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Neue Welt
N eue Aussichten. Neue Gerüche. Neues Leben.
Das war Neuengland.
Und mein allerletzter Versuch, etwas aus meinem Leben zu machen. Etwas Besseres aus meiner Vergangenheit zu machen. Also warf ich meine Tasche über die Schulter und hob die beiden Koffer auf, die alles beinhalteten, was ich brauchte, um mein Abenteuer ›Neues Leben‹ zu starten. Ich war zuversichtlich und stolz darauf, es tatsächlich geschafft zu haben. Ich war in dieses Flugzeug gestiegen, um noch mal ganz von vorn anzufangen. Ja, das war eine gute Entscheidung gewesen.
Ich schaute auf, nickte mir selbst zu und setzte mich mit Zuversicht in Bewegung. Doch ich schaffte es genau zwei Schritte, bevor mich eine Herde von Passagieren von hinten anrempelte, sodass meine Tasche von der Schulter rutschte und ich über meine Füße stolperte.
»Toller Start, Keira«, murmelte ich zu mir selbst. Anstatt zum Ankunftsgate des internationalen Flughafens von Portland zu stolzieren und so auszusehen, als ob ich es mit der ganzen Welt aufnehmen könnte, zerrte ich nun meine Tasche über den Boden hinter mir her und wurde wie der Rest der Menge geschubst und in alle Richtungen geschoben. Aber nichts davon war von Bedeutung. Nicht als ich sah, dass sie bereits auf mich wartete.
»Libs!«, rief ich, während ich auf und ab hüpfte. Wahrscheinlich sah ich mit meiner schweren Tasche aus wie ein übergewichtiger Vogel, der krampfhaft versuchte, abzuheben.
»Kaz?« Meine Schwester spähte über die Köpfe, und sobald sich die erste Öffnung in der Menge auftat, sprintete ich hindurch. Ich rannte los mit meinen Koffern, die hinter mir her baumelten, weil sie mit ihren armseligen, kleinen Rädern nicht mithalten konnten. Verdammter Mist!, dachte ich und ließ mein Zeug einfach fallen, um endlich zu meiner Schwester und ihrem Ehemann zu gelangen, die beide auf mich warteten. Ich lief in Libbys Arme, während sie in meine kam. Wir umarmten uns, als hätten wir uns jahrelang nicht gesehen, obwohl es erst etwa neun Monate her war.
»Kazzy!«, kreischte sie mir ins Ohr. Ich lächelte, als ich meinen Spitznamen hörte. Ich guckte über ihre Schulter zu ihrem Mann Frank, der mir zuzwinkerte, bevor er sich davonmachte, um mein Gepäck vor dem Menschenansturm zu retten. Er war ein guter Kerl und einer, der, zu meinem Glück, gut genug gebaut war, um den Massen standzuhalten. Ich grinste, als ich sah, wie ihm jeder aus dem Weg ging.
„Hey Libs! Sieht aus, als hättest du mich vermisst“, sagte ich, während sie mir die Luft aus den Lungen presste.
»Oh, ich weiß nicht, vielleicht ein wenig.« Ich lachte und kniff ihr in den Arm, als ich endlich wieder frei atmen konnte.
»Ja, klar«, kommentierte ich und brachte sie zum Lächeln.
»Hey Kleine. Du weißt, dass wir in diesem Land nicht unbedingt einen Mangel an Felsbrocken haben, oder?«, meinte Frank und tat so, als hätte er mit seinen Gewichtheberarmen Schwierigkeiten, meine mickrigen Taschen zu tragen.
»Haha, sehr witzig, du harter Kerl!« Ich ließ meine Schwester los, um meinen großen Bär von Schwager in die Arme zu nehmen. Er umarmte mich so, als ob er mich richtig vermisst hätte und hob mich hoch, was mich dazu veranlasste, das klassische Mädchending abzuziehen und vor Überraschung zu quietschen. Ich hatte echt Glück, dass ich sehr gut mit dem Typ auskam, den meine ältere Schwester zu heiraten beschlossen hatte. Er stammte aus den USA, und ich fand seinen Akzent von Anfang an witzig. Leider führte das auch dazu, dass Libby wegzog, was sich in etwa so angefühlt hatte, wie Lebewohl zu meiner besten Freundin zu sagen.
Es war eine harte Zeit, insbesondere, nachdem gewisse Dinge in meinem eigenen Leben geschehen waren. Dinge, die wir aus diversen Gründen nie ansprachen. Aber wir alle wussten, dass es das war, was sie wollte. Abgesehen davon, dass sie ihre Familie vermisste, liebte sie das Leben hier. Und jetzt war ich dabei zu erfahren, warum.
»Also, wie haben Mom und Dad den großen Abschied verkraftet? Hat unsere arme Mutter wieder das Schniefding abgezogen?« Sie bezog sich darauf, wie unsere Mutter vehement versuchte, ihre Tränen in Schach zu halten. Das endete immer in einem niedlichen, schnupfenden Geräusch und erinnerte Libs und mich an ein süßes Schwein, das nach Trüffeln schnüffelte.
»Oh ja, es gab jede Menge Trüffel-Schnüffelei«, sagte ich, was Libby zum Lachen brachte. Wir machten uns über diese Angewohnheit schon seit unserer Kindheit lustig, als Libby auf einen Campingausflug mit der Schule gefahren war. Unsere Mutter hatte so kläglich versucht, nicht in Tränen auszubrechen, dass man hätte denken können, Libby wäre aufgerufen worden, in den Krieg zu ziehen.
Kichernd verließen wir den Flughafen, während ich meine Schwester in alle Neuigkeiten von zu Hause einweihte. Es war ein seltsames Gefühl zu wissen, dass ich in ein neues Haus zog, das ich bald mein Zuhause nennen würde. Aber in Wahrheit war ich mehr als bereit dafür. Es gab nun mal Dinge, die man nicht so leicht wegstecken konnte. Es sei denn, man kehrte dem Land ein für alle Mal den Rücken zu.
Meine Eltern hatten meine Entscheidung nur schwer verkraftet, hin- und hergerissen zwischen dem, was für mich das Richtige war und dem, was das Beste für sie war. Sie hatten bereits eine Tochter verloren, die in die Staaten gezogen war. Der Gedanke, eine weitere zu verlieren, stand nicht gerade oben auf ihrer Bucketlist. Ich fühlte mich schrecklich deswegen, aber zu bleiben, hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Ich war schließlich erwachsen und laut Pass 21 Jahre alt, also war es ja nicht so, dass ich die Zustimmung meiner Eltern brauchte. Letzten Endes war es meine eigene Entscheidung, und die hatte ich getroffen. Trüffel-Schnüffelei hin oder her.
Ich wollte etwas aus meinem Leben machen, aber wie viele andere in meinem Alter musste ich dieses Etwas noch finden. Ich wusste, ich wollte wieder aufs College gehen und von vorn anfangen, um zumindest einen Grund zu haben, morgens aufzustehen. Es war nur allzu leicht gewesen, mich diesem dunklen Ort hinzugeben. Jetzt, wo ich es endlich herausgeschafft hatte, wollte ich auf keinen Fall dorthin zurückreisen.
Ich erfuhr von Libs, dass Mom sie schon angerufen hatte, um sie darüber zu informieren, dass ich bereits im Flieger saß und wann ich landen würde, was mich zum Lächeln brachte. Ich wusste, meine Eltern machten sich Sorgen. Das war für alle Eltern ganz natürlich. Aber meine hatten noch einen guten Grund mehr zur Sorge, und ich hasste es. Ich schüttelte diese dunklen Gedanken ab, bevor sie die Chance hatten, sich festzusetzen.
Heute lässt du dich nicht dazu verleiten, sagte ich mir mit felsenfester Überzeugung.
»Mann, es ist arschkalt!«, meckerte Libby. Ich verkniff mir ein Kichern. Meine Schwester verabscheute die Kälte. Ihr wäre es wohl lieber gewesen, ich wäre am internationalen Flughafen von Los Angeles gelandet, aber Frank wurde hier geboren und aufgezogen. Seine gesamte Familie stammte aus diesem Teil des Landes, und er wollte hier eine Familie gründen. Ich wusste, dass meine Schwester genauso dachte, aber das hielt sie nicht davon ab, sich über die Kälte zu beschweren.
»Hast du dich immer noch nicht an das Wetter gewöhnt?«, fragte ich und schaute zu Frank auf, der hinter dem Rücken meiner Schwester seine Augen verdrehte. Schließlich fanden wir das Auto unter unzähligen anderen, und Frank öffnete den Kofferraum. Er stopfte mein Gepäck hinein, gerade, als Libby sagte: »Nein, und das wirst du auch nie. Warte nur, bis es schneit! Wir müssen hier tatsächlich Schneeketten anlegen.«
Frank schnaubte daraufhin, schlug die Tür zu und entgegnete: »Wir?«
Libby warf ihm einen Blick zu. »Was? Ich bin ein Mädchen, und ich mag High Heels. Kannst du dir vorstellen, wie ich in einem Business-Outfit Schneeketten anlege?«
Frank grinste, als er sich zur Fahrerseite begab und sagte: »Oh ja, jetzt wo du‘s sagst … Mmm.« Ich stieß einen Lacher aus, als Libby mir einen halbfinsteren Blick zuwarf, da sie selbst versuchte, nicht zu lachen. Es war schön zu sehen, wie gut sie zueinander passten. Sie zankten sich wie jedes andere Ehepaar auch, aber die meiste Zeit war es nur Spaß, und zum größten Teil verhielten sie sich wie Teenager.
Wir stiegen ins Auto und ich grinste, als Libby an den Knöpfen am Armaturenbrett fummelte, um das Auto so schnell wie möglich warm zu kriegen. Ich erhaschte Franks heimliches Lächeln, als er die Anstalten seiner Frau beobachtete, bevor er den Rückwärtsgang einlegte. Ich hatte mich immer gefragt, wie es wohl sein musste, diese Art von Liebe zu erleben. Die Art, die dieses geheime Lächeln auf ein Gesicht zaubert, wenn du die Ticks und Eigenarten deines Liebsten beobachtest. Oder wie der eine Geschichten erzählt, die der andere vervollständigt.
Ich dachte immer daran, wie diese einzigartigen Wahre Liebe -Paare tägliche banale Dinge wie Kochen oder Putzen nach einem gut synchronisierten Tanz aussehen lassen konnten. Oder wie sie allein durch einen Blick oder eine Berührung wussten, was der andere dachte. Und insgeheim hatte ich mich immer danach gesehnt, zu erfahren, wie sich das anfühlte. Aber da ich selbst noch nie verliebt war, konnte ich es nur erahnen. Eigentlich war ich einfach froh, dass meine Schwester diese Art von Liebe gefunden und damit viele Möglichkeiten in Gang gesetzt hatte, zu denen auch meine Zukunft zählte.
Den Rest der Fahrt zu meinem neuen Zuhause verbrachte Libby damit, mich mit Klatsch und Tratsch auf den neuesten Stand zu bringen, die ich ohnehin nicht verstand. Die Autofahrt reichte immerhin aus, um mir alle Namen der Arbeitskollegen anzueignen, die Libby nicht ausstehen konnte. Libby arbeitete als Innenarchitektin für eine Firma in Portland, und sie liebte ihren Job. Frank hingegen hatte als Bodyguard gearbeitet und besaß nun seine eigene Sicherheitsfirma, die andere Bodyguards rekrutierte.
So hatten sie sich getroffen, Libby und Frank. Sie war damals auf einem Konzert gewesen, und er wurde damit beauftragt, für die Sicherheit zu sorgen. Sie stand an der falschen Stelle, als eine Schlägerei ausbrach, in der sie k. o. geschlagen wurde. Sie wäre zertrampelt worden, wenn Frank nicht seine Runden gemacht und das Ganze gesehen hätte.
Also sprang er wie ein Ritter in einem schwarzen T-Shirt und Jeans von den Tribünen und über die Barriere, um meine Schwester vor dem wütenden Mob zu schützen, der begonnen hatte, sich dem Kampf anzuschließen. Sein schnelles Handeln rettete sie sicherlich vor schweren Verletzungen. Drei Krankenwagen wurden vor Ort gebraucht, nachdem sich der Mob endlich aufgelöst hatte. Es war, als ob ein großer Schein rund um sein zotteliges honigfarbenes Haar geleuchtet hätte, das immer wieder vor seine schokobraunen Augen fiel. Egal, wie oft es zurückgestrichen wurde.
Süß, wie sie diese Geschichte immer erzählte. Als sie ihn unserer Familie vorstellte, rieb sich mein Vater vor Begeisterung fast die Hände. Als wäre soeben ein nobler Freier für eine seiner Töchter eingetreten und würde bald um ihre Hand anhalten. Okay, das war gar nicht so weit hergeholt, denn nur sechs Monate später liefen sie in den Hafen der Ehe ein. Ich glaube, mein Vater weinte insgeheim vor Freude an diesem Tag.
Als wir die Schottereinfahrt hinauffuhren und das Haus in Sicht kam, klappte beim ersten Anblick mein Mund auf. Ich hatte natürlich online Bilder gesehen. Aber jetzt sah ich es tatsächlich vor mir, und mir wurde schnell klar, dass mein kleiner Laptop-Bildschirm der Realität nicht im Geringsten gerecht worden war. Ich war sprachlos und völlig verblüfft und saß einfach nur mit weit aufgerissenen Augen da. Mein Mund stand noch immer offen, als ein breites Grinsen Libbys schönes Gesicht erhellte.
»Ich nehme an, es gefällt dir?« Es war nicht wirklich eine Frage, denn sie kannte die Antwort bereits.
»Es … Es ist so RIESIG!«, rief ich, ohne zu übertreiben.
»Willkommen zu Hause, Kleine!«, sagte Frank, der sich in seinem Sitz umdrehte, um mich anzusehen, bevor er den Motor abstellte und aus dem Auto stieg. Libby und ich taten es ihm gleich. Ich stand nur beschämt mit großen Augen da und starrte auf das Haus, während wir Frank die ganze Arbeit machen ließen. Ich war definitiv überwältigt.
»Sie mag es«, merkte Libby an, während Frank all meine Taschen mit nur einer Hand packte, den Kofferraumdeckel zuschlug und seine Frau angrinste.
»Klar mag ich es. Was ist daran nicht zu mögen?« Ich schaute nach oben. »Aber ich wette, ihr zwei verliert euch ständig in diesem riesigen Haus.«
»Ach was. Sie braucht nur ein paar kleine Hosenscheißer, die da drinnen herumlaufen!«, sagte Frank und strahlte über die Idee, eine Familie für sein prächtiges Zuhause zu gründen. Die Art, wie er das Haus sie nannte, als wäre es ein Auto oder ein Boot, brachte mich zum Lächeln. Ich blickte zurück und sah Frank schon mit den Schlüsseln in der Hand und meinem Gepäck vor der Eingangstür stehen. Wenn er in diesem Tempo weitermachte, schaffte er es noch, sich ein kaltes Bier zu holen, den Fernseher einzuschalten und es sich in seinem Lieblingsstuhl bequem zu machen, bevor Libs und ich damit fertig waren, das Haus anzustarren.
Wie gesagt, es war überwältigend und recht veraltet, aber auf eine antike, märchenhafte Art. Es schäumte nur so vor Charakter. Ich wusste gar nicht, wo ich zuerst hinsehen sollte. Das charmante Gebäude bestand aus einer großflächigen Holzstruktur mit einem verblassten weißen Anstrich, was dem Ort etwas Magisches verlieh.
Eine Vielzahl kleiner Vorsprünge und Fenster in verschiedenen Größen sowie schieferfarbene Dachziegel waren an den unterschiedlichsten Stellen des unkonventionell geformten Hauses platziert. Eine große Terrasse zäunte die Vorderseite ein, auf der sogar ein Schaukelstuhl stand, der so alt aussah wie das Gebäude selbst. Blassgrüne Fensterläden umrahmten viele der Fenster, die nun offenstanden und außen angenagelt waren, jetzt, wo sie eine Dreifachverglasung besaßen. Dennoch, das ganze Gebäude hinterließ einen verzaubernden Effekt, und es gab keine Zweifel, dass dies ein heißgeliebtes Zuhause war.
Was mich erstaunte, war eigentlich nicht das Haus an sich. Nein, es war die Gegend, in der es sich befand. Am Rande des White Mountain National Park gelegen, umgeben von tiefen Wäldern und Ozeanen von Grün. Es schien fast so, als würde sich mir jede Nuance von Grün auf dem Farbspektrum auftun.
Die Landschaft war eine endlose Flut von Bergen, übersät mit gewaltigen Bäumen, die sich wie eine Barriere um das Haus wanden und es in eine Art lebendiges, atmendes Sicherheitsnetz hüllten. Erst als mein Blick über jeden einzelnen streifte, fiel mir eine Lichtung auf.
Sie zog mich an wie ein Magnet, als ich mich in Bewegung setzte, um das verborgene Geheimnis zu entdecken. Direkt vor mir erstreckte sich die fantastischste Aussicht, die mir in all meinen Jahren auf diesem wunderschönen Planeten zuteilgeworden war. Sie explodierte in einem Meer von noch mehr Bergen, bedeckt von einem üppigen grünen Teppich aus Tausenden von Bäumen. Verdammt, es waren Millionen!
Die Schönheit vor meinen Augen fesselte mich wie ein im Scheinwerferlicht gefangenes Kaninchen. Sie raubte mir den Atem. Hätte ich weinen können, was ich in letzter Zeit kaum tat, da meine Tränen längst versiegt waren, hätte ich meinen Gefühlen freien Lauf gelassen. Ich wollte meine Freude kundtun, aber ich war völlig sprachlos.
»Frank hat das gesamte Grundstück von seinem Onkel geerbt, wie du weißt.« Libbys Stimme brachte mich zurück in die Gegenwart. Ich drehte mich um, um zu sehen, dass sie mir zur Lichtung gefolgt war.
»Wie alt ist es?«, fragte ich, in der Hoffnung, etwas mehr über diesen Ort zu erfahren.
Es sah auf jeden Fall so aus, als hätte es ein paar schreckliche Ereignisse in der Vergangenheit gegeben, und es hätte perfekt in einen Stephen King-Roman oder als Familienhaus in Hitchcocks Psycho hineingepasst.
»Weiß ich nicht. Keiner in Franks Familie, den wir gefragt haben, konnte uns Genaueres sagen. Aber es gehört seiner Familie seit Generationen.« Sie zog ein komisches Gesicht, was mich vermuten ließ, dass mehr hinter der Geschichte steckte.
»Was ist los?«, fragte ich so leichtherzig, wie ich konnte. Ihr Gesichtsausdruck signalisierte, dass sie kurz davor war, die tiefsten, dunkelsten Geheimnisse dieses Anwesens zu lüften und es mir in den nächsten Tagen unmöglich machen würde, einzuschlafen. Nicht, dass ich generell hätte gut schlafen können, aber das war jetzt nebensächlich. Ich wollte wissen, was dahintersteckte, egal wie schrecklich die Geschichte war.
»Ach, nichts. Das Ganze ist nur ein bisschen gruselig, das ist alles.« Sie spähte über meine Schulter, um nach Frank Ausschau zu halten. Als sie sich versichert hatte, ihn nicht aus den Augen zu verlieren, fuhr sie fort. »Nun, wie ich schon sagte, Frank hat alles von seinem Onkel geerbt«, flüsterte sie in mein Ohr.
»Was ist mit ihm passiert?«
»Nun ja, er … Er hat sich umgebracht.« Sie sprach den letzten Teil aus, als wäre es ein böses Wort und wartete auf meine Reaktion, mit diesem gewohnten traurigen Blick in ihren Augen. Besorgt, womöglich, dass sie etwas gesagt hatte, das mich aufwühlen könnte.
»Wo?« war alles, was ich herausbrachte, während ich betete, dass es nicht dort geschehen war, wo sich mein neues Zimmer befinden sollte.
»Oh nein, nicht im Haus, keine Sorge.« Sie verstand meinen beschämten und zeitgleich erschrockenen Blick.
»Tja, zumindest fühle ich mich jetzt besser. Ich dachte schon, ich müsste mein Zimmer mit jemandem teilen.«
»Mit jemandem teilen?« Sie warf mir einen verdutzten Blick zu, als wir uns auf den Rückweg machten.
»Ja, mit einem Geist. Ansonsten müsste ich bei dir und Frank einziehen, denn um ehrlich zu sein, wäre ich zu verängstigt, um allein dort zu schlafen.« Wir lachten beide über den Gedanken.
»Ach, mach dir keine Sorgen. Sollte das jemals passieren, lass ich Frank mit seinem Onkel in deinem Zimmer schlafen. Dann hätten sie sich zumindest was zu erzählen … Familiengeschichten und so.« Das ließ uns nur noch mehr kichern, aber wohl eher, um dieses unheimliche Gefühl abzuschütteln, das der Gedanke mit sich brachte.
»Also, wo hat er es getan?«, fragte ich, um auf die düstere Geschichte zurückzukommen.
»Oh, das tut nichts zur Sache«, war alles, was sie sagte. Sie beschleunigte ihr Tempo. Das war ganz klar nicht das Ende der Geschichte. Ich würde es wohl erst aus ihr herauskitzeln können, wenn Frank weg war.
Ich folgte ihr, holte sie ein und sagte: »Okay, zeig mir jetzt deine großartige Hütte!«
Ich hakte mich bei ihr unter, während wir uns zu meinem neuen Zuhause begaben.
Kurz darauf saß ich auf meinem neuen Bett, in meinem neuen Zimmer. Ich war gerührt, welche Anstrengungen meine Schwester unternommen hatte, um alles so einzurichten, dass ich mich wie zu Hause fühlte. Es war, als ob man sein Elternhaus als Teenager verlassen hätte und als Erwachsener wieder zurückkehrte. Natürlich fühlte ich mich in meinem Alter nicht mehr wie ein Teenager. Eigentlich schon lange nicht mehr aufgrund vergangener Erfahrungen, die ich nicht weiter ausführen will. Aber mein Zimmer zu Hause war gerammelt voll mit Dingen aus meiner Kindheit, von denen ich mich einfach nicht trennen konnte. Zum Beispiel die alten Poster mit den kitschigen Bands, die ich mochte, und Trolle und Beanie Babys im Regal, die schon völlig verstaubt waren.
Es dauerte also ganze vier Sekunden, bis ich mich eingewöhnt hatte und mich auf meinem Bett niederließ. Mein neues Schlafzimmer befand sich ganz oben im dritten Stock, im Dachgeschoss, das zu diesem Zweck umgebaut worden war. Es gab noch andere Schlafzimmer in diesem Haus, aber dieses hatte auf jeden Fall die beste Aussicht.
Glücklicherweise befand sich das Fenster mit Blick auf die unglaubliche Lichtung auf meiner Seite. Somit hatte ich eine uneingeschränkte Aussicht auf den Nationalpark. Eine, die sich vor mir wie eine grüne Decke ausbreitete und die Künstlerin in mir erweckte. Das war der Grund, warum Libby dieses Zimmer für mich ausgewählt hatte. Das hatte sie mir erzählt, als wir den zweiten Treppenaufgang hinauf marschiert waren. Frank hatte bereits mein Gepäck hochgetragen und schaute sich nun ein Spiel im Fernsehen an.
Ich begutachtete mein Zimmer. Meine Schwester hatte sich wirklich ins Zeug gelegt. Erstaunlich, wie gut sie mich kannte. Sie hatte mir ein Doppelbett aus Kiefernholz mit dunkelvioletten Bezügen aufgestellt und einen Haufen dazu passender Kissen. Eine violette Lampe stand auf dem Nachttisch, auf dem sogar eine Ausgabe meines Lieblingsbuchs lag, das darauf wartete, gelesen zu werden.
Es war schon eine Weile her, seit ich mich Jane Eyre hingegeben hatte, aber ich liebte einfach die Idee der schlichten Jane, die sich den reichen und grüblerischen Mr Rochester angelte. Ich freute mich darauf, noch einmal in die Geschichte einzutauchen, nur dieses Mal, während ich die prachtvolle Aussicht genoss.
Ich lächelte die Bilder an den Wänden an, die unser gemeinsames Leben zeigten. Bilder am Meer im Sepiadruck während unseres Aufenthalts im Haus meiner Großeltern in Cornwall. Und dann Familienbilder in Schwarz-Weiß von Urlauben im Ausland bis hin zu Weihnachts- und Geburtstagsfeiern. Schön zu wissen, wie sehr man geschätzt wurde. Es erwärmte mein Herz zu sehen, wie gern meine Schwester mich hierhaben wollte.
Es dauerte nicht lange, meine mickrigen Taschen auszupacken, da ich nicht viel mitgebracht hatte. Meine Eltern hatten mir angeboten, alles nachzuschicken, was ich brauchte, aber tief in mir wusste ich, dass es nichts gab, was ich noch wollte. Bei diesem Schritt ging es einzig und allein um einen Neuanfang, nach vorn zu blicken und nicht in der Vergangenheit zu verweilen. Natürlich war das einfacher gesagt als getan, aber ich war hier, um mein Bestes zu geben. Außerdem, als ich meiner Schwester gegenüber die magischen Worte erwähnt hatte, dass wir shoppen gehen müssten, wäre es mir fast schon wert gewesen, nur mit Handgepäck abzureisen.
Nun konnte ich es nicht mehr erwarten, auf Erkundungstour zu gehen. Also packte ich meine Jacke, stieg wieder in meine Schuhe und machte mich auf den Weg nach unten.
»Hey, das hat ja nicht lange gedauert. Willst du eine Tasse Tee, bevor du dich aufmachst?«, fragte Libby, nachdem sie die Gourmet-Mahlzeit für heute Abend aus dem Gefrierfach genommen hatte und sich aufrichtete.
»Nein, danke. Ich werde nicht lange unterwegs sein. Ich bin sicher, der Jetlag holt mich bald ein.«
»Okay. Pizza ist in dreißig Minuten fertig.« Mit diesen Worten fokussierte sie sich wieder auf die Zubereitung der Pizza, die darin bestand, die Packung zu öffnen und den Ofen auf volle Hitze zu drehen.
Pizza war so ziemlich das Einzige, was Libby ›kochen‹ konnte. Wenn man nicht einfach eine Packung aufreißen und das Ganze in ein modernes Gerät schieben konnte, wurde es Libbys Anforderungen nicht gerecht. Eigentlich war ich überrascht, dass Frank bis jetzt nicht rebelliert oder eine Meuterei angezettelt hatte, der arme Kerl. Zum Glück gehörte Kochen zu meinen Hobbys, insofern trug ich gern meinen Teil bei und war nur allzu glücklich, diesen Part zu übernehmen. Außerdem war es mir nur recht, wenn meine Magenschleimhaut dort blieb, wo sie hingehörte. Ich war nicht sonderlich scharf drauf, eine Lebensmittelvergiftungsdiät auszuprobieren.
Sobald ich die Eingangstür geöffnet hatte, wurden mir zwei Dinge schnell klar. Erstens, es war so kalt, dass es mir buchstäblich den Atem raubte, der sich in eine sichtbare Wolke aus nebelhaftem Weiß verwandelte. Und zweitens, alles roch fantastisch, denn hier gab es nichts, was die frische Luft zu verschmutzen vermochte.
Ich atmete den himmlischen Duft von nassem Holz, feuchtem Gras und reiner Bergluft ein. Ich hatte in meiner Kindheit so viel Zeit im Wald verbracht, dass dieser Geruch eine Flut von Erinnerungen mit sich brachte. Erinnerungen an glückliche Zeiten wie Camping mit Freunden und auch an nervenaufreibende Zeiten, als mich mein erster Freund, Johnny Carlson, auf einem dieser Ausflüge geküsst hatte.
Dann gab es noch die traurigen Zeiten, als ich mit meinen Eltern stritt (über eben diesen Freund) und in den Wald lief, um mit meinen Gedanken allein zu sein. Aber unabhängig davon, welche Emotion es in mir auslöste, ich fühlte mich schon besser, überhaupt hier zu sein. Wie ein alter Freund, der mich umarmte und mir sagte, dass alles gut werden würde. Als ob die Elemente der Erde wüssten, was ich fühlte und mir halfen, jeden schweren Atemzug oder Schluchzer zu lindern.
Ich verlor mich einfach in den Gerüchen und Geräuschen des Waldes, stundenlang sitzend und wissend, dass dies der einzige Ort auf der Erde war, an dem ich wirklich allein sein konnte. Ein Ort, an dem mich nicht einmal mein Fluch finden konnte. Ich versuchte, diese dunkleren Gedanken abzuschütteln und mich auf die Gründe zu konzentrieren, die mich hierhergeführt hatten.
Ich wollte nicht mehr dieses weinerliche Mädchen sein. Ich wollte nicht mehr nach oben sehen und feststellen, dass ich in der Ecke eines dunklen Raums kauerte und vergessen hatte, was aus mir geworden war.
Ich wollte mich nicht zerbrochen fühlen.
Ich schluckte den harten Klumpen runter, den mein Körper durch die schlechten Erinnerungen aufstieß und versuchte, mein neues Leben einzuatmen. Es schien ironisch, dass ich jetzt an einem Ort lebte, der das Wort ›Neu‹ in seinem Namen enthielt. Vielleicht war es ein gutes Omen, und vielleicht war das auch der Grund, weshalb Libby unsere Eltern davon überzeugt hatte, dass dieser Schritt das Beste für mich wäre. Schließlich kannte sie mich besser als jeder andere. Ein aufrichtiges Lächeln kräuselte meine Lippen. Es fühlte sich gut an. Nein, dieses Mal schaffte ich es, und nichts würde mir in die Quere kommen.
Ich folgte dem Steinweg, der vom Haus wegführte und bemerkte den alten Holzzaun, der an einer Seite entlanglief. Der Pfad schien schon so oft ausgebessert worden zu sein, dass ich Mitleid mit Frank hatte, denn er war eindeutig nicht mehr zu retten. Er führte in den Wald und endete, wo die Natur die Oberhand gewonnen hatte. Jahre von sich wandelnder Erde und wildem Wachstum hatten die Steinplatten aufgebrochen, bis sie schließlich komplett verschlungen wurden und eine neue Spur erschufen.
Ich wanderte weiter den ausgetretenen Pfad entlang, der ab hier rein von menschlichen Fußstapfen gemacht war, und entfernte mich vom Haus in Richtung der dichten Wildnis. Der Boden unter meinen unpraktischen Schuhen machte schmatzende Geräusche. Die Erde war schlammig vom feinen Regen, der begonnen hatte, als ich noch am Auspacken war. Ich liebte auch den Regen. Er machte aus dem Ort einfach etwas Besonderes. Der bemooste Boden funkelte im Sonnenlicht, und die Bäume wehten im Wind, der jetzt aufkam.
Doch dann nahm der majestätische Wald eine andere Gestalt an, als sich die Wolken wütend verdunkelten und die Sonne verbargen. Der feine Regen verwandelte sich in dicke Tropfen, die wie kleine Wasserbomben auf die Erde fielen, mein Haar durchnässten und es um mein Gesicht herum kräuselten. Ich entschied mich, umzukehren, bevor ich noch ganz nass wurde. Um ehrlich zu sein, hatte der dunkle Wald irgendwie seine Anziehungskraft verloren. Außerdem wollte ich mich nicht verlaufen. Schließlich lebte ich jetzt hier, und mir blieb noch genügend Zeit für Erkundungen. Da ich auch niemanden in dieser Stadt kannte, bezweifelte ich, dass mein Sozialkalender so schnell voll sein würde.
Die schweifenden Gedanken trübten meine Sinne. Daher brauchte ich einen Moment, um zu erkennen, weshalb die Haut auf meinem Nacken kribbelte. Du weißt schon, dieses Gefühl, das einen überkommt, wenn man glaubt, aus der Ferne beobachtet zu werden. Es beginnt mit einem schleichenden Gefühl ganz unten am Kopf und bringt dich dazu, dich schnell umsehen zu müssen, um auf Nummer sicher zu gehen.
Ich suchte das natürliche Labyrinth des Waldes nach einem Lebenszeichen ab und spitzte meine Ohren, während mein Herz hektisch schlug. Das sanfte Klopfen von Wasser, das auf die Blätter fiel, wurde plötzlich unterbrochen. Ein Zweig zerknickte ganz in meiner Nähe. Mein Kopf wirbelte herum – und dann sah ich es.
Eine verhüllte Gestalt lauerte im Schatten …
Und beobachtete mich.