein Leben ist das Meer.“

Nathan hatte ihn lange angesehen. „Das Leben auf See ist nicht so glorreich, wie du denkst. Du gehörst in die Schule.“

Er hatte den Kopf geschüttelt. „Ich gehöre hierher. Die Firma gehört zur Hälfte mir.“

Sie wussten beide, dass er das Erbe offiziell erst antreten durfte, wenn er volljährig war, doch das ließ Nathan unerwähnt.

„Das stimmt. Aber bist du Manns genug?“

Rick nickte entschlossen. „Ja, Sir.“

Nathan verschränkte die Arme. „Wenn du an Bord kommst: Hier habe ich das Sagen.“

„Aye, aye, Käpt’n.“

„Und du machst die Schule fertig.“ Nathan hob die Hand, als Rick protestieren wollte. „Ein richtiger Mann weiß, wie wichtig Bildung ist, Rick.“ Er stemmte die Hand auf die Hüfte und sagte: „Mach, was du willst.“

Rick hatte sich zunächst gesträubt, doch dann schaffte er mit Ach und Krach per Fernstudium seinen Abschluss und war Nathan bis heute dankbar.

Erst Jahre später fand er heraus, dass Nathan und Sophia eine Vereinbarung getroffen hatten, während er unterwegs nach Dartmouth war. Nathan hatte versprochen, sich um Rick zu kümmern und dafür zu sorgen, dass er seinen Schulabschluss machte, und Sophia hatte sich im Gegenzug bereit erklärt, die Zügel etwas lockerer zu lassen.

Nathan hatte größten Respekt vor Ricks spanischer Großmutter, die sich selbstlos ihres Enkels angenommen hatte, als die stürmische Affäre zwischen ihrer Tochter Carmela und Anthony Granville vorbei war und keiner den Jungen haben wollte. Inzwischen wusste Rick, wenn Sophia verlangt hätte, dass Nathan ihren Enkel zurückbringt, wäre er im Handumdrehen wieder in London gewesen.

Nathan sagte immer, man solle sich nie zwischen eine Frau und ihr Kind stellen, doch er hatte sich trotzdem für Rick eingesetzt. War ihm ein Vater gewesen. War seine Familie gewesen, als Sophia im darauffolgenden Jahr verstarb.

Und er hatte nicht vor, es Nathan zu danken, indem er etwas mit seiner Tochter anfing.

Er dankte es Nathan, indem er sich auf das konzentrierte, was zählte: das Meer, die Firma, Inigos Schatz.

Auch wenn es ihm schwerfiel – mit einem Schiff, das sich praktisch selbst segelte, und einem leicht bekleideten ersten Offizier. Doch in wenigen Tagen würden sie ihr Ziel in Mikronesien erreichen, und dann gab es andere Dinge zu tun, als die halb nackte Stella anzustarren.

Dann würden sie beide beschäftigt sein. Den ganzen Tag tauchen und über Seekarten brüten, auf der Suche nach La Sirena.

Unterdessen musste er aufhören, in Piratenherz zu lesen.

Stella wälzte sich unruhig in ihrem Bett hin und her und lauschte auf die Geräusche an Deck. Vor zwanzig Minuten hatte sie Ricks Schritte gehört, nachdem sie stundenlang an die Decke gestarrt und versucht hatte, nicht an ihn zu denken.

Sie musste sich zusammenreißen. Keiner von ihnen würde über zwanzig Jahre Freundschaft aufs Spiel setzen. Am besten ging sie an Deck und brachte alles wieder ins Lot. Sich neben ihn zu legen und in die Sterne zu blicken, wie sie es schon hundert Mal zuvor getan hatten, würde alles wieder in die richtige Perspektive rücken.

Als Rick das Glöckchen hörte, schloss er die Augen und bat Neptun, ihm beizustehen.

„Hey“, sagte er, als Stella näherkam.

„Hey“, erwiderte sie und blieb neben ihm stehen. „Kannst du nicht schlafen?“

„So ähnlich“, meinte er ausweichend, als ihr Gesicht in seinem Blickfeld erschien. Sie trug eine dreiviertel lange, graue Hose aus dünnem Stoff und ein hautenges Top.

„Ich auch nicht. Hast du Lust auf Gesellschaft?“

„Klar.“

Er würde sowieso schon in der Hölle brennen, da kam es auf eine Lüge mehr oder weniger nicht an.

Stella legte sich in sicherem Abstand neben ihn. „Schon eine Sternschnuppe gesehen?“

Er nickte. „Vorhin.“

„Hast du dir was gewünscht?“, fragte sie und wandte ihm das Gesicht zu.

„Ich …“

„Stopp“, fiel Stella ihm ins Wort und legte ihm unwillkürlich den Finger auf die Lippen. „Nicht sagen.“

Rick verstummte. Es gab so einiges, das er nicht sagen durfte.

Oder tun.

Stellas Blick fiel auf seinen Mund, während ihr Finger wie von selbst die Konturen seiner Lippen nachzog.

Rick öffnete die Lippen, eine stille Einwilligung. Er schluckte, Dschungeltrommeln im Kopf, in der Brust. „Stella.“

„Hmm?“, fragte sie abwesend, ohne seinen Mund aus den Augen zu lassen. Vascos Mund.

Rick versuchte es erneut. „Ich glaube, wir sollten …“

Diesmal unterbrach sie ihn nicht mit dem Finger. Diesmal benutzte sie ihren Mund, und es traf Rick völlig unvorbereitet. Er hatte sich immer vorgestellt, ihr erster Kuss wäre sanft und zärtlich. Zaghaft. So jedenfalls hätte er sie mit sechzehn geküsst. Doch es war nichts zaghaft daran, wie sie sich ihm öffnete.

Der Kuss war wild und leidenschaftlich, keine Raffinesse, nur Gefühl, und sein unterdrücktes Verlangen drängte wie eine Luftblase an die Oberfläche.

Stella stöhnte, als Fantasie und Realität in einem Rausch der Lust verschmolzen und jede Zelle ihres Körpers zu implodieren schien.

Heißes Verlangen durchströmte ihre Adern, und sie presste die Beine zusammen, als das lustvolle Prickeln schier unerträglich wurde.

War es möglich, nur durch einen Kuss zum Orgasmus zu kommen?

Sie hatte sich diesen Kuss oft genug ausgemalt, erst als Teenager, dann als Schriftstellerin beim Verfassen der sinnlichen, detaillierten Liebesszenen.

Mit dem Daumen streichelte er ihre Schläfen, und ihr wurde ganz schwindelig davon. Rastlos bewegte sich ihr Becken, dem Höhepunkt immer näher.

Rick hatte viel Zeit seines Lebens damit verbracht, sich nicht vorzustellen, wie es wäre, Stella zu küssen, und jetzt wollte er nie wieder damit aufhören.

Plötzlich ergab alles einen Sinn.

Der kleine wimmernde Laut, der sich ihrer Kehle entrang.

Und der süße Kokosduft.

Sie in seinen Arme zu halten, sie an sich zu pressen, sie in Fleisch und Blut zu spüren, die hungrige Leidenschaft in ihrem Kuss … Alles ergab einen Sinn.

Er wollte mehr. Er wollte alles. Er wollte Stella ganz.

Er fasste sie am Arm, um sie noch näher an sich zu ziehen, sie an sich zu pressen.

Stella schrie auf und wich zurück …