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Neuer Freund und Dunkler Fremder
D er Rest der Woche verging relativ schnell, und na ja, was noch wichtiger war, ohne weitere verrückte Vogelereignisse. Jedoch hielt mich das nicht davon ab, mich ständig zu fragen, was zur Hölle in jener Nacht oder mit dem vermummten Mädchen geschehen war.
Ich hatte zahlreiche Spaziergänge unternommen, war so weit hinausgewandert, wie ich konnte, bis ich mir sicher war, dass ich die Gegend kannte. Ich hatte gehofft, sie wiederzusehen, damit ich meine Antworten bekam, doch es gab kein Zeichen von ihr. Also ließ ich das Ganze hinter mir und versuchte, das Geschehene zu vergessen und mich stattdessen auf mein Treffen mit RJ im Einkaufszentrum zu freuen, das wir arrangiert hatten.
Die Woche hatte einige Fortschritte in Richtung des neuen Lebens, das ich zu erschaffen versuchte, mit sich gebracht. Dank Franks Verbindungen hatte ich einen Job als Kellnerin im Club Afterlife ergattert. Noch besser, ich musste nicht einmal zu einem Bewerbungsgespräch erscheinen. Alles was ich tun musste, war, meine erste Schicht in der folgenden Woche anzutreten. Libby hatte die Nachricht nicht begeistert und verhielt sich so, als ob ich Gefahr liefe, mich einem Todeskult anzuschließen. In jener Nacht hatte sie sich mit Frank deswegen gestritten. Ich hatte Mitleid mit ihm, war jedoch beeindruckt, wie er sich für mich einsetzte und Libby wissen ließ, dass es nicht nur darum ging, was ich wollte, sondern auch um das, was ich brauchte.
Ich brauchte wirklich einen Job. Und was ich so von Frank gehört hatte, war der Club der Ort, wo die meisten – ich zitiere – ›Kinder in diesem Alter‹ abhingen. Der Versuch, jemandem in den Dreißigern zu erklären, dass man in den Zwanzigern wohl kaum mehr als Kind abgestempelt werden konnte, traf auf taube Ohren.
Zumindest würde ich dort andere Leute treffen, für den Fall, dass aus der RJ-Sache nichts wurde. Zum Glück musste ich nicht lange warten, um das herauszufinden, da ich mit ihr in etwa zwanzig Minuten verabredet war.
Libby war so freundlich gewesen, mich hier abzusetzen, da sie für eine weitere Woche nicht zur Arbeit musste. Sie hatte sich eine Auszeit genommen, um mir zu helfen, mich einzuleben.
Dazu gehörte ein gemeinsamer Wanderausflug, was, wie ich erkannte, zu Franks und Libbys Hobbys zählte. Sie zeigte mir die beste Stelle, die man an einem schönen Tag finden konnte. Leider war es zu dieser Zeit bewölkt und regnerisch, aber die Aussicht war dennoch erstaunlich. Ein hervorragender Ort für ein Date, sagte sie mir mit einem Augenzwinkern, was mich seufzen ließ. Es war schön, Zeit zusammen zu verbringen, fast so, als würden wir verlorene Zeit nachholen. Und tatsächlich, je mehr Zeit ich hier verbrachte, desto mehr fühlte ich mich zu Hause und war davon überzeugt, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Vorausgesetzt, ich überlebte den Weg zum Einkaufszentrum.
»Mach mal langsam! Ich bin nicht zu spät, Libs.«
»Was? Ich halte das vorgeschriebene Geschwindigkeitstempo ein«, erwiderte sie, ohne die anderen wütenden Fahrer um sie herum zu bemerken, die ihr den Mittelfinger zeigten.
»Ja, vielleicht um die Kurven herum. Siehst du das Ding da, neben dem Gaspedal? Das nennt sich Bremse. Vielleicht solltest du darüber nachdenken, sie ab und an zu verwenden?«, scherzte ich halbherzig.
»Du kannst jetzt aufhören, meinen Fahrstil zu kritisieren und dir weiter den Kopf darüber zerbrechen, dieses Goth-Mädchen zu treffen.«
»Was? Ich zerbreche mir nicht den Kopf!« Ich überzeugte nicht mal mich selbst mit dieser Aussage, als meine Stimme am Ende immer höher wurde.
»Okay. Warum hast du dann heute Morgen länger gebraucht als ich, um dich fertig zu machen? Außerdem sah dein Zimmer aus, als wäre eine Granate hochgegangen, und deine Klamotten waren die Splitter.« Dem konnte ich nicht widersprechen. Eine komplette Katastrophenzone.
Es war nicht so, als wäre ich besorgt. Eher verzagt. Es war Jahre her, dass ich so etwas machen musste, und es fühlte sich wieder wie damals in der Schule an. Die Panik, nicht zu wissen, welche Fragen mir gestellt wurden. Es fühlte sich an wie ein Test, für den ich nicht gelernt hatte. Verdammt, ich kannte nicht einmal das Thema, um das es ging. Es waren Fragen wie ›Woher kommst du?‹ und ›Wieso bist du hierhergezogen?‹, vor denen ich mich drückte. Alles völlig verständliche Fragen, aber für mich waren das die Momente, in denen meine Antworten aus Lügen konstruiert werden mussten. Und ich war eine grauenhafte Lügnerin.
Letztendlich hatte ich mir ein Paar alte Jeans angezogen, die schon bessere Tage gesehen hatten, ein Paar Turnschuhe mit dem gleichen Problem und natürlich ein langärmeliges, graues Top mit dünnen schwarzen Streifen. Meine Haare waren fest verzwirbelt und mit einer großen, metallenen Haarspange befestigt. Diese war auf der einen Seite mit einem Schmetterling verziert und bog sich am Ende in eine scharfe Spitze.
Ich hatte sie bei einem Weihnachtsmarkt im Vorjahr gekauft, mit dem Hintergedanken, sie würde zwei Zwecken dienlich sein. Zum einen war sie stark genug, um meine langen dicken Haare zu halten, und zum anderen eine nützliche Waffe. Und wenn man meine Erfolgsgeschichte bedenkt, war Letzteres ein wahrer Trost.
Wir fuhren zum Parkplatz direkt vor dem Haupteingang, da es angefangen hatte zu regnen.
»Also dann, viel Glück. Ich habe ein paar Sachen zu erledigen, aber ich bin in etwa einer Stunde zurück, okay?«
»Ja, kein Problem. Ich treffe dich dann hier.«
Ich stieg aus dem Auto und rannte zu den Schwingtüren. Als ich mich umdrehte, um Libby nochmals zuzuwinken, sah ich gerade noch, wie sie davondüste. Ich musste wohl mal mit Frank über ihr Fahrverhalten sprechen. Vielleicht konnte er sie zur Vernunft bringen. Dank ihrer Raserei hatte sie mich zehn Minuten zu früh abgesetzt. Ich ging zu den Rolltreppen und fuhr nach oben zu den Restaurants. Ich erinnerte mich an den Weg von meiner Shoppingtour letzte Woche und wusste, in welchem Café ich RJ treffen würde. Somit hatte ich noch Zeit, einen Platz zu suchen, bevor sie auftauchte – zumindest dachte ich das.
Ich betrat das Café und sah ein Mädchen mit grell-pinkfarbenen Haaren an einem Platz in der Ecke sitzen. Wie schon beim letzten Mal war sie ganz in Schwarz gekleidet, mit Ausnahme eines sehr langen bunten Schals. Er war ein paar Mal um ihren Hals gewickelt, hing aber trotzdem bis zu ihren Füßen. Ihr Haar war kurz geschnitten und stachelig mit pinkfarbenen Enden am Hinterkopf – ein Look, der ihr gut passte. Sie stand auf für den Fall, dass ihr heftiges Winken an mir vorübergegangen war. Ich lächelte, als ich auf sie zuging.
»Hey Keira, wie geht‘s?«
»Gut, danke. Aber du kannst mich Kaz nennen. Jeder tut das«, sagte ich und setzte mich.
»Cool. Also, was hast du so getrieben? Hast du dich schon eingelebt?«
»Ja, so ziemlich. Ich hatte eigentlich nicht viel Zeug zum Auspacken. Das meiste ist noch in England bei meinen Eltern.« Ich lächelte bei ihrem Anblick des Grauens.
»Das nervt. Werden sie den Rest deiner Sachen hierherschicken?« Wenn sie gewusst hätte, was das meiste davon beinhaltete, hätte sie das sicherlich nicht gedacht. Im Gegensatz zu anderen Mädchen sammelte ich keine Schuhe oder Handtaschen. Auch trug ich keinen Schmuck oder besaß etwas von großem Wert.
»Nein, aber meine Mutter meinte, sie würde mir alles schicken, was ich benötige. Deshalb der Einkaufsbummel letzte Woche. Ich brauchte dringend eine warme Jacke.«
»Ja, es kann hier ziemlich kalt werden. Warte nur auf den Winter, dann wirst du mit dieser Jacke schlafen!« Wir lachten beide. Es war leicht, mit ihr zu quatschen. Ich wusste gar nicht, weshalb ich mir Sorgen gemacht hatte.
Eine Kellnerin kam vorbei, um unsere Bestellung aufzunehmen, sah aber nicht so aus, als hätte sie Spaß dran. Sie war ziemlich alt und wirkte recht verhärmt mit weißen, grau-fleckigen Haaren. Tiefe dunkle Ringe umrandeten ihre Augen, und sie hatte die faltigste Haut, die ich je gesehen hatte. Die Dienstkleidung, die aus einem käsig-grünen Hemd und somit aus der gleichen Farbe bestand, mit der Krankenhäuser ausgemalt waren, trug auch nicht unbedingt zu einem besseren Look bei. Sie wirkte kränklich, und die Kleidung betonte lediglich den grünlichen Ton ihrer Haut.
»Was willst du?« Eine unhöfliche, schroffe Stimme zischte durch ein Paar dünner enger Lippen, die aussahen, als ob sie mehr daran gewöhnt wären, an einer Zitrone zu saugen als an einem Kaugummi. RJs quirlige Stimme antwortete zuerst.
»Einen Cappuccino, bitte.« Sie drehte sich zu mir um, aber sah mich nicht an.
»Und du?«, wollte sie wissen, was eher einem Befehl als einer Frage gleichkam.
»Eine heiße Schokolade, bitte.« Ich fühlte mich immer wie ein Kind, wenn ich das bestellte, aber ich mochte keinen Kaffee und bezweifelte, dass sie hier englischen Tee anboten.
»Oh, und kann ich noch einen Schoko-Muffin haben?« RJs Stimme war das Gegenteil zu der der Kellnerin, deren Namensschild sie als Meg offenbarte. Sie antwortete mit einem dumpfen Nicken und schlurfte zur Theke.
»Wow, sie schien überglücklich zu sein. Sie muss ihren Job lieben«, bemerkte ich mit einem sarkastischen Ton.
»Ja«, stimmte RJ zu und kicherte. »Ignorier sie einfach. Sie ist immer schlecht gelaunt und arbeitet hier seit Jahren. Soweit ich weiß, ist sie mit meiner Mutter zur Schule gegangen, wurde aber rausgeworfen. Seitdem arbeitet sie als Kellnerin.«
Jetzt war mir klar, warum Meg nicht die glücklichste Person in Evergreen Falls war.
»Ah, ich verstehe« war alles, was mir dazu einfiel.
»Also, wie kommt es, dass du in das kleine, alte Evergreen gezogen bist, wenn ich fragen darf?« Da war sie. Die gefürchtete Frage. Und ich wusste noch immer nicht, was ich antworten sollte. Oh, ich kannte die Wahrheit. Ich flüchtete vor meiner Vergangenheit, was mich hierhergebracht hatte, aber ich konnte schlecht mit dieser Antwort herausplatzen. Es brachte mich immer zum Lachen, wenn die Leute am Ende einer Frage, deren Antwort sie unbedingt wissen wollten, ›wenn ich fragen darf?‹ hinzufügten. Was sollte ich darauf antworten? ›Verdammt, nein, darfst du nicht‹?
Gerade dann brachte die Kellnerin unsere Getränke, was mir etwas Zeit verschaffte, eine logische Antwort zu erfinden. Sie platschte die Getränke vor uns hin und machte einen Abgang.
RJ pustete auf ihren Cappuccino und schaute mit großen Augen, die mit dickem schwarzem Make-up verkrustet waren, zu mir auf.
»Was wolltest du sagen?«, drängte sie, während sie meinen Gesichtsausdruck studierte.
»Hmm … Nun, ich bin hierhergezogen, weil …« Denk nach, Kaz, denk nach!
»… wegen Libby, meiner Schwester«, beendete ich den Satz, während ich mich mental ohrfeigte, kombiniert mit einer Hand auf der Hüfte und einer koketten Stimme, die meinte: ›Sehr einfallsreich, Kazzy‹.
»Deine Schwester?«
»Äh, ja. Sie hat ihre Familie vermisst und so, also habe ich mich entschieden, hierher zu ziehen und dieses Semester mit dem College zu beginnen.« Das entsprach zumindest teilweise der Wahrheit.
»Wow, das war wirklich nett von dir. Ihr zwei steht euch wohl sehr nahe?«
»Tun wir. Sie ist für mich nicht nur eine Schwester, sondern auch eine Freundin.«
»Das ist cool. Ich habe auch eine Schwester, aber sie ist jünger als ich und macht gerade ihre fürchterlichen Teenagerjahre durch, was meine Mutter und alle anderen in meiner Familie in den Wahnsinn treibt!« Wir lachten beide, und ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, ob die beiden so anders waren als Libby und ich.
»Ja, ich verstehe mich besser mit meinem Bruder Jack. Er ist zwei Jahre älter als ich, aber wir verbringen viel Zeit miteinander, da wir mit den gleichen Leuten abhängen. Er mag Rockmusik wie ich. Hey, wo wir gerade davon sprechen: auf welche Art von Musik stehst du? Da ist diese großartige Live-Band, die in diesem Club Afterlife spielt. Ich habe es glaube ich schon im Laden erwähnt, aber ein paar von uns gehen morgen Abend hin. Wäre toll, wenn du auch kommen könntest.« Dieses Wort ›Afterlife‹ begann eine magische Anziehungskraft auf mich auszuüben. Eine, die ich nicht ganz verstand, aber ich wusste, es war die perfekte Gelegenheit, um mehr darüber zu erfahren.
»Hört sich super an. Ich liebe Live-Musik und so ziemlich all das, was auf deiner Tasche hängt.» Ich nickte zu ihrer Stofftasche, die mit Ansteckpins übersät war. Ganz stolz grinste sie ihre geliebte preisgekrönte Sammlung an.
»Cool, also bist du dabei?«, fragte sie und zog mich zurück zu unserem heiß begehrten Gesprächsthema.
»Club Afterlife? Ja, ich kenne ihn … Tatsächlich habe ich mir dort einen Job geangelt.«
»WAS DU NICHT SAGST! Ich glaub‘s nicht … Ernsthaft?« Sie hatte sich kerzengerade aufgesetzt und verschüttete schaumigen Kaffee über ihre Tasse, völlig außer sich über diese Entdeckung.
»Ja, ich habe nächste Woche meinen Probetag, aber es wird schon klappen. Denke ich jedenfalls. Ich meine, ich habe davor schon in einer Bar gearbeitet.«
»Oh mein Gott, oh mein Gott! Ich kann es nicht glauben. Was für ein Glück du hast. Jeder würde für einen Job dort töten! Wie zur Hölle hast du das geschafft?« Anscheinend wurde sie mit jeder Sekunde noch aufgeregter.
»Nun, mein Schwager Frank kennt den Manager oder so, und na ja … er hat ihn gefragt, weil er ihm einen Gefallen schuldet.« Als ich das sagte, klappte ihr Kiefer beinahe bis zum Boden auf.
»Moment … Also lass mich das noch mal klarstellen. Dein Schwager kennt … die Dravens?« Sie flüsterte den Namen, als ob es das größte Geheimnis der Stadt wäre. Als Reaktion überkam mich das Gefühl, als ob Spinnen über meinen Rücken tanzten.
»Wer?« Sobald sie den Namen fallen gelassen hatte, hatte sie meine vollste Aufmerksamkeit. Es war seltsam, als ob etwas gerade eine Glühbirne in meinem Kopf aufgedreht hätte. Warum hatte dieser Name plötzlich so eine Wirkung auf mich? Als wäre er zuvor schon mal in einer Erinnerung oder einem Traum gefallen?
»Die Dravens sind eine Familie, die einmal im Jahr hierherkommt. Sie sind stinkreich, Millionäre oder sogar Milliardäre, wer weiß. Aber ihnen gehört der Club und obendrein noch die halbe Stadt. Wie ich schon sagte, sie kommen jedes Jahr für ein paar Wochen in diese kleine Stadt. Niemand weiß genau, warum. Sie bringen viele verrückte Leute mit. Ich meine wirklich verrückt!«
»Das ist seltsam. Ich frage mich, was sie hierherführt«, grübelte ich laut, während sich dieselbe Frage in meinem Kopf wiederholte.
»Wie gesagt, niemand kennt genau die Hintergründe, aber es kommt eine Menge von diesen ›Besuchern‹, wenn es sie hierher verschlägt, um im Club zu bleiben«, erklärte sie, während sie Anführungszeichen mit ihren Händen in der Luft für einen dramatischeren Effekt machte. Es funktionierte.
»Was meinst du? Wohnen sie dort oder was?« Als sie meine Verwirrung sah, lächelte sie.
»Es wird mehr Sinn ergeben, wenn du den Ort siehst, glaub mir. Was das angeht, bist du nun dabei? Morgen Abend? Die Band heißt The Acid Criminals. Ihre Sets sind ziemlich heavy, aber es lohnt sich schon wegen des heißen Schlagzeugers.« Sie ließ sich von sich selbst mitreißen und schwärmte noch fünfzehn Minuten von dem Typ, bevor wir eine Zeit für ein Treffen vereinbarten.
Ich wollte mehr über die Dravens aus ihr herausquetschen, hielt mich aber dann doch zurück. Libby würde mich gleich abholen. RJs lockere Natur und Freundlichkeit hatten die Zeit verfliegen lassen, und ich freute mich auf morgen Abend. Ich hatte das Gefühl, dass wir ein verrücktes Paar guter Freunde abgeben würden.
RJ begleitete mich zum Vordereingang des Einkaufszentrums und wartete mit mir, bis Libbys Auto in Sicht kam. Sie erzählte mir mehr von morgen Abend und wen ich dort alles antreffen würde. Zur Gruppe gehörte auch ihr älterer Bruder, der es anscheinend nicht erwarten konnte, mich kennenzulernen. Ich wusste nicht, wieso, aber ich vermutete, sie hatte das nur gesagt, um mir die Nervosität zu nehmen, so viele neue Leute auf einmal zu treffen. Oder vielleicht lag es nur daran, weil ein neues Mädchen das Gesprächsthema Nummer Eins in einer so kleinen Stadt war. Vor allem eines, das aus England stammte. Nun, hoffentlich würde der Aufruhr bald vergehen.
Libby wartete, während wir uns verabschiedeten.
»Okay, bis morgen. Oh, und vergiss deinen Ausweis nicht, sie sind dort echt streng … Moment mal, was rede ich da? Du wirst ja dort arbeiten! Grrr, habe ich total vergessen!«
»Wir sehen uns dann, RJ.« Damit machte ich mich auf den Weg zu Libbys Auto und bemerkte, dass sie trotz des schlechten Wetters das Fenster nach unten gekurbelt hatte.
»Was geht morgen ab?«, fragte sie, und ich lächelte, als ich mich ins Auto setzte und auf mein Verhör wartete.
»Sie hat mich eingeladen, diese Band morgen Abend zu sehen.«
»Du musst wohl einen guten Eindruck hinterlassen haben. Wo spielt die Band?«
»Club Afterlife.«
Ihre Miene verfinsterte sich.
»Was? Ich werde dort arbeiten. Ich denke, es ist eine gute Idee, den Laden mal abzuchecken, bevor ich dort anfange.« Vielleicht konnte ich sie mit Logik überzeugen.
»Ja, also, was das betrifft …« Da war es. Ich hatte gewusst, dass das kommen würde. Das große ›Schwestern-Gespräch‹.
»Ich dachte, vielleicht wäre ein ruhigerer Job besser für dich geeignet. Ich meine, du willst die Dinge ja nicht überstürzen, oder? Und wenn du so erpicht auf einen Job bist, dann könnte ich ja mal sehen, was ich tun kann. Vielleicht als Assistentin in einem Büro?«
»Oh toll. Kaffee servieren für dreißig Leute und permanent beim Kopierer stehen.« Sie sah verletzt aus, also änderte ich schnell meine Taktik.
»Hör zu, ich schätze deine Fürsorge, aber ich habe jahrelang in einer Bar gearbeitet. Und du weißt, wie ich bin, wenn es um technische Geräte geht. Sie fliegen in die Luft, wenn ich nur einen falschen Blick auf sie werfe. Ich schaffe es nicht einmal, mein Handy zum Laufen zu bringen, ohne Simbabwe anzurufen!« Sie lachte, und ich war erleichtert zu sehen, dass ich ihre Gefühle nicht verletzt hatte.
»Libby, es wird alles gutgehen. Außerdem, was hat es mit diesem Club auf sich, dass du ihn nicht ausstehen kannst?«
Sie machte ein Gesicht, als ob sie den Geruch von verschimmeltem Käse in der Nase hätte. Das war eines ihrer ›Dinge, die sie nicht sagen sollte‹-Gesichter. Also versuchte ich, mehr aus ihr herauszubekommen.
»Komm schon, Libs, was verheimlichst du?«
Sie zögerte. »Es ist nur … Man hört einige wirklich seltsame Dinge, die dort vor sich gehen.«
»Zum Beispiel?« Ich schielte sie mit einem skeptischen Auge an, was sie gekonnt ignorierte.
»Man erzählt sich, dass dort ein paar verrückte Sachen abgehen. Und jetzt, wo die Dravens kommen, ist mir nicht wohl bei dem Gedanken, dass du dort bist. Das ist alles.« Okay, diesen Namen jetzt zu hören, war, wie mit einem roten Tuch vor einem Stier zu wedeln.
»Was weißt du über die Dravens?«, fragte ich. Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen, bevor sie mir einen argwöhnischen Blick entgegen schleuderte.
»Fragt sich, was weißt du über die Dravens?« Nun, sie hatte mich erwischt. Ich meine, ich war erst eine Woche hier und schien schon alles über den beliebtesten Klatsch der Stadt zu wissen.
»RJ sagte mir, dass sie eine reiche Familie seien, die einmal im Jahr hierherkommt und niemand weiß wirklich, warum«, antwortete ich mit einem Schulterzucken, als ob es keine große Sache wäre. Sie starrte nur geradeaus und konzentrierte sich ausnahmsweise auf die Straße, was so ungewöhnlich für Libs war, dass es mich beinahe beunruhigte.
»Libs!«, rief ich, als ich die Spannung nicht mehr ertragen konnte.
»Entschuldige, aber ich … Nun, ich will nicht wie eine Tratschtante klingen, aber ich mag einfach die Geschichten nicht, die sich die Leute erzählen. Und nein, ich bin nicht nur dramatisch, wie Frank denkt. Es ergibt einfach keinen Sinn, wieso sie hierherkommen. Warum nicht eine große Stadt, um ihre Geschäfte abzuwickeln? Warum diese kleine Landstadt?« Sie klang selbst ein bisschen verrückt, als ob sie glaubte, sie wären ein geheimes Mordkartell.
»Denkst du, es geht um Drogen?« Zugegeben, das war eher unwahrscheinlich. Drogengeschäfte passten eher zu einer großen Stadt, nicht zum kleinen Evergreen Falls, New Hampshire.
»Nein, ich meine … Ach, ich weiß auch nicht. Es fühlt sich einfach nicht richtig an. Sie bringen all ihre eigenen Mitarbeiter mit, einschließlich Bodyguards, was sogar Frank für eigenartig hält. Ich meine, wofür brauchen sie die?« Dem musste ich zustimmen. Diese Stadt war nicht gerade gefährlich, also hatte ich keine Ahnung, wovor sie sich schützen mussten. Aber trotzdem war das kein triftiger Grund, das Schlimmste von ein paar hohen Tieren zu denken, die in diese Gegend kamen.
»Sie bringen ihre eigenen Mitarbeiter mit? Ich meine, das ist ein wenig seltsam, aber vielleicht handelt es sich dabei um ein paar sehr wichtige Personen und sie wollen nur, dass die Dinge richtig ablaufen?«
»Ja, kann schon sein« war alles, was sie sagte, obwohl sie nicht überzeugt aussah. Es schien auch nicht das Einzige zu sein, was sie an den Dravens störte. Aber zu wissen, dass sie nicht mehr dazu sagen wollte, machte mich umso entschlossener, nicht aufzugeben.
»Komm schon. Da steckt noch mehr hinter dieser Geschichte«, beharrte ich.
»Es ist nur eine Geschichte, die ich gehört habe. Und bevor du eine Million Fragen stellst, ich kenne keine Details!« Jetzt wurde sie empfindlich, wo die Wahrheit ans Licht kam.
»Also, was ist passiert?«
»Ein Mädchen … Sie ist verschwunden«, gab sie leise zu, und ich konnte den Schauer, der durch meinen Körper lief, nicht unterdrücken. Ich wusste, dass ich nicht mehr aus ihr herausbekommen würde, also ließ ich das Thema fallen. Vielleicht wollte ich gar nicht mehr darüber erfahren. Immerhin war das nun mein neuer Arbeitsplatz.
Als wir zurück zum Haus kamen, wartete eine dringende Nachricht für Libby auf dem Anrufbeantworter mit der Bitte, im Büro anzurufen.
»Ist es für dich in Ordnung, wenn ich kurz ins Büro fahre? Dieser Kunde macht mich verrückt. Er ändert ständig die Designspezifikation und …«
»Ich komm klar, Libs. Ehrlich gesagt könnte ich ohnehin ein Timeout gebrauchen. Ein gutes Buch und eine Tasse Tee, und ich bin zufrieden«, unterbrach ich ihre Tirade und beendete sie mit einer Umarmung, die sie dringend nötig hatte. Sie war aus der Tür raus und rannte zu ihrem Auto, bevor ich gerade noch rufen konnte:
»Nicht zu schnell, Libby! Geh es langsamer an mit deinem rechten, ich meine dem linken Fuß!« Sie zog ein lachendes Gesicht und winkte nur, als sie die Auffahrt hinunter raste. Ich schüttelte immer noch meinen Kopf, als ich die Tür schloss.
Um ehrlich zu sein, ein bisschen Ruhe war mir recht, und da ich diese Tage positiver gestimmt war, würden sich vielleicht auch meine negativen Gedanken im Zaum halten.
Ich entschied, einen Spaziergang zu unternehmen anstelle der Buch- und Tee-Idee, also schnappte ich mir meinen neuen Mantel und meine Schlüssel. Ich folgte dem Fußweg, den Frank erwähnt hatte. Er hatte recht, er war so leicht zu finden wie ein Weg im Park. Bis ich zu weit ging und das Unterholz dichter wurde.
Ich fing an, es zu lieben, hierherzukommen. Das war die einzige Zeit, in der ich mich frei fühlte, die einzige Zeit, in der ich wirklich ich selbst sein konnte, ohne von jemandem verurteilt zu werden. Niemandem, dem ich etwas vorspielen musste. Und am wichtigsten, ich konnte meinen Emotionen freien Lauf lassen. Zu weinen, wenn ich wollte, ohne mich schuldig zu fühlen, wie andere darüber dachten.
Aber der heutige Spaziergang war anders, nicht getrübt von überwältigender Traurigkeit und Depressionen, die immer über mich hinwegfegten. Stattdessen überkamen mich eine Welle unbeantworteter Fragen und ein Meer von Neugier. Ich dachte immer wieder an die Dravens. Wer waren sie? Wieso kamen sie überhaupt in diese Kleinstadt? Und vor allem: Wann würde ich sie endlich treffen?
Ich musste mich morgen Abend zurückhalten, RJ nicht mit unzähligen Fragen zu bombardieren. Ich hatte gehofft, sie wäre bei dem Thema etwas redseliger, aber sobald sie den Schlagzeuger erwähnt hatte, war er zum Hauptthema des Gesprächs geworden. Das Einzige, was sie gesagt hatte und ich als sehr enttäuschend empfand, war, dass kaum jemand die Dravens zu Gesicht bekommen hatte. Gleich nach ihrer Ankunft verbrachten sie ihre Zeit oben in der VIP-Lounge, und natürlich hatten sie ihre eigene private Gästeliste. Eine, auf der niemand stand, der in dieser Stadt lebte.
Ich verstand nicht ganz, wieso ich so fasziniert war. Warum war ich so besessen von ihnen? Aber in meinem Herzen wusste ich, dass es nicht ›sie‹ waren, über die ich unbedingt mehr herausfinden wollte.
Nein, es war er.
Sobald RJ den Namen Dominic Draven erwähnt hatte, hatte ich mich daran geklammert wie an ein gutes Mystery-Buch, das man nicht weglegen konnte. Sie hatte seinen Namen nur nebenbei fallen gelassen, aber es hatte gereicht, um meine Fantasie zu wecken. Wer war er, und wie sah er aus?
Als mein Gehirn sich endlich beruhigt hatte und mich in die Realität zurückbrachte, hatte ich die Stelle erreicht, die ich gesucht hatte. Zumindest dachte ich das.
Meine Stirn legte sich in Falten, als ich einen natürlich wachsenden Torbogen umzäunt von Bäumen erblickte. Ich erinnerte mich nicht daran, ihn beim letzten Mal hier gesehen zu haben und war mir absolut sicher, genau den gleichen Weg mit Libby gegangen zu sein. Vielleicht waren wir aus einer anderen Richtung gekommen. Ja, das musste es wohl sein. Ich redete mir das so lange ein, bis ich den mit Ästen umrankten Torbogen passierte, blickte aber zuvor noch ein letztes Mal über meine Schulter.
Sobald meine Zweifel mich verließen, wurden sie schnell von Ehrfurcht ersetzt. Der Ort war unglaublich. Er sah nicht wie ein Teil des Waldes aus. Nein, eher wie der geheime Garten von jemandem, in den ich gestolpert war. Aber anstatt von einer Steinmauer umgeben zu sein, um ihn versteckt zu halten, wurde er von einer Mauer voller Leben umzäunt. Der Wald umschloss das weite Terrain wie eine Schutzbarriere mit hundert Jahre alten Bäumen, die rundherum Wache standen.
Jetzt, wo ich hier stand, war es offensichtlich, dass das nicht der Ort war, an den mich Libby gebracht hatte. Aber es schien nicht weit weg zu sein, denn die Aussicht war die gleiche. Es hatte den Anschein, als handelte es sich um privaten Landbesitz und als wäre ich zufällig auf jemandes eigenen Garten Eden gestoßen. Es war fast zu erstaunlich, um real zu sein.
Bei näherer Betrachtung waren die Bäume anders, als ich sie kannte. Fast schon exotisch. Da standen riesige Palmen, und an manchen wuchsen Reben mit leuchtend roten Blüten, die Hibiskus ähnelten.
Aber das konnte nicht sein, denn für diese Art von Gewächs war es viel zu kalt. Und hier wuchsen noch mehr Pflanzen, die dieses Klima definitiv nicht überleben konnten. Wie war das ohne Gewächshaus oder tropisches Klima möglich? Und dennoch, hier vor mir lag der farbenfrohe Beweis. Das Blau, Orange und Gelb der Helikonien und das grelle Pink der Glocken von Engelsflügelbegonien. Es gab auch sonnengelbe Dahlien und das schöne Violett und Rot von indischen Prunkwinden, die alle zur Wintersonne empor sprossen, als Beweis für diesen unfassbaren Ort.
Ich trat in die Mitte und versuchte, kein Geräusch zu erzeugen, wusste aber gar nicht, warum. Alles war so atemberaubend schön, dass es den Anschein erweckte, als würde man in eine Traumwelt eintauchen.
Kein Murmeln war zu hören oder auch nur irgendeine Bewegung. Wie konnte es keinen Wind hier draußen geben, wenn über mir Wolken vorbeizogen? Nicht einmal die sanfteste Brise war spürbar. Ich konnte fühlen, wie meine Nerven aktiv wurden und begann zu zittern. Ich wollte umkehren. Irgendetwas stimmte nicht, aber ich konnte nicht erkennen, wo sich der Eingang befand, durch den ich geschritten war. Wo war der Torbogen?
Ein Ton schwebte durch die Stille, und mir wurde schnell klar, dass ich nicht allein war. Mein Instinkt setzte ein, und ich zog die Spange aus meinem Haar, das in langen blonden Wellen über meinen Rücken fiel. Meine Augen huschten von einer Stelle zur nächsten, während ich mich an das kalte Metall klammerte. Ich wirbelte auf einem Fuß herum. Mein Mantel und meine Haare wehten um mich, doch da war nichts außer dem schönen Kokon an Farbe, der in der hochstehenden Sonne erstrahlte.
Dann plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch, doch als ich mich umdrehte, verfing sich mein Fuß, und ich stolperte. Ich verlor den Halt und stürzte auf den Waldboden. Mit einem lauten Jaulen streckte ich reflexartig meine Arme aus, um meinen Sturz abzufedern. Meine ungewöhnliche Waffe glitt mir aus der Hand.
»Ah!« Ich brach die Stille mit einem Schrei. Meine Hände rutschten über das nasse Moos, das über meine Haut glitt. Ohne Halt zu finden, versuchte ich vergeblich, meinen Körper aufrecht zu halten. Stattdessen flogen meine Hände nochmals nach vorne und kamen in Kontakt mit etwas Hartem und Glattem wie Leder. Ich hätte schwören können, dass ich jemanden atmen hören konnte und vergaß in diesem Moment das Geräusch, das ich zuvor noch wahrgenommen hatte.
Und dann realisierte ich, dass ein Paar Schuhe direkt vor mir standen.
Ich hob meinen Kopf, um zu sehen, was meine Hände berührten, aber mein Haar war nach vorne gefallen wie eine gelbe Decke. Ich schüttelte meinen Kopf und versuchte, meine Mähne aus dem Gesicht zu bekommen, die meine Sicht blockierte. Meine Hände bewegten sich schnell, als ich ein Paar schwarzer Herrenlederstiefel erspähte, die ich angefasst hatte. Schockiert rang ich nach Luft.
Ich versuchte, schleunigst auf die Beine zu kommen, aber die weiche Erde erschwerte es mir, und ich rutschte herum wie auf einer Eisbahn. Dann, gerade als ich wieder dabei war, hinzufallen, ergriff eine große starke Hand meinen Oberarm und brachte dabei eine Flut an Erinnerungen zurück, die ich mir nicht erklären konnte. Bevor mir jedoch Zeit zum Denken blieb, packte eine andere Hand meine Taille, zog mich hoch und verhinderte, dass ich nochmals auf den Boden schlug.
Meine Augen folgten der Gestalt vom Boden nach oben. Stiefel, Jeans, eine schwere Gürtelschnalle und eine lange schwarze Jacke, die bis zu den Knien reichte. Ich arbeitete meinen Weg nach oben über eine muskulöse Statur. Ich spürte die Wärme, die von seinem Körper ausging, während er mich immer noch festhielt.
Er trug ein dunkles T-Shirt, das die Einbuchtungen eines mit Muskeln bepackten Waschbrettbauchs und eine unglaublich breite, solide Brust mit starken Schultern zeigte. In der Erwartung, ein brutales, hartes Gesicht zu sehen, das zu diesem Körper eines Kriegers passte, hob ich widerwillig meinen Kopf. Ich musste mein Genick immer weiter nach hinten beugen, da er außergewöhnlich groß war, weit über 1,80 m, was meine Augen auf gleiche Höhe mit seiner harten Brust brachte. Das Gesicht hingegen war nicht hart, aber äußerst schön. Nein, nein, das ist untertrieben. Er war nicht nur schön.
Er war atemberaubend!
Er hatte etwas Südländisches, mit sehr dunklen Gesichtszügen und olivfarbener, sonnengeküsster Haut. Sein rabenschwarzes Haar reichte bis zu seinen Schultern und sah so aus, als wäre es natürlich gewachsen, nicht gestylt. Er war sehr gepflegt, strahlte aber dennoch eine Rauheit aus mit tiefsitzenden Augen, die durch mich hindurch brannten. Sie waren unglaublich. Als versuchten sie, in meine Seele zu blicken, um herauszufinden, welche versteckten Geheimnisse dort schlummerten. Endlose dunkle Ringe harter Emotionen, umrandet von dichten langen Wimpern. Nicht braun, mehr ein Onyx-Schwarz, aber mit einem dezenten violettfarbenen Schimmer, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte.
Er war wirklich verblüffend, so sehr sogar, dass ich nicht aufhören konnte, ihn anzustarren. Seine Hand ließ mich schließlich los, und mein Körper wurde kalt, als ob seine Berührung einen warmen Impuls durch meine Venen geschossen hätte, der mich von innen wärmte. Meine Haut kribbelte, als sehnte sie sich nach einer weiteren Berührung. Was war los mit mir? Dieser Typ war ein Fremder.
Ich trat einen vorsichtigen Schritt zurück. Er beobachtete mich mit Verwunderung, als ob er versuchte, herauszufinden, ob ich real war oder nicht. Hitze kroch meine Wangen hoch, als er mich weiter anstarrte. Ich fummelte nervös an meinen Ärmeln. Nachdem ich das getan hatte, hätte ich schwören können, dass ich ihn stöhnen hörte. Aber dann fielen seine ersten Worte, und damit schnitt er meine Gedanken völlig ab.
»Alles okay?« Seine Stimme klang wie Samt mit einer scharfen Schneide. Glatt und weich, aber vor allem mit einer starken, beruhigenden Essenz, die jedes Wort umhüllte. Ich war sprachlos und starrte ihn nur an, denn es fiel mir schwer, mich von seinem intensiven Blick abzuwenden.
Keine Ahnung, was er in mir sah. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht lesen. Sein Anblick war mir vertraut, aber ich wusste nicht, weshalb. Ich hätte mich definitiv an einen solchen Mann erinnert. Ich musste meine Lippen zwingen, sich zu bewegen, bevor er noch dachte, ich wäre eine naive, starrende Stumme.
»Mir geht es … g… gut … Danke.« Meine Stimme klang nicht so gelassen und ruhig, wie ich gehofft hatte. Seine Lippen bogen sich leicht nach oben, als ob ihn meine offensichtliche Schüchternheit amüsierte, was mein Herz einen Schlag aussetzen ließ. Mein Gesicht errötete noch mehr, sodass es sich anfühlte, als würde mein Fleisch jede Sekunde von meinen Wangenknochen schmelzen. Ich hasste es, dass ich so leicht rot wurde und jeder meine Verlegenheit sehen konnte, aber in Zeiten wie diesen verabscheute ich es zutiefst!
»Wie heißt du?« Er schien mir näher zu kommen, und aus irgendeinem Grund wich ich zurück. Ich wusste nicht, warum, aber er jagte mir etwas Angst ein. Schließlich waren wir hier ganz allein im Wald, und ich wusste nichts über ihn. Mysteriöserweise fühlte ich mich wohl, als ob ich wüsste, dass er mir nichts antun würde. Gleichzeitig war ich aber auch verängstigt. Irgendetwas war seltsam an ihm. Ich war zwiegespalten und wusste nicht, ob ich ihm meinen Namen nennen sollte oder nicht. Es schien ihn zu schockieren, dass ich ihm noch keine Antwort abgeliefert hatte.
»Es ist in Ordnung, Kleine. Du kannst ihn mir sagen«, sagte er und schaute auf mich herab, als er wieder diese sanfte Stimme benutzte, die Vertrauen in mir erweckte. Anstatt ihm meinen Namen zu geben, gestand ich mein Unbehagen.
»Ich glaube, ich sollte nicht hier sein«, sagte ich, meine Augen auf meine Füße gerichtet, um seinem dunklen, durchdringenden Blick zu entkommen, was bei seiner Größe nicht gerade einfach war. Ich meine, ich war es gewohnt, von großen Jungs wie Frank umgeben zu sein, aber dieser Typ … Nun, sagen wir einfach, es waren nicht viele Worte nötig, um zu beschreiben, wie ich mich gerade fühlte. Diese lauteten ›Beute und Raubtier‹. Und es war nicht schwer zu erraten, welche der beiden Rollen ich in diesem kleinen Szenario übernahm.
»Oh wirklich? Dann erklär mir doch bitte, wieso du hier bist?«
Ich schaute auf und fand ein selbstbewusstes Lächeln. Das komplette Gegenteil von meinem.
»Ich glaube, ich habe mich verirrt.«
Er schüttelte den Kopf, um mir zu sagen, dass ich falsch lag.
»Oh, du hast dich nicht verirrt. Du wurdest endlich gefunden und bist genau dort, wo du sein musst, denke ich. Nun, dein Name?« Das klang wie ein Befehl. Alles Samtige war plötzlich verschwunden, und ich schluckte den harten, verängstigten Klumpen in meinem Hals runter, bevor ich ihm antwortete.
»Keira … John… Keira Johnson.« Er streckte seine Hand aus, und widerwillig tat ich das Gleiche. Aber als er meine Hand in seine nahm, festigte er plötzlich seinen Griff und zog meinen Körper näher an seinen heran. Dies brachte mich augenblicklich zu meinem Traum zurück, und ich war kurz davor, auf ihn zu fallen.
Wärme durchfloss mein Blut und machte mich schwindelig. Er blickte auf mich herab, aber ich weigerte mich, seinen lusterfüllten Augen zu begegnen. Stattdessen konzentrierte ich mich auf meine Umgebung, während ich vergeblich versuchte, mich nicht von dem berauschenden Duft eines rauen Alphas beirren zu lassen, getränkt mit Leder und würzigem Moschus. Alles kombiniert zu einem unverwüstlich aussehenden Mann.
»Was … Was passiert hier?«, flüsterte ich, als ich erkannte, dass der üppige Garten Eden, der uns umgab, begann, sich in einen dem Untergang geweihten Wald zu verwandeln. Die exotischen Blumen verwelkten und verblassten zu grauer Asche. Die Bäume wehten in tornadostarken Winden, die uns nicht erreichten, aber ihre Wurzeln zersplitterten. Dunkelheit verschlang die Welt, die langsam der Verwesung verfiel, als wäre der Tod persönlich anwesend.
Ich erstickte meinen Schrei und versuchte, mich aus dem eisernen Griff des dunklen Fremden zu lösen. Die Bewegung brachte ihn dazu, mich zurückzuziehen. Ein Arm schlang sich um meinen Rücken und setzte damit meinen Fluchtplänen ein Ende.
»Hab keine Angst. Ich werde dir nicht wehtun.« Sein Gesicht war nach unten geneigt und kam meinem näher. Für einen Moment dachte ich, er würde mich küssen, da nur wenige Zentimeter unsere Lippen voneinander trennten. Ich wusste, ich hätte ihn nicht aufgehalten, auch als die Welt um uns herum immer mehr zerbröselte. Dann brachte er seine freie Hand zu meinem Gesicht und strich mein Haar von meinem Hals zurück, um etwas in mein Ohr zu flüstern. Jede Berührung sandte Funken von Begierde bis in mein Innerstes, besonders als ich seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte. Zuerst verweilte er nur dort, bevor die Worte seinen perfekten Lippen entkamen.
Seine Stimme war leicht und weich, als wollte er mich in eine Art Trance locken.
»Somnus, meine Keira«, sagte er. (»Schlaf, meine Keira«, auf Latein)