N
ichts war so, wie ich es mir vorgestellt hatte.
Wir waren weiter aus der Stadt hinausgefahren, als ich es für notwendig gehalten hatte, und als Libby mich daran erinnerte, dass der Club am Stadtrand lag, hatte sie nicht übertrieben. Er war eher mitten im Nirgendwo!
Wir fuhren eine halbe Ewigkeit die Hauptstraße entlang und dann eine kleine einspurige Straße hinunter, die beiderseits von dichtem Wald verdeckt war. Sie sah wie ein dunkelgrüner Tunnel aus, was mich etwas beunruhigte. Der düstere Tunnel, der mehr dem Eingang zur Hölle glich, öffnete sich zu einem großen Gelände, der als Parkplatz diente. Libby fuhr einen Kreis darum bis nach vorne, aber ich war noch nicht bereit, auszusteigen.
Ich war fassungslos.
Das riesige Gebäude war erstaunlich. Ich hatte nicht erwartet, dass es so aussehen würde wie die anmutige Schönheit, die sich mir offenbarte. Libby bemerkte meine Verblüffung, nickte und sagte: »Ich weiß. Ganz nett, nicht wahr?«
Ganz nett? Nett war nicht das Wort, das ich benutzt hätte. Nicht von dieser Welt, überwältigend schön, absolut erstaunlich, atemberaubend – alles andere als einfach nur ganz
nett! Als Innenarchitektin hätte sie eine passendere Antwort finden sollen, die ihren glänzend roten Lippen entglitten wäre.
»Es ist mehr als ganz nett, Libs. Es ist unglaublich!«, sagte ich verblüfft.
Es sah so deplatziert aus, und doch irgendwie nicht, als wäre es schon seit jeher da gewesen. Wie ein Hunderte von Jahren altes Bauwerk. Es war nicht wie der Club, den ich mir vorgestellt hatte und ähnelte keinem, den ich je gesehen hatte.
In England sahen viele Nachtclubs wie Pubs oder normale Gebäude aus. Eines, in das ich früher gegangen war, war ein altes Kino, aber dieses hier glich eher einem verdammten Herrenhaus.
Ich konnte gar nicht das ganze Haus sehen (Haus, was für eine Untertreibung!). Es schien, als ob es noch weit nach hinten weiterging, aber von dichtem Wald umgeben war, was nur die Vorderseite freilegte. Dicke Steinblöcke formten die Mauern, die, wie ich vermutete, einst heller gewesen waren. Das lag wahrscheinlich an der Witterung und erinnerte mich an Bath, eine Stadt in England, die für ihre alten römischen Bäder und Sandsteingebäude berühmt war.
Eine Seite war mit einem dicken Teppich aus sattem, grünem Efeu bedeckt, der um die Fenster kroch, als ob die Ranken versuchten, das Gebäude völlig einzunehmen, aber noch nicht weit genug reichten. Das gab ihm auf jeden Fall ein gespenstisches Flair. Der Eingang war so prachtvoll wie der Rest des Gebäudes mit einem beeindruckenden, hervorragenden Steinbogen. Große, dicke, schwarze Tore auf beiden Seiten sahen stark genug aus, um eine Armee abzuwehren.
Sie standen nun offen, um den Leuten Einlass zum Club zu gewähren, die bereits auf dem Weg nach drinnen waren. Allerdings formte sich keine Schlange davor, und ich sah auch keine Absperrung aus Seilen oder Ähnliches. Das Einzige, was es wie einen Club aussehen ließ, waren die beiden monströsen
Türsteher, die auf beiden Seiten der Tore standen. Ich blickte zu Libby rüber.
»Franks Leute?«
»Ja, das sind Cameron und Jo. Ganz nette Burschen. Ich habe sie letztes Jahr auf der Weihnachtsfeier getroffen.« Sie lachte, als wäre ihr gerade eine witzige Erinnerung gekommen, und wie sich herausstellte, musste ich nicht lange warten, bis sie mich ins Bild setzte.
»Jo hatte zu viele Wodka Shots mit Frank gekippt und war so voll, dass am Ende seine Mutter kommen musste, um ihn abzuholen.« Sie lachte hämisch. »Na dann, ich wünsche dir einen tollen Abend. Ruf einfach an, und ich sage Frank, er soll dich abholen. Kein Problem. Er arbeitet sowieso länger und meinte, er wollte dich abholen.«
»Okay.« Ich glaubte ihr nicht eine Sekunde. Sie machte sich einfach nur Sorgen um mich.
»Lass es krachen, Mädchen.« Ihr Versuch, heiter zu klingen, scheiterte.
Ich stieg widerwillig aus dem Auto und drehte mich um, um mich zu verabschieden.
»Viel Spaß und entspann dich. Du siehst aus, als ob du gleich ohnmächtig wirst!«, rief sie durch den kleinen Fensterspalt auf der Beifahrerseite. Ich machte mich lächerlich. Der Club war nicht so gruselig. Ich beobachtete, wie Libbys Ford im Nebel verschwand, bevor ich mich zum imposanten Eingang begab.
Meine Augen nahmen jede scharfe Kante, jeden Steinblock und jedes gewölbte Fenster wahr. Der Wald auf der rechten Seite wirkte irgendwie dicker und wilder. Als ich meine Augen verschmälerte, nahm ich Notiz von einem riesigen Balkon auf der rechten Seite des Gebäudes. Ich wollte einen genaueren Blick darauf werfen, aber als ich mich in diese Richtung begab, entdeckte ich eine große Gestalt, die dort stand. Panisch wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder dem Eingang zu.
Ich bewegte mich langsam vorwärts, hörte durch das laute Pochen meines Herzens kaum den Kies unter meinen alten lilafarbenen Doc Martens knirschen. Die zwei Männer am Eingang warteten darauf, dass ich nähertrat. Sie schauten sich gegenseitig an, als ob sie mein zaghafter Gesichtsausdruck amüsierte. Ohne Zweifel war für sie ersichtlich, dass ich ein Neuling war.
»Abend«, grüßte mich der Kleinere. Er besaß ein freundliches Gesicht, das nicht zu seiner groben, harten Stimme passte. Beide trugen dicke schwarze Jacken, die sie noch kräftiger wirken ließen. Ich lugte zum Größeren hoch, der mich ungeduldig ansah, als ob er auf etwas wartete. Hatte er mir eine Frage gestellt?
»Ich sagte, Ausweis!«, blaffte er ungeduldig. Ups, komm schon, Keira! Verärgere die großen Jungs nicht.
»Ja, klar«, murmelte ich mit einem harten Schlucken, während ich in meine Tasche griff und meinen Ausweis herauszog. Sie beäugten ihn genau, und dann, ganz plötzlich, veränderte sich der Ausdruck auf ihren Gesichtern. Nun, zumindest lächelten sie mich jetzt an anstatt finster zu gucken.
»Du bist Franks Schwägerin?«, fragte der Größere mit Enthusiasmus (der mit der Intoleranz für Wodka Shots).
»Äh, ja«, sagte ich vorsichtig, da ich nicht wusste, ob Frank wollte, dass sie eingeweiht waren.
»Ah, verdammt. Libby und er haben schon Monate darauf gewartet, dass du hierherkommst! Es ist schön, dich endlich zu treffen. Ich bin Jo, und das ist Cameron.« Er streckte eine große, bärenstarke Hand aus. Ich war gerührt, dass Frank mich überhaupt erwähnt hatte. Seine Hand verdeckte meine komplett, als ich sie in seine legte, und er schüttelte sie sanft, als ob ich zu zerbrechlich wirkte.
Ich nickte dem anderen Typ zu, während Jo noch immer meine Hand hielt. Er drehte sie um, und ich warf ihm einen
fragenden Blick zu, als er etwas auf meine Haut stempelte. ›Berechtigt‹ zierte nun meine Hand in roten Buchstaben.
»Wir lassen hier eine Menge Altersgruppen hinein, aber sie dürfen nur mit Ausweis Alkohol konsumieren«, erklärte er mit einem großen, ansteckenden Grinsen im Gesicht.
»Soll ich mit dir hineingehen, damit du deinen Tisch findest?«, fragte Jo, und der Gedanke ließ mich zusammenzucken. Das hatte ich wohl zu offensichtlich getan, denn er lachte herzhaft.
»Ich deute das als ein Nein«, meinte er gewitzt.
»Du bist einfach nicht cool genug, Kumpel.« Cameron lachte und schlug seinem Freund auf den Rücken. Ich kicherte in der Hoffnung, ihn nicht beleidigt zu haben, als mir eine dringendere Angelegenheit in den Sinn kam.
»Moment … Sagtest du Tisch?«
»Ja, einer wurde für dich und deine Freunde reserviert. Sie sind schon drin. Geh rein, Schätzchen.« Cameron zwinkerte mir zu, gerade als ein paar junge, dunkel gekleidete Jugendliche hinter mir heraufkamen. Sie wandten sich den Ankömmlingen zu und murrten ›Ausweis‹ in einem hörbar unfreundlicheren Ton.
Lächelnd dankte ich Frank in Gedanken. Netter Bonus, mit meinem großen Schwager verwandt zu sein. Wenigstens war ich nicht mehr so angespannt wie zuvor. Ich sollte mich später bei ihm bedanken.
Nachdem ich durch den imposanten Eingang geschritten war, fand ich mich vor einem Paar massiver Holztüren wieder, die aussahen, als ob sie einmal zu einer Burg gehört hätten. Das dunkle Eichenholz war mit schwarzen Eisennieten beschlagen, und beide Türen standen für die Gäste offen. Ich konnte nicht anders, als sie zu berühren, als ich über die Schwelle glitt.
Sie waren warm, was ich äußerst eigenartig fand. Ich studierte sie für ein paar Sekunden, bevor ich eintrat.
Ein Symbol war tief in die Mitte jeder Tür geschnitzt. Eine Art Familienwappen, aber ich konnte nichts Genaueres erkennen, da bereits einige Leute hinter mir versuchten, sich vorbeizuzwängen. Ich ging durch die Türen hindurch, und mich überkam ein seltsames Gefühl, das mir die Haare im Nacken aufstellte. Aber es war nicht Angst.
Nein, wenn überhaupt, fühlte es sich an, als ob …
Als ob ich nach Hause kommen würde.
»Hey Kaz, du bist hier!«, rief RJ schockiert. Hatte sie wirklich gedacht, ich würde sie sitzenlassen? Vielleicht hatte sie meine Zurückhaltung am Telefon gehört.
»Ja, natürlich. Hätte es um nichts in der Welt verpasst«, sagte ich in einem hoffentlich enthusiastischen Ton, was mir jetzt, wo ich hier war, nicht schwerfiel, denn ich freute mich wirklich auf den Abend. Es schien, als wäre etwas in meinen Körper eingedrungen, das mir einen erstaunlichen Rausch an Zuversicht gab. Als ob mich etwas hierhaben wollte und wüsste, dass ich ohne Hilfe nicht durch die Türen gegangen wäre. Nun, was auch immer es war, es hatte funktioniert.
»Folge mir. Du brauchst einen Drink!«, sagte sie mit einem riesigen Lächeln auf ihrem Gesicht, das nicht zu dem Goth-Vampir-Look passte, auf den sie abzielte. Sie war in einen kurzen schwarzen Minirock gekleidet, an dem unzählige Ketten hingen. Ich fragte mich, wie es sein konnte, dass er mit all dem extra Gewicht an ihren Hüften haften blieb. Dazu trug sie ein schwarzes Top mit Rissen über der Brust, die ein leuchtend pinkfarbenes Netzteil darunter sichtbar machten. Es passte zu ihrem pinkfarbenen Haar, das in Kordeln an der Vorderseite fixiert war. Eine lange schwarze Jacke, die bis zum Boden
hing, vervollständigte das Militär-Outfit mit vielen runden Metallknöpfen, die sich auf beiden Seiten in einer V-Form nach unten zogen.
Wir kämpften uns durch die Menge zur Bar. Es war süß, wie sie sich hin und wieder umdrehte, um nachzusehen, ob ich ihr noch folgte. Ich konnte verstehen, warum sie das tat. Anscheinend hatte sich die ganze Stadt hier versammelt. Der Club war so enorm groß, dass man jeden Einwohner hier unterbringen könnte und noch immer reichlich Platz übriggehabt hätte. Ich fokussierte mich auf RJs hell-pinkfarbene Haarspitzen, um nicht in der Menschenmenge unterzugehen. Das erwies sich als schwierig, da ich nicht umhinkonnte, alles auf einmal zu bewundern.
Ich hatte so etwas noch nie zuvor gesehen. Innen passte nicht wirklich zu außen, als würde Altes mit Neuem verschmelzen. Von außen sah es aus wie ein stattliches Gebäude aus dem sechzehnten Jahrhundert, aber von innen, nun, da begann es erst, mehr in Richtung Club zu gehen. Einer mit einem sehr speziellen Flair. Der enorm große, offene Raum könnte um eine zerfallene Kirche herum gebaut worden sein. Die Struktur blieb, mit extrem hohen Räumen und massiven Steinbögen. Die gesamte Decke bestand aus einer Reihe eben jener ineinander verschränkten Steinbögen, um dann wieder in andere Richtungen zu führen, wie man es von großen Kathedralen kannte.
Der Raum war in verschiedene Ebenen unterteilt, mit Nischen und Sitzecken außen herum. Die Inneneinrichtung war üppig und knallig mit blutroten und tief violettfarbenen Farbakzenten. Prächtige, schmiedeeiserne Kronleuchter hingen herunter, dort, wo die Bögen in der Decke aufeinandertrafen. Alle waren mit Kerzenlampen ausgestattet, die für den nötigen Effekt flackerten. Die gleichen Lampen waren hier und da an den Wänden angebracht. Diese bestanden aus dem gleichen Stein
wie die Außenseite, aber nicht verwittert und somit noch in ihrer natürlichen weichen Farbe. Das gab dem Raum eine warme Aura, als das Licht auf dem hellen Stein reflektierte.
Ich war erstaunt über das, was mich umgab, als ob ich in eine mittelalterliche Ära transportiert worden wäre. Nur, dass damals wohl kaum so viele beängstigend aussehende Menschen herumgewuselt waren. Worte wie Hexenjagd, Teufelsanbeter und zum Scheiterhaufen verurteilt kamen mir in den Sinn. So viele waren ganz in Schwarz gekleidet, dass es fast aussah wie eine Sektenansammlung. Einige von ihnen starrten mich an, als ich sie passierte, und ich gab mein Bestes, mit RJ Schritt zu halten. Wir waren schon fast an der Bar angelangt, als die Menge dichter wurde. RJ stoppte und drehte sich mir mit einem riesigen Grinsen auf ihren schwarzen Lippen zu.
»Alles okay?«, wollte sie wissen.
»Ja, klar. Hatte nur nicht erwartet, dass es so voll sein würde.«
Sie lachte, als hätte ich etwas vergessen. Etwas sehr Wichtiges.
»Nun, ist es normalerweise auch nicht, bis die Dravens hier auftauchen. Die Acid Criminals sind nicht so berühmt. Du hast Glück, dass sie heute so früh hier ankommen.« Sie klatschte wie ein Kind in die Hände.
»Wer, die Acid Criminals?« Ich war verwirrt und verstand immer noch nicht, wieso so viele Menschen hier waren, die aussahen, als ob sie an einer Comic Convention teilnahmen.
»Nein, nein, nicht die Band …« Ich war im Begriff, nachzufragen, als sie plötzlich mit reiner, ungehemmter Aufregung rief: »Die Dravens!«
Nach dieser Erleuchtung und zwanzig Minuten Anstehen in der Schlange bekamen wir endlich unsere Getränke. RJ drängelte sich nach vorn, und ich tat es ihr gleich. Wieder einmal folgte ich RJ zurück, wo ihre Freunde auf uns warteten. Meine
Gedanken waren ganz woanders, denn anstatt nervös zu sein, neue Leute treffen, war ich davon besessen, sie
zu sehen. Ich blickte mich um und wusste, ich war nicht die Einzige. Die Leute schienen ganz hibbelig vor Aufregung zu sein.
RJ ergriff meine Hand, da sie offensichtlich wusste, wohin wir gingen.
»Komm schon! Der Tisch ist gleich neben der Treppe, und wir haben die beste Sicht von allen!«, verkündete RJ, zog das Wort ›beste‹ in die Länge und warf mir ein triumphierendes Lächeln zu.
Der Aufgang befand sich in der Nähe der Zwischenetage und einer der immensen Treppen, die zu ihr hinaufführten. Es gab noch eine zweite, gespiegelt auf der gegenüberliegenden Seite. Beide schufen eine perfekte Verbindung für die Bühne in der Mitte. Eine erhöhte Plattform, hoch genug für alle, die weiter unten saßen für einen uneingeschränkten Blick auf die Band.
Das Konstrukt dieses Clubs war perfekt für diesen Zweck. Es war der eleganteste Nachtclub, den ich je gesehen hatte. Einen, den man in einer Großstadt erwartet hätte, nicht in einer abgelegenen Kleinstadt inmitten der Wildnis.
»Was ist da oben?«, fragte ich, als wir den Aufgang an der linken Seite passierten. Zwei riesige Männer bewachten ihn, als ob dort oben Kronjuwelen gebunkert wären. Jo und Cameron waren schon groß gewachsen, aber diese Jungs stellten sie in den Schatten. Die Geschichte von David und Goliath poppte in meinem Kopf auf.
»Ah, das ist eine gute Frage, meine liebe Kazzy. Da oben befindet sich die VIP-Lounge«, war ihre dramatische Antwort, als sie die Giganten beäugte.
»Dort verbringen die Dravens ihre Zeit. Es geht viel tiefer, als du sehen kannst«, fuhr sie fort und deutete mit ihrer Hand nach hinten.
»Nicht, dass ich jemals dort oben gewesen wäre«, fügte sie in einem leicht verbitterten Ton hinzu. »Aber mein Vater hat seine eigene Baufirma, und einer seiner Jungs war letztes Jahr hier, um einen Job zu erledigen. Was komisch ist, weil sie normalerweise ihre eigenen Leute für so etwas anheuern. Sie waren wohl verzweifelt oder so. Wie auch immer, ich konnte meinen Vater dazu bringen, mir jedes kleinste Detail zu beschreiben und habe natürlich diese wichtige Information weitergegeben, so wie es sich für guten Klatsch in dieser Stadt gehört.« Sie grinste mit Stolz. Ich lachte zurück, nicht im Geringsten überrascht, und machte mir gleichzeitig eine geistige Notiz, ihr nie etwas zu erzählen, was ich nicht auf dem Schwarzen Brett dieser Stadt präsentiert haben wollte.
Mittlerweile hatten wir es durch die alternativ aussehende Menge zu unserem Sitzplatz geschafft, an dem die komplette RJ ›Goth Gang‹ versammelt war, die eigentlich gar nicht so gruselig aussah.
Es gab insgesamt drei von ihnen. Zwei Jungs und ein Mädchen, die eine halbovale, mit rotem Samt bedeckte Sitzreihe besetzten. In der Mitte stand ein Tisch, der sich bereits mit leeren Gläsern und Flaschen füllte, die darauf warteten, eingesammelt zu werden. Sobald sie uns erblickten, rückten sie zusammen, um Platz für uns zwei zu machen.
»Das war ein Alptraum. Ich glaube, beim nächsten Mal würde ich lieber verdursten!«, motzte RJ, als sie sich hinsetzte und ihre Flasche Budweiser auf den Tisch stellte, bereit, mich vorzustellen.
»Alle, das ist Keira!«, kündigte sie an, und ich fühlte mich plötzlich, als ob man mich in eine dieser Selbsthilfegruppen einführte.
»Äh, Kaz reicht völlig«, murmelte ich und versuchte, nicht so schüchtern zu klingen. Natürlich half es nicht, dass alle acht
Augen auf mich gerichtet waren. Meine Hand wurde schon taub von dem kalten Bier, also stellte ich meine Flasche ebenfalls ab.
»Hi, Kaz, ich bin Lanie.« Ich lächelte dem hübschen Mädchen mit ihrem kurzen Bob zu. Sie besaß ein freundliches Gesicht und eine Brille mit kleinen, ovalen Gläsern, die auf einer winzigen, zarten Nase saß. Sie stand auf, und ich beugte mich vor, um ihre Hand zu schütteln.
Einer nach dem anderen stellten sie sich vor, und sobald ich nicht mehr der Mittelpunkt der Konversation war, wurde ich lockerer. Es erleichterte mich, darüber zu plaudern, dass ich bald mit dem College anfangen würde. Sie lebten alle etwas weiter entfernt von mir. Charles oder Chaz, wie er genannt werden wollte, war auch gerade erst hierhergezogen.
Chaz war süß mit seinem Babyface, das aussah, als wäre es noch nicht so erwachsen wie der Rest von ihm. Er schenkte RJ viel Aufmerksamkeit, aber sie schien es nicht zu bemerken. Der andere Typ war Andrew oder Drew, wie er bevorzugte. Er war ein Geek, der Computertechnik studierte und sich gerne die Zeit mit World of Warcraft vertrieb. Er fing an, ins Detail über das Spiel und die ›Community‹ zu gehen, aber er hätte genauso gut Japanisch sprechen können.
»Lass es gut sein, Drew!«, raunzte RJ und warf ein Stück von dem Bierlabel, mit dem sie gespielt hatte, in seine Richtung. Ein guter Schuss, denn es landete auf seinem Kopf und fiel runter, um auf seiner Brille zu balancieren. Alle lachten, Drew eingeschlossen.
Ich erfuhr, dass RJ und er als Nachbarn aufgewachsen und seither beste Freunde waren. Drew war groß und sehr dünn, aber er hatte die erstaunlichsten dunkelbraunen Augen mit einem Hauch von Toffee. Sie waren groß, ausdrucksstark und schienen zu mögen, was sie in Lanie sahen, da sein Blick permanent in ihre Richtung wanderte.
Sie alle gaben mir das Gefühl, willkommen zu sein, und ich fühlte mich wohl dabei, ihnen etwas über mich selbst zu erzählen (einen Teil zumindest). Aber sie lachten, wenn ich über verschiedene Dinge sprach und begannen mit dem ›Sag mal das … Sag das noch mal‹-Quatsch.
Libby hatte recht: Mein englischer Akzent kam gut bei allen an. Es würde wohl nicht lange dauern, bis sie mich dazu brachten, die Königsfamilie zu imitieren! Aber ich nahm alles gelassen und hatte so eine gute Zeit, dass es mir nicht auffiel, als RJs Bruder auftauchte. Peinlich, dass er hinter mir stand, als ich vor Lachen grunzte wie ein Schwein. Seine Anwesenheit ging völlig an mir vorüber, bis mich RJ auf ihn aufmerksam machte.
»Hey, da bist du ja. Ich dachte schon, du verpasst die Band, aber sie fangen ohnehin erst in zehn Minuten an.« Mein Gesicht wurde leuchtend rot vor Verlegenheit. Ich spürte seine Augen auf meinem Hinterkopf. Ich drehte mich um und erblickte ein schönes Gesicht, das mich anlächelte.
»Na hallo, Kichererbse. Ich bin Jack. Du musst unsere englische Rose Keira sein«, summte er mit einer selbstbewussten, glatt-texturierten Stimme. Ich errötete erneut wie eine Nonne in einer FKK-Kolonie. Ich verabscheute Komplimente. Ich wusste nie, wie ich reagieren sollte, da ich nicht unhöflich sein, aber vor allem keine Aufmerksamkeit auf mich lenken wollte.
»Jack, sei kein Freak. Du bringst sie in Verlegenheit!«, eilte RJ zu meiner Rettung.
»Ich entschuldige mich für meinen Bruder. Als Kind ist er oft auf den Kopf gefallen.« Ich versuchte, mein Grinsen zu verbergen.
»Ich glaube, du meinst, am Kopf geschlagen von dir!«, warf Drew in die Debatte ein.
Jack beugte sich zu meinem Gesicht, mit einem spitzbübischen Grinsen, das jedes Herz schmelzen lassen könnte, und sagte:
»Sorry wegen der beiden. Wenn sie mal angefangen haben, gibt es kein Zurück mehr. Fangen wir noch mal bei Null an. Ich bin Jack, und ich habe keine Probleme mit meinem Kopf.« Er lächelte am Ende seiner Rede und ersetzte seine Unverfrorenheit mit einem charmanten Augenzwinkern.
Etwas war so sympathisch an ihm, dass ich nicht umhinkonnte, selbst zu lächeln. Er sah ein bisschen wie ein etwas kantigeres Laufsteg-Modell aus. Eines, das man in einer Werbung für Gillette-Rasierprodukte buchte, denn dafür hatte er die passenden Bartstoppeln und zerzausten Haare.
Sein Haar war braun, durchzogen von goldenen Strähnen. Es flatterte in jede Richtung, wenn er sich bewegte, während das warme Licht im Club auf seinen Strähnen reflektierte. Seine warmen, haselnussbraunen Augen passten zu seinen Haaren und waren von langen Wimpern umrahmt. Aber das alles war nicht das Beste an ihm, oh nein. Das war sein herzerwärmendes Lächeln – die Art, die sein ganzes Gesicht erhellte, wenn es erschien.
Er setzte sich neben mich, als wir alle wieder aufrückten. Drew und Chaz schienen erfreut darüber, so nah bei ihren Mädchen sitzen zu dürfen. Aber jetzt sahen wir alle aus wie Pärchen – drei Mädchen und drei Jungs. Dieser Gedanke machte mich unrund. Das letzte, was ich brauchen konnte, waren Komplikationen, und Jungs waren prädestiniert für Komplikationen. Vor allem wenn sie aussahen wie Jack.
»Also, wir haben den Tisch wohl dir zu verdanken?«, fragte mich Jack.
»Mein Schwager kümmert sich um den Sicherheitsdienst hier«, erklärte ich, bevor RJ beisteuerte:
»Ja, und die Glückskuh hat auch einen Job hier abgesahnt!«
Ich grinste, als sie mir zuzwinkerte und mir versicherte, dass sie mit ›Kuh‹ nur gescherzt habe. Ich blickte zurück zu Jack, der etwas bedrückt aussah, aber er versteckte es, sobald RJ ihm einen ominösen Blick zuwarf. Seltsam.
»Also, wie gefällt dir unsere kalte Kleinstadt?«, fragte Jack mit einem schiefen Grinsen. Sein Arm ruhte auf der Lehne hinter mir.
»Hmm, um ehrlich zu sein, ich habe noch nicht viel gesehen. Aber das, was ich gesehen habe, finde ich toll. Meine Schwester und ich waren letztens wandern. Es war großartig.« Etwas funkelte in seinen Augen, als hätte ich sein Interesse geweckt.
»Oh, du gehst gerne wandern? Ich auch. Na ja, wenn man hier aufwächst, erkennt man schnell, dass es nicht viele Dinge gibt, die man unternehmen kann. Zumindest bis dieser Club geöffnet hat.« Ich fragte mich, wie lange es ihn schon gab. RJ hatte erzählt, dass die Dravens jedes Jahr hierherkamen.
»Ich kenne die besten Orte, wenn du einen fachkundigen Wanderführer suchst.« Er gab mir einen leichten Schubs.
»Die besten Orte wovon?«, fragte RJ.
Aber bevor sie ihre Antwort bekam, begann sich die Menge zu bewegen, und die Leute erhoben sich von ihren Sitzen, um eine bessere Sicht zu bekommen. Dafür, dass die Band angeblich nicht so bekannt war, bekam sie recht viel Aufmerksamkeit. Ich tat meinen Gedanken kund und sagte:
»Ich vermute, die Band ist hier.« Das galt RJ, die jetzt wie all die anderen stand. Jack und ich waren die Einzigen, die noch saßen.
»Falsch gedacht«, sagte sie mit einem breiten Grinsen, als sie beinahe auf den Sitz stieg, um über alle hinwegzusehen. Lanie tat es ihr gleich, aber mit ihrer Größe hatte sie nicht das gleiche Problem wie RJ.
»Das wird super!« Und damit schlug sie ihre Hände vors Gesicht in grenzenloser Freude.
»Ist sie zu Weihnachten auch so?«, fragte ich Jack, den das Verhalten seiner Schwester nicht begeisterte und der seine Augen verdrehte.
»Leider nein. Nichts versetzt sie in solche Aufruhr. Ich verstehe wirklich nicht, was so toll an ihnen ist«, nörgelte er in einem gelangweilten Ton und schüttelte leicht den Kopf.
»Ihnen?« Hatte ich etwas verpasst? Und dann schnallte ich endlich, weshalb alle so einen Wirbel machten. RJs aufgeregtes Quietschen bestätigte meine Theorie.
»Die Dravens!« Ihre Stimme fuhr so hoch nach oben, dass wahrscheinlich alle Hunde im Umkreis von zehn Kilometer vor Schmerz heulten.
»Ah«,
murmelte ich, als jeder seinen Hals reckte. Ich versuchte, in meinem Sitz zu versinken und mich aus dem Sichtfeld zu nehmen. Jack nahm Notiz von meinem eigenartigen Verhalten.
»Schön zu sehen, dass nicht jeder hier dem Draven-Fieber verfallen ist.« Er lächelte zu mir nach unten, bekam aber RJs Mittelfinger als Antwort.
»Nett und sehr damenhaft, Schwester«, sagte er sarkastisch. Dann begann das Flüstern, was darauf hindeutete, dass sie hier waren. Niemand bemerkte, dass die Band bereits auf der Bühne stand und bereit war, ihren ersten Song zu spielen.
Köpfe drehten sich in Richtung des Eingangs, den ich nicht lange zuvor passiert hatte. Und dann wurde es seltsam, wie in einem der Teile von Der Pate
, als Don hereinkam. Jeder, der gestarrt hatte, versuchte nun, sie nicht direkt anzusehen. Von dem, was ich erkennen konnte, schritten sie gerade durch die Menge. Für sie ging das um einiges leichter als wir uns durchgekämpft hatten. Die Leute traten zur Seite, als ob Moses die Richtung wies.
Die Musik ertönte genau zu diesem Zeitpunkt, als ob sie versuchten, die Aufmerksamkeit der Masse in eine andere
Richtung zu lenken. Wenn überhaupt, machte es ihr Erscheinen nur noch dramatischer. Ich versuchte, nicht hinzusehen, ertappte mich aber dabei, hin und wieder aufzuschauen, und hoffte, der Aufruhr würde sich bald legen. Ich wusste nicht, wieso, aber sie taten mir leid. Ich würde es unerträglich finden, von so vielen Menschen angegafft zu werden. Also wandte ich meine Augen ab, damit zumindest ein Paar weniger auf sie gerichtet war.
Aber da waren auch viele andere Gefühle, die durch meinen Körper und meinen Geist strömten. Gefühle, die mir unerklärlich waren. Nervosität breitete sich wieder in mir aus, und meine Arme begannen zu jucken, als würden die verborgenen Narben unter meinen Ärmeln brennen.
Ich setzte mich auf meine Hände und versuchte, nicht zu zappeln. Mein Herz raste unkontrolliert, und ich war erleichtert, dass die Band zu spielen begonnen hatte, da ich mir sicher war, dass man das unruhige Verhalten meines Körpers hören konnte. Ich versuchte mich auf meine Atmung zu konzentrieren, verlangsamte mein Einatmen so, wie es mir der Arzt vorgeführt hatte, um meine Panikattacken zu unterdrücken.
Was war los mit mir? Wieso verhielt ich mich so verrückt? Es war doch nur eine reiche Familie, die ein bisschen mysteriös war. Sie wollten wahrscheinlich nur in Ruhe gelassen werden. Ich begann, meine Gedanken aufzulockern. Ja, das war gut. Weiter so, Keira,
befahl ich mir selbst. Aber dann schoss mir etwas in den Sinn, das RJ erwähnt hatte.
Die Treppe!
Die verdammte Treppe, die zur VIP-Lounge führte. Dieselbe Treppe, die sich direkt neben uns befand. Daher RJs Begeisterung, dass wir diesen Tisch hier ergattert hatten. Sie wusste, sie mussten direkt an uns vorbei. Okay, jetzt war ich nicht mehr so gelassen. Und um die Dinge zu verschlimmern, tat Jack seine rebellischen Gefühle kund, stand auf und deklarierte:
»Ich glaube, mir reicht die Theatralik für heute. Ich hole mir einen Drink.« Er verschwand, was mich völlig den Blicken jener aussetzte, die vorbeigingen. So, wie sich die Menge vor uns spaltete, hatten wir einen uneingeschränkten Blick auf die Dravens, fast wie bei einem Konzert direkt vor der Bühne. RJ keuchte vor Freude, und Lanie seufzte beinahe sehnsüchtig.
Ich hingegen hatte aufgehört zu atmen.
Denn da, vor mir stand …
Dominic Draven.