1. KAPITEL

Sechs Monate später …

Noch immer blinkte der Cursor auf derselben leeren Seite. Auch wenn es Stella eher so vorkam, als würde er spöttisch blinzeln.

Es gab keine Worte. Keine Story.

Keine Figuren in ihrem Kopf. Keine Handlung, die wie ein Film vor ihrem inneren Auge ablief. Keine brillanten Dialogfetzen, die zu Papier gebracht werden wollten.

Nur Stille.

Und obendrein Trauer.

Und gleich würde Diana kommen.

Prompt verkündete ein Klopfen an der Tür die Ankunft von Stellas bester Freundin. Normalerweise wäre sie aufgesprungen, um Diana zu begrüßen, aber heute nicht. Einen Moment lang erwog sie sogar, die Tür überhaupt nicht zu öffnen.

Heute kam Diana nicht als ihre Freundin.

Heute kam Diana im Auftrag des Verlags.

Und Stella hatte ihr das erste Kapitel versprochen …

„Ich weiß, dass du da drin bist. Soll ich etwa die Tür eintreten?“

Die Stimme klang gedämpft, aber entschlossen. Sich ihrem Schicksal ergebend, durchquerte Stella das Zimmer – von ihrem Arbeitsbereich in der Fensternische mit dem spektakulären Hundertachtzig-Grad-Blick auf die zerklüftete kornische Küste bis zur Haustür. Nachdem sie tief Luft geholt hatte, schob sie den Riegel zurück und öffnete.

Diana breitete die Arme aus. „Süße“, murmelte sie und drückte Stella so fest an sich, dass diese kaum noch Luft bekam. „Wie geht es dir? Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.“

Stella war plötzlich so froh, ihre Freundin zu sehen, dass ihr die Tränen kamen. Sie kannten sich erst seit der Uni, aber Diana hatte seit der Beerdigung fast jeden Abend angerufen und kam regelmäßig vorbei.

„Nicht so besonders“, gestand sie, an Dianas Schulter gelehnt.

„Natürlich nicht.“ Diana strich ihr tröstend über den Rücken. „Dein Vater ist gestorben, das ist ganz normal.“

Diana wusste, wovon sie sprach: Ihre Eltern waren gestorben, kurz bevor die Freundinnen sich kennengelernt hatten.

„Ich will mich aber nicht so fühlen.“

Diana drückte sie noch fester. „Das geht vorbei. Irgendwann. Solange musst du tun, was du tun musst. Und ich denke, wir fangen mit einem schönen Glas Rotwein an.“

Diana hielt die Flasche Shiraz hoch, die sie in Penzance gekauft hatte, auf dem Weg zu dem windumtosten Cottage auf den Klippen, in dem ihre Freundin allein wohnte, seit ihr verklemmter Verlobter Dale die Flucht ergriffen hatte, weil er mit dem Erfolg von Piratenherz nicht klarkam.

Natürlich behauptete Stella, dass die spektakuläre Küste sie beim Schreiben inspirierte, doch da noch immer kein neuer Roman vorlag, kaufte Diana ihr das nicht ab.

Stella sah auf die Uhr und lachte zum ersten Mal an diesem Tag. Es war zwei Uhr nachmittags. „Ein bisschen früh, findest du nicht?“

Diana schnalzte missbilligend mit der Zunge. „Ach was, man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Außerdem ist November, es ist praktisch schon dunkel.“

Ohne eine Antwort abzuwarten, zog Diana ihren Rollkoffer ins Haus und trat die Tür mit den zehn Zentimeter hohen Absätzen ihrer Stiefel hinter sich zu. Dann streifte sie den wadenlangen, figurbetonten Ledermantel und ihren Louis-Vuitton-Schal ab – alles ohne die Flasche abzustellen – und darunter kamen eine dunkelgraue Hose und ein hellrosa Kaschmir-Pullover zum Vorschein, der perfekt zu ihren vollen, glänzenden dunklen Locken passte.

Diana war typisch London.

Stella sah an sich hinunter und kam sich furchtbar schlampig vor. Graue Jogginghose, ein mit Kaffee bekleckerter Kapuzen­pullover und flauschige Schlappen. Ein achtlos gebundener Pferdeschwanz.

Stella war typisch einsiedlerische Schriftstellerin.

Was ja ganz romantisch gewesen wäre, wenn sie in den letzten achtzehn Monaten etwas geschrieben hätte.

„Setz dich“, befahl Diana, während sie Weingläser holen ging.

Stella setzte sich auf ihr rotes Ledersofa, auch um sich weniger klein vorzukommen. Stella war fast einen Meter achtzig groß und kräftig gebaut wie eine Amazone oder Wonder Woman. Sie dagegen war nur knapp über einen Meter fünfzig, blond und pummelig.

„Da“, sagte Diana, drückte ihr ein riesengroßes Glas Rotwein in die Hand und stieß mit ihr an, bevor sie sich gegenüber auf den Schalensessel setzte. „Darauf, dass es dir bald wieder besser geht“, sagte sie und trank einen großzügigen Schluck.

„Darauf trinke ich“, stimmte Stella zu und nahm einen etwas maßvolleren Schluck. Sie starrte in die Tiefen ihres Weinglases, um dem Blick ihrer Freundin nicht zu begegnen.

„Du hast das Kapitel nicht, stimmt’s?“, fragte Diana, als das Schweigen unerträglich wurde.

Stella blickte Diana über den Rand ihres Glases an. „Nein“, gestand sie. „Tut mir leid.“

Diana nickte. „Schon gut.“

Stella schüttelte den Kopf und sprach endlich aus, was ihr auf der Seele lag, seit sie unter der Schreibblockade litt. „Was ist, wenn ich nur dieses eine Buch in mir hatte?“

Diese Angst plagte sie, seit sie ihren ersten Roman beendet hatte.

Vasco Ramirez wollte geschrieben werden. In all seiner Freibeuterpracht war er direkt aus ihrem Kopf auf die Seiten stolziert. Es war eine Freude gewesen, ein Geschenk.

Und jetzt?

Jetzt wollten die Leute einen neuen Piraten, und sie hatte keinen.

Diana hob beschwichtigend die Hand. „Unsinn“, sagte sie energisch.

„Aber wenn es doch so ist?“

Stella fürchtete das Urteil ihrer Lektorin Joy. Dass ihr nicht gefallen würde, was sie schrieb. Dass sie darüber lachen würde.

Alles war wie ein Traum gewesen – ein sechsstelliger Vorschuss, die New-York-Times – Bestsellerliste, Hollywood.

Vielleicht war es Zeit aufzuwachen?

Diana zeigte mit dem Finger auf sie. „So. Ein. Quatsch.“

Stella spürte, wie der Shiraz in ihrem Blut ihr schlechtes Gewissen noch beflügelte. Diana hatte sie von Anfang an bei ihren schriftstellerischen Ambitionen unterstützt und sie darin bestärkt, sich von ihrem Job als Lehrerin vorübergehend beurlauben zu lassen, um das verdammte Buch zu schreiben.

Sie war die Erste, die es zu lesen bekam. Die Erste, die sein Potenzial erkannte und darauf bestand, es ihrer Chefin zu zeigen, die genau das suchte, was Stella geschrieben hatte – einen saftigen historischen Liebesroman. Als Lektoratsassistentin eines Londoner Verlags war Diana überzeugt, einen Bestseller zu landen, und Stella konnte ihr Glück kaum fassen, als Dianas Prophezeiung sich bewahrheitete.

Sie lächelte ihre Freundin an, in der Hoffnung, nicht so verzweifelt zu wirken, wie sie sich fühlte. „Wirst du gefeuert, wenn du mit leeren Händen nach London zurückkommst?“

Diana schüttelte den Kopf. „Nein. Lass uns heute Abend nicht darüber reden. Heute Abend werden wir uns besinnungslos betrinken, morgen reden wir über das Buch. Einverstanden?“

Stella spürte, wie sich die Verkrampfung in ihren Schultern löste und lächelte. „Abgemacht.“

Zwei Stunden später wurde es draußen tatsächlich schon dunkel. Der Wind heulte um das Haus, rüttelte an den Fensterläden, was die beiden Frauen, die es sich vor dem Kamin gemütlich gemacht hatten, jedoch kaum bemerkten. Sie waren bei der zweiten Flasche Wein und fast am Ende einer großen Tüte Chips angelangt und lachten lauthals über alte Geschichten von der Uni.

Ein lautes Klopfen an der Tür ließ sie beide aufschrecken, dann brachen sie sofort wieder in schallendes Gelächter aus.

„Mein lieber Schwan.“ Diana fasste sich an die Brust. „Ich glaube, ich hatte gerade einen Herzinfarkt.“

Stella lachte, während sie ein wenig schwankend aufstand. „Quatsch. Rotwein ist gut fürs Herz.“

„Nicht in solchen Mengen“, widersprach Diana, und Stella brach erneut in Gelächter aus, als sie zur Tür ging.

„Warte, wo willst du hin?“, murmelte Diana und kam mühsam auf die Beine.

Stella runzelte die Stirn. „Die Tür aufmachen.“

„Und wenn es ein zweiköpfiges Ungeheuer ist?“ Trotz ihres Alkoholpegels sah Diana den Regen gegen das Fenster hinter Stellas Schreibtisch schlagen. „Das ist der Inbegriff einer finsteren stürmischen Nacht da draußen.“

Stella hatte Schluckauf. „Oh, ich wusste nicht, dass Monster anklopfen, aber ich werde es höflich bitten zu verschwinden.“

Diana fing an zu gackern, und Stella lachte noch immer, als sie die Tür öffnete.

Vor ihr stand Vasco Ramirez. In Fleisch und Blut.

Das Licht aus dem Cottage badete sein gebräuntes Gesicht, fiel auf seinen Mund und erleuchtete seine blauen Bilderbuchaugen. Sein schulterlanges Haar, ein Relikt seiner Flegeljahre, hing in feuchten Strähnen herab, und an seinen unglaublich dunklen Wimpern hatten sich Wassertropfen gesammelt.

Er glich dem Piraten bis aufs Haar.

„Rick?“ Ihr stockte der Atem. Die Erinnerung an einen verunglückten Kuss vor fast zehn Jahren flatterte wie ein Schmetterling durch ihr Gehirn.

Rick lächelte. „Was ist denn das für eine Begrüßung?“, neckte er die perplexe Stella, als er sie wie immer zur Begrüßung auf beide Wangen küsste.

Ihr Kokosduft umhüllte ihn. Nathan hatte Stella jedes Jahr zum Geburtstag Kosmetikprodukte geschenkt, die nach Kokos rochen, und sie hatte die Cremes brav benutzt. Und tat es offensichtlich noch immer.

Stella schloss die Augen und wartete darauf, dass die Engel in ihrem Kopf Halleluja sangen, während das Aroma von Salz und Meer sie umhüllte. Denn er war so perfekt, dass nur der Himmel ihn geschickt haben konnte.

Sie blinzelte, als er sich von ihr löste. „Ist alles in Ordnung?“, fragte er.

Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Was weder mit seinem verführerischen Dreitagebart zu tun hatte noch mit der Berührung seiner Lippen, sondern mit seinem letzten Besuch.

Rick kam nicht einfach so vorbei.

Das letzte Mal, als er unangekündigt vor ihrer Tür stand, hatte er keine guten Neuigkeiten gehabt.

„Ist Mum …?“

Rick legte die Finger an ihre Lippen. „Pst. Linda geht es gut, Stella. Alles ist gut.“

Fast wäre sie vor Erleichterung in seine Arme gesunken. Lächelnd zog er seine Hand zurück, und sie erwiderte sein Lächeln, und während der Wind um sie herum toste und der Regen ihnen ins Gesicht schlug, war es, als wären sie wieder Kinder an Bord der Persephone.

„Also doch kein Moormonster?“, unterbrach Diana den magischen Moment.

Rick blickte über Stellas Schulter in das vage vertraute Gesicht einer attraktiven Brünetten. Sie betrachtete ihn mit unverhohlener Bewunderung, und er lächelte amüsiert.

Gott, er liebte eben Frauen.

Vor allem Frauen wie diese. Unkomplizierte Frauen, die gern lachten und sich amüsierten und flirteten, ohne gleich Bedingungen zu stellen.

„Schätzchen, ich bin alles, was du willst“, versprach er vollmundig, während er sich an Stella vorbeizwängte und die Hand ausstreckte. „Hi. Rick. Ich glaube, wir sind uns schon irgendwo begegnet.“

Lächelnd schüttelte Diana seine Hand. „Ja. Auf der Beerdigung. Diana“, stellte sie sich vor.

„Ach, ja, richtig“, sagte er und versuchte, Zeit zu gewinnen. Er war so schockiert und fassungslos gewesen, so damit beschäftigt, sich um Stella und Linda zu kümmern, dass er nicht viel mitbekommen hatte. „Du arbeitest für Stellas Verlag?“

Diana lächelte, und ihre Augen blitzten. Sie schien nicht im Geringsten gekränkt, dass Rick Schwierigkeiten hatte, sich an sie zu erinnern. „Hat ja eine Weile gedauert.“

Stella beobachtete interessiert, wie ihre beste Freundin und ihr – tja, was war Rick eigentlich? Ein alter Freund der Familie? Geschäftspartner ihres verstorbenen Vaters? Der Bruder, den sie nie hatte? – locker flirteten. Warum konnte sie nicht so sein? Der einzige Mann, in dessen Gesellschaft sie sich richtig wohlfühlte, war ein von ihr erdachter Pirat.

Ein dicker Regentropfen, der ihr in den Nacken fiel, riss sie aus ihren Gedanken, und sie registrierte, dass die Tür noch immer offenstand.

„Welchem Umstand verdanken wir das Vergnügen?“, fragte sie, während sie die Tür kopfschüttelnd schloss und sich zu den Turteltauben gesellte.

Rick blickte auf Stellas süße kleine Stupsnase herab. „Na ja“, er zwinkerte ihr zu, bevor er sich wieder Diana zuwandte, „ein Vogel hat mir gezwitschert, dass hier eine Party steigt.“

Diana lachte. Sie sah Stella an. „Du hast mir nie erzählt, dass er übersinnliche Kräfte besitzt.“ Dann eilte sie in die Küche, um noch ein Glas zu holen.

Rick sah ihr nach, bevor er sich zu Stella umdrehte. Sie blickte zu ihm auf, und ein vertrautes Verlangen, sie in seine Arme zu schließen, stieg in ihm auf. „Wie geht es dir, Stella?“, murmelte er.

Für Rick war der Tod von Nathan Mills fast noch schwerer zu verkraften gewesen als der seines eigenen Vaters. Nathan war sein Vormund und Mentor gewesen, seit Anthony Granville bei einer Kneipenschlägerei ums Leben kam, als Rick sieben war.

Stella zuckte die Schultern und versank förmlich in seinem mitfühlenden Blick. Manchmal fiel es ihr schwer, den wilden Bad Boy ihrer Fantasie mit dem fleißigen, verantwortungsbewussten, verständnisvollen Mann, der vor ihr stand, unter einen Hut zu bringen.

„Ich hasse es“, flüsterte sie.

In Wahrheit hatte Stella ihren Vater nur noch selten gesehen, seit sie angefangen hatte zu studieren.

Ein flüchtiger Besuch zu Weihnachten, ab und zu in der Post ein Umschlag mit einer perfekten Muschel, die er irgendwo am Strand gefunden hatte, eine gelegentliche E-Mail mit Fotos von ihm und Rick und einem erstaunlichen Fund vom Meeresgrund.

Doch allein das Wissen, dass er da draußen war und seinem Kindheitstraum von gesunkenen Galeonen folgte, hielt ihre Welt im Gleichgewicht.

Und jetzt, seit seinem Tod, war nichts mehr, wie es einmal war.

„Ich weiß.“ Rick legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie an seine Brust. „Ich hasse es auch.“

Und das tat er. Er hasste es zu tun, was er tat, ohne den einen Menschen an seiner Seite zu haben, der verstand warum. Er hasste es, sich umzudrehen, um etwas zu Nathan zu sagen, und er war nicht da. Er vermisste Nathans Weisheiten und seinen derben Humor.

Überwältigt von Trauer schloss Rick die Augen und genoss die Umarmung, die Vertrautheit, genoss es, wie perfekt Stella sich an ihn schmiegte, ihr Kopf genau unter seinem Kinn, ihre Wange an seiner Brust, genoss ihren Kokosduft.

Als Kinder war er der Pirat gewesen und sie die Meerjungfrau, und sie hatten sich unermüdlich Geschichten um versunkene Schätze ausgedacht, stundenlang in ihrer eigenen Welt gelebt. Das enge Band zwischen ihnen hielt bis heute.

Natürlich gab es Zeiten in ihrer Jugend, wo ihre Spiele etwas gewagter geworden waren, und obwohl nie etwas zwischen ihnen passiert war, hatten sie mit dem Feuer gespielt.

Als er sie jetzt in seinen Armen hielt, erinnerte er sich daran.

„Okay, okay, ihr beiden“, neckte Diana, als sie Rick ein Glas Rotwein in die Hand drückte. „Heute Abend wird nicht Trübsal geblasen. Das ist die Bedingung. Esst, trinkt und seid fröhlich.“

Widerstrebend wich Rick einen Schritt zurück, froh, dass Diana ihn in die Wirklichkeit zurückholte. Seit Nathans Tod hatte er viel an Stella gedacht, mehr als sonst.

Und nicht alle Gedanken waren unschuldig gewesen.

Er nahm den Wein. „Guter Plan“, befand er und stieß mit beiden Frauen an.

Stella deutete auf die Sessel, die um den Kamin standen, und sah zu, wie Rick seinen marineblauen Dufflecoat abstreifte und eine ausgetragene Jeans und ein Rollkragenpullover mit Zopfmuster zum Vorschein kamen.

Selbst an Land sieht dieser Mann aus, als gehörte er aufs Meer.

Diana machte es sich gemütlich und musterte ihn gründlich, was durch ihren Alkoholpegel erschwert wurde. „Irgendwie kommst du mir bekannt vor“, lallte sie.

Stella gefiel der Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Freundin nicht. Sie kannte den Blick und wollte Diana bremsen.

„Ja, du kennst ihn von der Beerdigung“, sagte sie, in der Hoffnung, ihre Freundin von ihrer fixen Idee abzubringen.

Diana kniff die Augen zusammen. „Nein, nein“, meinte sie kopfschüttelnd. „Ich habe das Gefühl, als würden wir uns näher kennen.“ Schon bei der Beerdigung war er ihr irgendwie bekannt vorgekommen. Waren es die Augen? Oder sein Haar?

Rick lachte leise. „Vielleicht erinnere ich dich an deinen Großonkel Cyril?“

Diana lachte schallend, während sie an ihrem Wein nippte, und ihr Lachen klang, als würde Tinkerbell ihren Zauberstab schwingen.

Sie drohte mit dem Finger. „Netter Versuch, aber du siehst wirklich nicht aus wie irgendjemandes Großonkel.“ Erneut kniff sie die Augen zusammen und tippte sich dreimal mit dem Zeigefinger an die Nase. „Keine Sorge. Es fällt mir schon noch ein. Ich brauche nur“ – sie blickte auf ihr fast leeres Weinglas – „ein bisschen Zeit.“

Rick salutierte. „Ich bin gespannt auf das Ergebnis.“

Diana nickte. „Das solltest du auch sein.“

Rick sah zu Stella hinüber, die das Geplänkel still verfolgte. Der Feuerschein verwandelte die blonden Strähnen, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, in Gold, und wieder musste er an die Spiele ihrer Kindheit denken, als sie die Meerjungfrau war, die mit ihrem Gesang dafür sorgte, dass sein Schiff an den Felsen zerschellte. Wie viele Male war er mit ihr über Riffen geschnorchelt, ihre wallendes blondes Haar im Wasser genau wie das der mythischen Meerjungfrauen?

„Und?“, fragte er, als das Schweigen drückend wurde. „Hast du sie bekommen?“

Stella runzelte die Stirn. „Was soll ich bekommen haben?“

„Deine Hälfte.“

„Meine Hälfte von was?“

Rick lächelte jungenhaft. „Von der Schatzkarte.“

Stella schüttelte den Kopf. „Wovon zum Teufel redest du?“

Ricks Miene verfinsterte sich, als er sein halb leeres Glas auf dem Couchtisch abstellte. „Du hättest sie Anfang letzter Woche bekommen müssen. Ich habe sie vor Ewigkeiten abgeschickt.“

Diana verdrehte die Augen. „Wahrscheinlich ist sie längst da. Stella beantwortet ihre Post nicht.“

Stella wurde rot, als ihre scharfsinnige Freundin zur Garderobe im Flur ging, wo sich die ungeöffneten Briefe stapelten. Sie hatte jeden Kontakt mit der Außenwelt gemieden – vor allem mit ihrem Verlag. Sie öffnete keine Briefe. Sie ging nicht ans Telefon. Sie las keine E-Mails.

Diana durchsuchte den Posthaufen flüchtig und zog einen flachen gelben Umschlag, beklebt mit einer ganzen Briefmarkensammlung, hervor.

„Ist der von dir?“, fragte sie und hielt ihn hoch.

Rick nickte. „Aye, aye, meine Schönste.“

Jetzt war es Stella, die die Augen verdrehte.

Lachend setzte Diana sich wieder zu ihnen und warf Stella den Umschlag in den Schoß. Die markante Handschrift ihres Vaters stach ihr ins Auge, und sie berührte die Buchstaben ehrfürchtig.

„Wo hast du das her?“, wollte sie wissen.

„Ich bin endlich dazu gekommen, Nathans Schreibtisch aufzuräumen. Der Umschlag lag in einer Schublade. Für mich war auch einer da.“

Stella nickte geistesabwesend. Es war seltsam, sechs Monate nach seinem Tod Post von ihrem Vater zu bekommen. Als würde er eine Hand aus dem Grab strecken.

„Willst du es nicht aufmachen?“, fragte er leise.

Stella blickte ihn durch die blonden Strähnen ihres Ponys an. „Will ich das?“

Er nickte lächelnd. „Wenn es das ist, was ich glaube, ja. Dann bestimmt.“

Obwohl Stella daran zweifelte, drehte sie den Umschlag um und schlitzte ihn sauber auf. Nach einem aufmunternden Nicken von Rick zog sie eine Schutzhülle mit losen Zetteln heraus. Eine kurze Notiz ihres Vaters war mit einer Büroklammer daran geheftet.

Stella, mein Liebes,

dort liegt Inigos Schatz. Ich weiß es einfach.

Du und Rick, ihr werdet ihn finden.

Macht mich stolz.

Daddy

Stella schluckte schwer, und für einen Moment verschwamm die kühn geschwungene Schrift vor ihren Augen. Seit bei der Autopsie herausgekommen war, dass ihr Vater Krebs im fortgeschrittenen Stadium hatte, fragte sie sich, ob der Tauchunfall tatsächlich ein Unfall gewesen war.

Der Brief schien zu bestätigen, dass er gewusst hatte, dass seine Tage gezählt waren, und beschlossen hatte, auf seine Weise zu gehen.

Sie blickte zu Rick. „Hast du dasselbe bekommen?“

Er nickte, und sie widmete sich erneut dem Inhalt des Umschlags. Ganz hinten war eine von Hand gezeichnete Karte.

Genauer gesagt, eine halbe Karte.

„Was ist das?“, fragte sie, weil sie die Kritzeleien ihres Vaters am Rand nicht entziffern konnte.

„Die andere Hälfte hier von“, erklärte Rick, zog ein zusammengefaltetes Papier aus der Hosentasche und breitete es auf dem Couchtisch aus.

Diana beugte sich vor. „Ist das eine … Schatzkarte?“

Rick lächelte. „So ähnlich. Darauf sind die Stellen eingezeichnet, an denen das Schiff von Captain Inigo Alvarez gesunken sein könnte. La Sirena.

Mit angestrengter Miene versuchte Diana, sich an ihr Schulspanisch zu erinnern. „Die …?“

Die Meerjungfrau“, half Stella zu übersetzen.

„Wie aufregend“, seufzte Diana. „Inigo Alvarez …“ Sie ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen. „Klingt sexy.“

Rick lachte. „Das war er auch. Ein Pirat des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts, der als Robin Hood der sieben Weltmeere galt. Er nahm von den Reichen und gab es den Armen.“

Stella bedachte Rick mit einem tadelnden Blick. „Robin Hood der sieben Weltmeere …“ Sie schüttelte missbilligend den Kopf. „Das ist nur Seemannsgarn, und das weißt du. Ermutige sie nicht noch.“

„Schade“, meinte Diana bedauernd.

„Okay, vielleicht war er genauso blutrünstig und skrupellos wie die anderen, aber es gibt genug historische Quellen, die seine Existenz und die der Sirena belegen“, sagte Rick ruhig. „Früher hast du auch daran geglaubt“, erinnerte er Stella.

Sie hatten beide daran geglaubt. Jeder Bergungsunternehmer schien eine Geschichte über den geheimnisumwitterten Captain Alvarez zu kennen, und als Kinder hatte sie jede einzelne aufgesogen, bis der Pirat in ihrer Fantasie zum Leben erwacht war. Rick nahm die Unterlagen, die der Karte beigelegt waren, dieselben wie in seinem Umschlag: Nathans Nachforschungen über den Seeräuber, der sie beide fasziniert hatte.

„Was ist aus ihm geworden?“, wollte Diana wissen.

„Er ist einfach verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt“, erzählte Rick. „Damals kursierten Gerüchte, La Sirena sei bei einem Sturm gesunken, voll beladen mit erbeuteten Schätzen.“

„Wo?“, flüsterte Diana gebannt, während Stella sich betont gleichmütig zurücklehnte. „Irgendwo hier, stimmt’s?“, hakte sie nach, während sie Stellas Hälfte der Karte nahm und beide Teile auf dem Tisch zusammenfügte.

Rick schüttelte den Kopf. „Offenbar hat Nathan das geglaubt. Niemand weiß das genau, aber Nathan hatte als Schatzsucher einen siebten Sinn, und wenn er glaubt, dass Inigos Schiff hier irgendwo liegt, dann wette ich, da ist was dran.“

„Warum hat er dann nicht selbst danach gesucht?“ Stella stand auf und ging zur Küchenspüle, um ihr fast volles Weinglas auszukippen. Plötzlich war sie wütend auf ihren Vater.

Wenn er gewusst hatte, dass er sterben würde, warum hatte er ihr nichts gesagt? Warum hatte er sich keiner Therapie unterzogen? Warum war er nicht nach Hause gekommen?

„Wann hätte er die Zeit haben sollen, Stella, bei so vielen anderen Projekten?“

Der Vorwurf in seiner Stimme ließ sie aufblicken, und plötzlich fühlte sie sich schuldig. Sie hatten beide gewusst, dass Nathan vorhatte, Inigos Schatz zu finden … eines Tages … wenn er in Rente ging …

„Warum zum Teufel hat er uns je eine Hälfte der Karte gegeben? Er muss doch gewusst haben, dass ich dir meine gebe.“

Rick stand auf und kam auf sie zu. „Ich glaube, er wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, und vielleicht war das seine Art, dafür zu sorgen, dass wir in Kontakt bleiben. Ich glaube, er wollte, dass wir den Schatz gemeinsam suchen, und ich finde, wir sollten seinen Wunsch respektieren. Was meinst du? Die Wettervorhersage ist günstig. Willst du mit mir auf Schatzsuche gehen?“

Stella starrte Rick an. „Bist du verrückt? Meine Lektorin kriegt einen Herzinfarkt, wenn ich ihr das erzähle. Mein Buch ist überfällig, und ich habe wahrscheinlich die schlimmste Schreibblockade in der ganzen Literaturgeschichte, stimmt’s Diana?“

Sie blickte zu ihrer Freundin, die heftig nickte.

Er lächelte unbeeindruckt. „Nichts stimuliert die Muse so wie das weite Meer.“

Stella sah ihn fragend an. „Hast du keine anderen Bergungsaufträge?“

Rick zuckte die Schultern. „Damit werden die Jungs auch ohne mich fertig. Außerdem müssen wir erst etwas finden, bevor wir es bergen können. Eine kleine Erkundungsfahrt, ein paar Wochen, höchstens vier. Nur du und ich und das weite Meer. Salz, Seeluft und Sonne. Dann bekommst du mal ein bisschen Farbe“, drängte er mit Blick auf ihr blasses Gesicht. „Wie damals, als wir noch Kinder waren.“

Stella schüttelte den Kopf, obwohl der Gedanke sie reizte.

Sie waren keine Kinder mehr.

„Ich kann nicht. Ich muss ein Buch schreiben.“

„Ach, komm schon“, murmelte er, weil er ihre Sehnsucht spürte. „Du willst es doch auch. Du hast immer wie wild geschrieben, wenn du auf der Persephone warst. Erinnerst du dich? Ständig hast du was in dein Notizbuch gekritzelt.“

Sie erinnerte sich. Entweder hatte sie die Nase in ein Buch gesteckt oder sie hatte etwas geschrieben. Er hatte sie gnadenlos damit aufgezogen. Schon damals hätte sie erkennen müssen, dass sie dazu bestimmt war, Schriftstellerin zu werden. „Ich kann nicht. Nicht wahr, Diana?“

Diana sah Stella an, dann Rick, dann wieder zu ihrer Freundin. Wenn jemand einen Tapetenwechsel brauchte, dann Stella. Diese vier Wände waren offensichtlich zum Gefängnis für sie geworden, trotz der schönen Aussicht. Vielleicht würde eine Luftveränderung den Knoten lösen.

Und wenn sie auf dem offenen Meer am kreativsten war …

Joy würde einen Anfall kriegen, aber Diana hatte das Gefühl, dass ihre Freundin genau das brauchte. Hoffentlich behielt sie recht, denn man würde ihr den Kopf abreißen, wenn Stella sonnengebräunt, aber ohne Buch zurückkehrte.

Sie stand ebenfalls auf. „Ich finde, du solltest es tun. Ich finde, das ist eine tolle Idee.“

Stella blinzelte. „Was?“, sagte sie, während Ricks Lächeln drei Mal so breit wurde.

„Weise gesprochen“, bemerkte er und legte einen Arm um Dianas Schultern.

„Danke.“ Diana strahlte.

„Komm schon, Stella. Oder traust du dich nicht?

Stella verdrehte die Augen. Früher war ihre Freundschaft ein ständiges Kräftemessen gewesen. Wetten, du traust dich nicht, durch das Loch im Wrack zu schwimmen? Was ihr Vater streng verboten hatte. Wetten, du traust dich nicht, eine Münze vom Grund hochzuholen? Ebenfalls verboten. Wetten, du traust dich nicht, den Mantarochen zu berühren?

Es war ein Wunder, dass sie beide noch lebten.

Ihr fiel wieder ein, wann die Mutproben aufgehört hatten. An jenem Abend an Deck, als sie Rick herausgefordert hatte, sie zu küssen. Ob er sich daran erinnerte? Ein Blick in seine funkelnden Augen verriet ihr, dass er wusste, woran sie gerade dachte.

„Ich sag dir was“, sagte Rick und riss sich von der Erinnerung los, die ihn noch heute in seinen Träumen verfolgte, „entscheide dich nicht jetzt sofort. Schlaf erst mal drüber. Ich wette, morgen früh kommt es dir gar nicht mehr so verrückt vor.“

Stella hätte jederzeit darauf gewettet, dass ihr die Idee, nüchtern und bei Tageslicht betrachtet, noch viel verrückter vorkommen würde.

Vollkommen durchgeknallt.

Er beugte sich vor und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, dann zwinkerte er Diana zu. „Kann ich hier schlafen?“

Stella kam sich vor wie ein Kind zwischen zwei Erwachsenen. „Was, kein Mädchen in diesem Hafen, Matrose?“, fragte sie bissig. Rick mangelte es an Land nie an weiblicher Gesellschaft.

Rick lachte leise in sich hinein. „Jedenfalls kein Mädchen, das so gute Pfannkuchen macht wie du.“

„Aha. Dich interessieren also nur meine Pfannkuchen“, neckte sie ihn.

„Und deine Hälfte der Schatzkarte.“ Er lächelte. „Ich bin total erledigt. Ich brauche eine Dusche. Und eine Woche Schlaf. Liegen die Handtücher da, wo sie immer liegen?“, fragte er im Hinausgehen, ohne eine Antwort abzuwarten.

Diana sah ihm nach. „Wow.“

Stella nickte. „Ja.“

Sie drehte sich zur Küchenspüle und stützte die Ellbogen auf den kühlen Stahl, wobei sie aus dem großen Erkerfenster in die finstere Nacht blickte. Diana stellte sich neben sie und nippte ein weiteres Mal an ihrem Wein.

„Trägt er Kontaktlinsen?“, fragte sie. „Es ist erstaunlich, dass jemand mit so dunkler Haut so blaue Augen hat.“

Erneut nickte Stella. Sie war davon bezaubert, so lange sie denken konnte. „Ja, faszinierend, nicht?“

„In welchem Zimmer schläfst du, Diana?“

Beide Frauen drehten sich ertappt um, als sie Ricks Stimme hinter sich hörten. Er war nackt, bis auf das wahrscheinlich kleinste Handtuch der Welt, das er sich um die Hüfte gewickelt hatte und festhalten musste, weil es nicht ganz herum reichte. Seine blauen Augen wirkten noch blauer, wenn nur ein Hauch von einem Nichts davon ablenkte.

„In dem auf der linken Seite“, erklärte Stella nach einem flüchtigen Blick auf die sprachlose Diana.

„Super, dann nehme ich das andere.“ Er lächelte den beiden zu. „Wir sehen uns dann morgen, die Damen.“

Stella und Diana sahen ihm nach und erhaschten einen Blick auf seinen nackten Hintern, bevor er um die Ecke verschwand.

Auf der einen Pobacke prangte ein perfektes, kreisrundes Muttermal.

Diana schnappte nach Luft, als sie plötzlich begriff. Sonnengebräunte Haut, strahlend blaue Augen, langes verstrubbeltes Haar, sinnliche Lippen und ein sehr süßer Schönheitsfehler an einer sehr speziellen Stelle.

„Oh, mein Gott!“ Sie sah Stella an. „Darum kommt er mir so bekannt vor. Er ist es – er ist Vasco Ramirez!“