5
Allein
I ch wachte auf der Couch mit einer Decke um mich herum auf. Allein. Etwas war seltsam. Als hätte ich einen Traum gehabt, an den ich mich nicht ganz erinnern konnte. Und wann war ich überhaupt eingeschlafen? Ich war mir sicher, einen Spaziergang unternommen zu haben, oder hatte ich das auch nur geträumt? Mein Kopf war ganz benebelt, als hätte ich einen Kater oder so.
Das Haus war leer und dunkel, aber vor allem war es beunruhigend. Ich stand auf und schlenderte in die Küche. Meine Kehle fühlte sich wie eine Ablage für Hackschnitzel an. Auf dem Weg dorthin nahm ich das Telefon, um zu sehen, ob Libby eine Nachricht hinterlassen hatte. Gerade als ich das Licht einschaltete, kroch eine kühle Brise meinen Körper hoch. Ich drehte mich um und bemerkte, dass die Eingangstür weit offenstand.
Mein Herz erstarrte. Eine Million Gedanken sausten gleichzeitig durch meinen Kopf. Der erste war – war ich tatsächlich allein? Ich stürmte in die Küche und schnappte mir ein Messer von der Theke. Ich war bereits dabei, den Notruf zu wählen, entschied mich aber, den Anruf abzubrechen, bevor es das erste Mal läutete. Was sollte ich denen überhaupt erzählen? ›Ich dachte, ich wäre spazieren gegangen, hätte einen paradiesischen Garten gefunden und den erstaunlichsten Mann, der mir je über den Weg gelaufen ist, getroffen, bevor ich in einer Decke gehüllt aufwachte und sah, dass die Eingangstür offenstand.‹ Ja, wohl kaum. Zunächst einmal stellte ich außer der offenen Tür nichts Ungewöhnliches fest.
Es sei denn, es war … Nein, das konnte nicht sein! Man hätte mich vor ihm gewarnt.
Ich schüttelte den Gedanken aus meinem Kopf, als wollte ich Spinnweben loswerden und näherte mich der Haustür. Das Licht auf der Veranda war aus, und draußen ging es ziemlich wild zu. Die Bäume wehten wütend, und die Ketten des Schaukelstuhls knirschten. Kein Wunder, dass ich ganz kribbelig war. Ich verschloss die Tür. Vielleicht war es einfach nur der Wind gewesen, versuchte ich mir einzureden. Dennoch, zu wissen, dass ich jetzt das Haus durchsuchen musste, beruhigte mich nicht im Geringsten.
Mit allen Lichtern eingeschaltet, überprüfte ich das Erdgeschoss, das – was für eine Überraschung – unauffällig war. Als ich jedoch zur letzten Tür kam, wurde mir unwohl. Ich riss sie auf und starrte hinunter in die Dunkelheit, unfähig, einen Fuß in den Keller zu bewegen. Starr vor Angst schlug ich die Tür schnell wieder zu, als käme Feuer aus den Gruben der Hölle auf mich zu.
»Schüttle es ab, Kaz. Du musstest die Tür aufsperren, um sie zu öffnen. Niemand ist da unten«, beschwichtigte ich mich selbst, was mir als Entschuldigung genügte, um nicht in den Keller zu gehen und stattdessen den Rest des Hauses zu durchsuchen.
Ich überprüfte den ersten Stock und drehte wieder alle Lichter an, während ich die Gänge durchforstete. Ich tauschte mein Messer gegen einen Baseballschläger, den ich aus dem Schrank unter der Treppe nahm. Ich benutzte ihn, um die Türen zu öffnen und bereitete mich geistig auf einen Angriff vor.
Der erste Stock war wie der letzte, völlig unauffällig, was darin resultierte, dass ich mir ziemlich blöd vorkam, als ich den Dachboden erreichte. Ich öffnete meine Schlafzimmertür und schaltete das letzte Licht im Haus ein. Alles sah so aus, wie ich es an diesem Morgen hinterlassen hatte. Überall lagen Klamotten, die ich in meiner Panik, nicht zu wissen, was ich für mein Treffen mit RJ anziehen sollte, durch den Raum geschleudert hatte.
Ich legte den Schläger ab und hob die Sachen auf, um sie auf dem Bett zu stapeln, als ich bemerkte, dass etwas nicht mehr so war wie heute Morgen. Mein Buch von Jane Eyre, das auf meinem Nachttisch gelegen hatte, war verschwunden. Ich war mir sicher, es dort liegen gelassen zu haben. Ich hatte es letzte Nacht gelesen. Das war eigenartig. Vielleicht hatte es Libby zum Lesen mitgenommen, aber je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr zweifelte ich an diesem Gedanken. Libby war eher ein Klatschmädchen und liebte die Promi- und Modemagazine. Ich konnte mich nicht daran erinnern, sie jemals beim Lesen eines richtigen Buches gesehen zu haben.
Ich fing an, danach zu suchen, gab aber auf, als ich das Knallen einer Autotür hörte. Libby oder Frank waren zurück. Ich stand von meiner Position, aus der ich unter das Bett gespäht hatte, auf und war gerade dabei, nach unten zu gehen, als mir auffiel, dass mein Fenster offenstand. Wie hatte ich das übersehen können? Es war nicht einmal kalt hier drinnen. Wieso hatte ich das nicht bemerkt?
Ich tapste hinüber zum Fenster. Der Wind blies meine Haare um mein Gesicht. Wieso waren meine Haare überhaupt offen? Das alles brachte mich zurück zu meinem Traum. Wo war eigentlich meine Haarspange? Ich zwirbelte mein Haar wieder nach oben und verknotete es, bevor ich meinen Arm ausstreckte, um das Fenster zu schließen.
»Hey, Kaz. Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat. Im Büro war die Hölle los. Hey, geht‘s dir gut? Du siehst wirklich blass aus. Alles okay?«, fragte Libby mit einem besorgten Blick.
»Ja, alles in Ordnung. Ich bin gerade erst aufgewacht. Muss wohl auf der Couch eingeschlafen sein.« Sie gab mir eine dieser skeptischen Kopfneigungen.
»Vielleicht solltest du heute früher ins Bett gehen, du siehst noch etwas angeschlagen aus? Und ich würde das Fenster nicht offenlassen, du wirst hier oben erfrieren. Übrigens, hast du genug Decken und so?« Sie fing an, um das Bett herum zu wirbeln und Klamotten zu ordnen – das volle Mutter-Programm.
»Ja, ich muss wohl heute Morgen vergessen haben, es zu schließen. Sag, hast du dir mein Buch ausgeliehen?« Ihr ausdrucksloser Blick sagte alles.
»Was, Jane Eyre? Nicht, wenn es keine Neuauflage gibt, in der Orlando Bloom und George Clooney vorkommen!« Sie gab mir ein freches Lächeln. Ich versuchte, es zu erwidern, aber das war alles andere als leicht, jetzt wo meine Gedanken verrücktspielten.
»Also, denkst du darüber nach, in Baseball einzusteigen oder einem Verein beizutreten?«, fragte Libby, als sie meinen Schläger erspähte, der an der Wand lehnte.
»Oh, das, na ja … Ähm …«
»Nein, alles cool. Du musst mir nichts erklären. Ich denke, ich werde ihn einfach mit nach unten nehmen«, sagte Libby und hob ihn auf wie einen schmutzigen Stock, den ein schlammverschmiertes Kind ins Haus gebracht hat.
»Eine Tasse Tee?«, bot sie an und machte die Fliege, ohne auf meine offensichtliche Antwort zu warten.
Ich sackte auf das Bett und stieß dabei Libbys gefalteten Kleiderturm um. Seufzend musterte ich meine Klamotten, aber meine Gedanken waren woanders. Sie brachten mich wieder zurück in den Wald und durchforsteten meine Erinnerungen, um noch einmal einen Blick auf ihn zu erhaschen.
Der Geruch der Blumen und der Geschmack der feuchten Luft hingen noch immer in meinem Gedächtnis. Das Gefühl seiner Berührung, die meine Haut zu versengen schien, würde ich niemals vergessen können. Sie hatte ihn dort für alle Zeiten markiert, und na ja … Das konnte ich einfach nicht aus meinem Kopf bekommen.
Aber was konnte ich dagegen tun? Nichts, was geschehen oder nicht geschehen war, ergab einen Sinn. Selbst wenn dieser Ort tatsächlich existierte – der Teil, in dem alles zu Staub zerfallen war, hatte ausgereicht, mich davon zu überzeugen, dass es nur Einbildung war. Und da war noch mein dunkler, mysteriöser Mann. War mein Verstand wirklich dazu fähig, so eine gewaltige Vollkommenheit herbeizubeschwören? Ich war so durcheinander.
War es real gewesen?
Ich entschied mich, eine Dusche zu nehmen, um zu versuchen, mich zu entspannen, bevor ich ins Bett ging. Ich ließ meinen Bademantel zu Boden fallen und trat in die Kabine. Sofort fühlte ich mich besser, als das heiße Wasser meinen Körper hinunter regnete. Ich konnte spüren, wie sich meine Muskeln entspannten und sich die Verspannung in meinem Nacken löste. Ich liebte das Wasser. Ich liebte alles daran, wenn es regnete, das Geräusch eines Stroms oder eines Flusses, sogar das Geräusch der Tropfen, die während eines Sturms gegen mein Fenster prallten. Aber vor allem liebte ich die Art, wie es sich auf meiner Haut anfühlte. Als ob es nicht nur den Körper vom Alltag reinigte, sondern auch alle schlechten Gedanken und Erinnerungen wegwusch und man sich wie ein neuer Mensch fühlte.
Nun, wenn es nur alte, schöne Erinnerungen zurückbringen könnte, würde ich hier drinnen bleiben, bis ich verschrumpelte! Ich ließ meine langen Haare auf meinen Rücken fallen und hielt mein Gesicht unter das rauschende Wasser der Dusche, während ich mir wünschte, sie wäre ein Wasserfall in einem weit weg gelegenen, exotischen, heißen Regenwald, der voller Geheimnisse steckte. Das brachte mich augenblicklich zurück zu meinem Traum, als ich meine Augen schloss und meine glückseligen Erinnerungen schweifen ließ.
Ich hatte meine Haare und meinen Körper mit Libbys unzähligen Pflegeprodukten gewaschen und mich zeitgleich gefragt, ob sie nicht ein wenig kaufsüchtig war. Da standen sechs verschiedene Duschgels und Flaschen in allen Formen und Größen, die weiß Gott was enthielten. Ich verwendete, was ich brauchte und stieg aus der Dusche, nach einer Mischung aus Jasmin, Honig und einem Hauch von Kokosnuss duftend. Beim nächsten Mal sollte ich die Flaschen sorgfältiger lesen, bevor ich noch wie eine Piña Colada roch.
Ich hatte nicht realisiert, wie lange ich unter der Dusche gewesen war, bis das Wasser kälter wurde und meine Finger schon ganz schrumpelig waren. Ich begutachtete mein Gesicht im Spiegel und runzelte die Stirn. Ich war extrem blass, obwohl ich gerade heiß geduscht hatte und es im Bad immer noch dampfte. Ich wischte mit meinem Arm über den Spiegel und studierte, was die anderen sahen, wenn sie mich anschauten. Meine Augen waren ein langweiliges Graublau, das eher dem Himmel glich, wenn ein Sturm aufzog. Sie waren groß, aber das Einzige, was ich an ihnen mochte, waren die dichten Wimpern, für die Libby ihren rechten Arm abgetrennt hätte.
Ich richtete meine Augen auf mich selbst und gab es auf, zu versuchen, Makel bei mir zu finden. Das schien so ein Frauending zu sein. Wurde man mit einem wunderschönen Mann konfrontiert, wollte man jede Kleinigkeit verschwinden lassen, mit der man unzufrieden war. Ich wünschte, ich wäre mehr dieser ›Ich gehe heute ohne BH‹-Typ von Frau, da ich der Überzeugung war, dass alle Frauen schöne Geschöpfe waren, würden sie sich nicht selbst immer im Weg stehen. Natürlich glaubte ich auch, dass Schönheit von innen kam, da es auch Frauen gab, die äußerlich wunderschön, aber innerlich völlig verdorben waren.
Ich trocknete mich ab und zog meine Sweatpants an sowie ein Top und einen alten Kapuzenpullover mit Reißverschluss, den mir mein Vater vor Jahren geschenkt hatte. Einer, der ihm gepasst hatte, bis sein Bierbauch zu groß wurde. Er wusste, dass er einer meiner Lieblingspullover war. Er zeigte das Logo seiner alten Fußball-Mannschaft auf der Vorderseite und war innen mit Fleece gefüttert. Das Stück hielt mich nicht nur warm, sondern erinnerte mich auch an zu Hause.
Bevor ich ins Bett ging, durchkämmte ich nochmals mein Zimmer auf der Suche nach meinem Buch von Jane Eyre. Es war seltsam. Irgendwie hatte es den Anschein, als ob noch jemand hier gewesen wäre. Hatte ich das Buch heute Morgen mitgenommen? Ich sollte mal in meiner Tasche nachsehen, doch ich schüttelte vorerst meine Gedanken ab. Wahrscheinlich war es der Stress.
Dieses Gefühl hatte mit den Medikamenten angefangen, die mir der Arzt verschrieben hatte. Ich wusste nicht, wo mir der Kopf stand. Ich fing etwas an und konnte mich plötzlich nicht mehr erinnern, was ich tun wollte oder warum. Einer der Gründe, weshalb ich die Medikamente abgesetzt hatte. Sie betäubten mich irgendwie und machten mich meiner Meinung nach nicht sehr umgänglich. Das Einzige, was ich noch gelegentlich einnahm, waren Schlaftabletten. Sie zeigten Wirkung bei mir, aber manchmal konnte ich mich nicht mehr an die Minuten vor dem Einschlafen erinnern und verlor komplette Zusammenhänge.
Das führte zu der Frage, ob ich etwas genommen hatte, nachdem Libby zur Arbeit gegangen war? Möglich. War das die Erklärung? Mein Traummann war nichts mehr als eine drogeninduzierte Fantasie? Gott, ich hoffte nicht! Ich konnte mir nichts Grausameres vorstellen. Das war mehr, als jemandem nur einen Köder unter die Nase zu halten. Eher als ob man einem Diabetiker den Tod vor Augen führte, indem man ihm eine Schokoladentorte anbot!
Ich kam zu dem Entschluss, dass es egal war. Ich hatte mir genug den Kopf darüber zerbrochen. Ich schlüpfte ins Bett und begann, mich in das Kursmaterial einzulesen. Es war höchste Zeit, da in einer Woche das College begann und man mir bereits eine Leseliste zugesandt hatte. Zu meinem Vorteil hatte ich das erste Jahr schon in England absolviert, aber da sich meine Pläne geändert hatten, war es wohl das Beste, von vorne zu beginnen. Zum Ende hin hatte ich viel verpasst, und es war unmöglich, alles aufzuholen. Nicht, dass ich das zu diesem Zeitpunkt vorgehabt hatte.
Ich freute mich am meisten auf Geschichte. Ich liebte Geschichte. Seit meiner Kindheit hatte ich mir mit meinem Vater immer die Dokumentarfilme im History Channel angesehen. Jetzt verstand ich sie natürlich besser.
Meine Großeltern besaßen eine riesige Bibliothek in ihrem Haus in Cornwall, voll mit historischen Büchern aus allen Epochen. Ich hockte stundenlang auf einem alten, abgenutzten Teppich und ließ die Bilder auf mich wirken, während ich mir vorstellte, eines Tages selbst all diese alten Tempel, Gräber und Denkmäler zu besuchen, um sie mit eigenen Augen zu sehen. Ich tat so, als wäre ich eine Archäologin, um all ihre Geheimnisse aufzudecken.
Aber am liebsten hatte ich die Mythologie. Ich strebte danach zu erfahren, woher die Geschichten stammten. Die Fantasie hinter ihnen begeisterte mich. Altgriechisch, ägyptisch, aztekisch – ich konnte einfach nicht genug davon bekommen. Ich liebte das Drama, die Skandale der Götter, Könige und Pharaonen. Das war meine Version eines Klatschmagazins. Somit war es klar, dass ich dieses Fach studieren wollte. Die anderen Kurse hatte ich nur ausgewählt, um meinen Stundenplan voll zu bekommen. Kunst war noch eine weitere Leidenschaft von mir, aber jetzt nicht mehr. Nein, das hatte sich alles schlagartig geändert.
Der Vorfall hatte alles schlagartig verändert.
Jemand klopfte an der Tür, und ich konnte sofort erkennen, dass es Libby war. Vorsichtig guckte sie um die Tür, für den Fall, dass ich bereits schlief.
»Hey, wie war die Dusche?«
»Toll, aber ich glaube, ich rieche jetzt, als würde ich in einer Cocktailbar arbeiten.« Sie lachte, als sie sich auf mein Bettende fallen ließ. Das erinnerte mich an so viele Momente in unserer Kindheit.
»Du kennst mich, ich liebe dieses Zeug. Also, wie findest du alles? Tut mir leid, dass ich dich heute allein lassen musste.«
»Nein, nein, schon okay.« Meine Schwester gab mir einen Blick mit geneigtem Kopf. Der Zweifel stand über ihrem Gesicht geschrieben. Ich konnte es ihr nicht übelnehmen. Immerhin hatte sie mich hier oben mit einem Baseballschläger gefunden.
»Komm schon, Kazzy. Du kannst mit mir reden, das weißt du.« Mein Herz schmolz. Ich wollte nicht, dass sie dachte, ich würde die Orientierung verlieren oder hätte den falschen Schritt gemacht, indem ich hierhergezogen war.
»Ich versuche nur, mich zurechtzufinden. Versteh mich nicht falsch, ich liebe es hier. Und du hattest recht, das war das Beste für mich. Ich mache mir nur etwas Sorgen um meine Arbeit und das College und so, aber das heißt nicht, dass du dir auch noch Sorgen machen musst.« Ich lächelte, um sie zu beschwichtigen, aber ich konnte ahnen, was im Anmarsch war.
»Wieso wartest du nicht noch ein bisschen, bevor du dich in die Arbeit stürzt? Dir würde ein wenig Entspannung guttun, und der Club ist nicht gerade der ruhigste Ort.« Sie zog ein Gesicht, als hätte sie sich gerade die Oberlippe gewachst. Ich konnte das Lachen nicht zurückhalten, das meinen Lippen entschlüpfte, und es fühlte sich gut an. Sobald ich anfing, konnte ich nicht mehr aufhören. Libby verstand den Spaß und lachte mit mir. Die Spannung löste sich von meinen Schultern, und ich umarmte sie.
Sie schnippte ihr rotes Haar zurück und prüfte mich mit einem intensiven Blick. Dann streckte sie ihre Hand aus und strich eine Haarsträhne hinter mein Ohr.
»Wow, deine Haare sind so lang, das bemerke ich erst jetzt. Wieso lässt du sie nicht …« Sie unterbrach sich selbst, denn sie kannte die Antwort. Sie wusste, ich war nicht mehr dasselbe Mädchen.
»Macht nichts. Aber es ist immer noch eine schöne Farbe«, sagte sie, während sie mit den Spitzen spielte. »Und du hast noch immer Dads alten Kapuzenpullover. Nun, ich denke, der passt ihm schon eine Weile nicht mehr.«
Sie grunzte. Als sie die Ärmel berührte, setzte sofort mein Instinkt ein. Schnell zog ich das Material runter und versteckte meine bereits verdeckten Narben. Das ließ sie zurückschrecken, und sie stand vom Bett auf, um sich zur Tür zu begeben, als wäre ihr eine Erinnerung gekommen und sie wollte ihren Emotionen vor mir keinen freien Lauf lassen.
»Libs, ich …«, begann ich, aber sie unterbrach mich.
»Komm etwas zur Ruhe, Liebes.« Dann ging sie, ohne mich anzusehen. Sie war verschwunden, bevor ich ihr eine gute Nacht wünschen konnte. Ich fühlte mich schrecklich deswegen, verstand aber auch, dass ich nicht die Einzige war, die unter dem Geschehenen litt.
Nachdem ich meine Haare gebürstet hatte, fing ich an, sie zu flechten. Es quietschte, als ich sie in drei Teile teilte. Ich hoffte, dass niemand sonst noch duschen gehen wollte, ansonsten würden sie einen Kälteschock bekommen.
Ich vertiefte mich nochmals in meine Lektüre, gab aber nach nur zehn Minuten wieder auf. Ich konnte mich einfach nicht aufs Lernen konzentrieren. Ich war den ganzen Abend so frustriert, dass es unmöglich schien, den Vorfall zu vergessen. Allerdings gab es auch eine Sache, die ich keinesfalls vergessen wollte.
Wieso existierten solche Männer nicht in der realen Welt? Männer waren nicht so perfekt, oder? Auch wenn ich kein Experte auf dem Gebiet des anderen Geschlechts war – was ich gesehen hatte (oder mich entsinnen konnte, gesehen zu haben) war eine atemberaubende Schönheit. Mehr wie ein Gott als ein Mensch. Vielleicht hatte ich zu viele mythologische Geschichten gelesen.
Ich zog Dads Pullover aus, schob meine verworrenen Gedanken beiseite und begann mich zu entspannen. Nachdem ich meine Lampe ausgeschaltet hatte, zog ich die Decke über meinen Körper. Meine Lider wurden schwer, und ich wusste, der Schlaf würde mich bald einholen.
Beunruhigt wachte ich auf und blinzelte. Etwas irritierte mich, und ich drehte meinen Kopf, um zu sehen, wie spät es war. Ich hatte nur eine Stunde geschlafen und stöhnte frustriert. Dann hörte ich es. Das Geräusch, das mich wohl geweckt hatte. Ich schoss schnell hoch.
Er war wieder da!
Mein Blick wanderte durch das dunkle Zimmer, auf der Suche nach einer Bewegung in den Schatten. Der Mond leuchtete hinter einer Wolke hervor, die ihn bald zum Vorschein bringen würde. Ich hielt meinen Atem an und blieb regungslos. Mein Körper war erstarrt. Meine Hände formten so enge Fäuste um meine Decke, dass ich befürchtete, sie würde bald reißen.
Ich wollte das Licht einschalten, wusste aber, dass ich außer meines eigenen blassen Spiegelbildes, das auf mich zurückblickte, nichts erkennen würde. Ich wartete auf das volle Erscheinen des Mondes, als das Kratzen wieder ertönte. Nur dieses Mal war es weniger fanatisch, eher ein weiches Klopfen. Es machte mich neugierig, also stand ich tapfer auf und tappte zum Fenstersitz. Ich blinzelte in einem verzweifelten Versuch, die Kreatur noch einmal zu sehen, aber ehrlich gesagt hatte ich keine Ahnung, warum.
Der Mond kam jetzt heraus und begann, Schatten in mein Zimmer zu werfen. Sowohl Erleichterung als auch Enttäuschung überkamen mich, als ich erkannte, dass es nichts zu sehen gab. Meine Augen suchten überall, aber immer noch war kein Vogel in Sicht oder eine Spur von dem, was das Geräusch verursacht haben konnte. Ich wollte es gut sein lassen, öffnete dann aber das Fenster. Ich wusste nicht, weshalb oder welchen Unterschied es machen würde, aber meine Hand schloss sich dennoch um den Fenstergriff.
Die Scharniere knirschten, als ich am Griff zog. Kalte Luft strömte hinein und lief meinen Rücken hinunter. Ich schlang meine Arme um meine Mitte und wünschte, ich wäre wieder in meinem warmen Bett. Stattdessen stand ich hier wie ein Idiot und fror mir den Hintern ab.
Ich streckte meinen Kopf hinaus und spähte hinunter in den Hof, aber alles sah so aus wie immer. Nur ein Schuppen mit ein paar Autoteilen hier und da. Aber kein Vogel … Nichts. Was hatte ich erwartet? Dass mein geheimnisvoller Traummann dort mit einer Handvoll Steine stand, die er an mein Fenster warf?
Ich lachte über mich selbst und schlug das Fenster wieder zu. Der Lärm erschreckte mich, obwohl ich ihn erwartet hatte. Was ich aber nicht erwartet hatte, war das Knarren der Dielen hinter mir. Ich drehte mich zu schnell um und stolperte beinahe über das Kissen, das vom Fenstersitz auf den Boden gefallen war.
»Du hast Schwierigkeiten, auf den Beinen zu bleiben, nicht wahr?« Diese perfekte Stimme. Die, an die ich mich so stark zu erinnern versuchte. Sie war hypnotisch. Ich wusste nicht, was ich tun oder sagen sollte. Ich wünschte nur, ich könnte ihn so gut sehen, wie ich ihn hören konnte.
Der Raum war stockdunkel, da sich der Mond wieder hinter den Wolken versteckt hatte. Ich konnte nur die große, schwarze Silhouette erkennen, die am Fuße meines Bettes stand, nicht mehr als eineinhalb Meter von mir entfernt. Meine Herzfrequenz musste sich innerhalb von Sekunden verdreifacht haben, dennoch war ich zu verängstigt, um einen Atemzug zu machen. ›Sag etwas, Keira!‹, bellte ich mich innerlich an.
»Ich, ähm … Ich meine … Was hast du hier zu suchen?« war alles, was mir einfiel. Ich klang wie ein Vollidiot! Moment, noch mal zurück. Da war ein fremder Mann in meinem Zimmer und ich machte mir Sorgen darüber, wie ich mich anhörte? Ganz toll, Keira, wie du deine Prioritäten setzt.
Auch wenn ich es nicht klar erkennen konnte, war ich mir sicher, dass er ein Grinsen im Gesicht hatte. Ich konnte es in seiner Stimme hören, als er sagte:
»Nun ja, abgesehen davon, dass es mein Recht ist, dich zu sehen, wollte ich dir auch etwas bringen. Das hast du fallen lassen.« Er streckte seine Hand aus, um mir etwas zu geben, aber ich bewegte mich nicht. Und was meinte er mit ›sein Recht, mich zu sehen‹?
»Es gibt keinen Grund für dich, mich zu fürchten. Ich würde dich nie verletzen.« Er betonte ›nie‹, als würde es ihm körperliche Schmerzen bereiten, seinen Worten nicht treu zu bleiben. Seine Stimme zog wieder dieses hypnotische Ding mit mir ab und verwandelte mein Gehirn in Matsch. Aber selbst mit all dem Matsch, oder vielleicht gerade deshalb, war es mir unmöglich, meine Beine in Bewegung zu setzen.
»Komm her.« Zumindest, bis er meinen Beinen befahl , sich zu bewegen.
Ich machte vorsichtig einen Schritt nach vorn und streckte meinen Arm so weit aus, wie ich konnte, um zu nehmen, was er hielt. Ich war gerade dabei, es zu ergreifen, als er sich blitzschnell bewegte. Seine Bewegungen waren wie eine verschwommene Welle, und ich spürte, wie sich die Haare in meinem Nacken aufrichteten, als er mir ganz nah kam. Meine Hand fiel zur Seite, als ich versuchte, wieder zu atmen. Er hatte wohl meine Reaktion bemerkt, denn er flüsterte mit der weichsten Stimme: »Hab keine Angst, Kleine.«
Ich wünschte, ich hätte Worte finden können, aber ich war vollkommen versteinert, und das nicht nur aus Angst. Alles an ihm hielt mich in einer Art Bann gefangen – sein Geruch, seine Körperwärme und vor allem die geheime Verlockung seiner Stimme. In diesem Moment hätte ich alles getan, was er von mir verlangte.
»Ich … Ich habe keine Angst«, flüsterte ich mit einer gebrochenen Stimme, die alles andere als überzeugend klang. Er war so nah, dass ich sein Lächeln hören konnte.
»Hier«, sagte er, als er meine Hand ganz langsam in seine nahm. Die Hitze, die mich durchdrang, zog mir fast den Boden unter den Füßen weg. Es fühlte sich an, als ob mich tausend rote heiße Nadeln der Lust durchbohrten. Mein Körper ging beinahe in Flammen auf. Ich hatte mich noch nie so lebendig gefühlt. Er drehte meine Hand langsam um, als wäre er bedacht darauf, mich nicht mit plötzlichen Bewegungen zu erschrecken. Seine Augen verließen mich nicht.
Während er meine Hand hielt, legte er etwas in meine nach oben gerichtete Handfläche. Sein Körper rückte näher zu meinem, als er sich zu meinem Ohr beugte, wie er es bereits im Wald getan hatte. Die Worte flossen über seine Lippen mit solcher Perfektion, dass mir der Klang den Atem raubte.
»Ich sollte noch nicht hier sein, aber ich war neugierig auf dich, Kleine.« Das ließ mich etwas anderes in seiner Stimme bemerken. Ein Biss von Autorität, der mich unter seinen Händen erschaudern ließ. Hände, die meine winzig klein erschienen ließen, was dem Spitznamen, den er mir gegeben hatte, wohl gerecht wurde. Verdammt, seine Hand hätte meinen Schädel mit Leichtigkeit zerschmettern können. Ich versuchte, den verängstigten Klumpen in meinem Hals hinunter zu schlucken, der sich anfühlte, als ob dort eine unzerkaute Pflaume stecken würde.
»Auf … mich?«, stotterte ich kaum hörbar. Ich stand unter Schock. Warum um alles in der Welt war er neugierig auf mich? Er hob seine Hand zu meinem Gesicht, und ich erstarrte. Ich konnte nicht einmal den kleinsten Atemzug machen. Inzwischen war der Mond zum Vorschein gekommen, aber im Gegensatz zu mir verschlang die Dunkelheit den Mann nach wie vor. Mit seinem Rücken zum Fenster, konnte er mein blasses Gesicht in Augenschein nehmen. Die Hinterseiten zweier Finger berührten meine Wange und hinterließen einen warmen Pfad auf meiner Haut. Ich schloss meine Augen, als stille Momente vergingen und seine Finger fortfuhren, mein erhitztes Gesicht zu erforschen.
»Exquisit«, flüsterte er gegen meine Stirn, nachdem er sich noch näher zu mir gelehnt hatte und keinen Raum zwischen uns ließ. Mein Atem verhakte sich, als er dieses Wort benutzte, und anstatt diesmal meine Innereien zu Matsch zu verarbeiten, setzte er sie in Brand. Ich befürchtete, dass er mein Begehren fühlen konnte, als meine verhärteten Brustwarzen über ihn streiften.
Ich schaute zu ihm auf und atmete scharf ein, als ich zum ersten Mal seine vom Mondlicht überfluteten, atemberaubenden Züge wahrnahm. Ich hatte recht. Er war göttlich. Und noch unglaublicher – diese göttliche Gestalt lächelte auf mich herab. Von all den Menschen auf der Welt hatte er mich, das kleine, zerbrochene Mädchen, auserwählt, um ihm ein Lächeln zu schenken.
»Du wirst jetzt schlafen, mein Mädchen. Und du wirst heute Nacht gut schlafen, verstanden?« Es war keine Frage, sondern ein Befehl. Einer, von dem ich beinahe überzeugt war, dass ich ihm nicht Folge leisten konnte. Ich meine, welche Frau konnte schon Schlaf finden, nachdem sie so einen Mann in ihrem Zimmer angetroffen hatte? Nein, Schlafen stand nicht auf dem Programm, aber Fantasieren … Oh, auf jeden Fall!
Dann brach er den Bann.
»Bis zum nächsten Mal, meine Keira.« Ich liebte den Klang meines Namens auf seinen Lippen. Sein geflüstertes Versprechen verweilte in meinem Kopf wie eine Droge, deren Wirkung noch lange andauern würde. Ich konnte fühlen, wie ich schwächer wurde, bis ich dem Drang, meine Augen zu schließen, nicht mehr widerstehen konnte.
Mein letzter Gedanke, als ich durch den Strom der Glückseligkeit schwamm, war …
Er nannte mich sein.