9
Erste Nacht
» W arum kann ich dich nicht kontrollieren?«
Ich wachte plötzlich auf, als seine Stimme in meinem Geist widerhallte. Aber dann hörte ich das Telefon klingeln und wusste, dass mich nicht nur der Klang seiner Stimme aus dem Schlaf gerissen hatte. Ich ließ es klingeln, da ich es unmöglich rechtzeitig nach unten schaffen würde. Kurze Zeit später ertönte RJs aufgeregte Stimme auf dem Anrufbeantworter.
Ich blickte zur Uhr. Es war noch viel zu früh für Telefonate, aber zu meinem Erschrecken hatte ich verschlafen. Ich schlief nie so lange und war dementsprechend überrascht, dass es fast schon Mittag war, was bedeutete, dass mir nur noch wenige Stunden bis zu meiner ersten Schicht blieben.
Ich stand auf, nahm rasch eine Dusche und rief RJ zurück, nachdem ich ihre Nachricht noch mit einem Handtuch um meinen Kopf gewickelt abgehört hatte.
»Ja, er hat nicht aufgehört über dich zu reden letzte Nacht bei Drew. Ich glaube, mein großer Bruder hat sich ein wenig verknallt!«, meinte RJ, nachdem sie mir mitgeteilt hatte, ich würde hier bei allen Männern gut ankommen.
»Oh, ich glaube, er war einfach nur nett.« Doch sie ließ sich nicht von ihren Bemühungen abbringen.
»Glaub mir, es gibt nett und es gibt nett!« Glücklicherweise geriet dieses Thema rasch in Vergessenheit, doch das nächste war auch nicht besser.
»Hey, wenn wir schon von nett sprechen: Was hatte es gestern Abend auf sich, als Mister Groß, Dunkel und Wunderbar deinen Hintern angestarrt hat?«
»Ich habe gesessen, RJ. Da gab es kein Hintern-Anstarren.« Der Gedanke allein ließ Hitze in meine Wangen steigen.
»Jaja, du weißt, was ich meine. Er konnte seine Augen nicht von dir lassen!« Ich biss mir auf die Lippe, als mich meine Erinnerung dorthin zurückbrachte und dann zu dem Traum, aus dem ich soeben erwacht war.
»RJ, er hat mich nur finster angesehen. Wenn überhaupt hatte es eher den Anschein, als würde er mich gleich aus seinem Club werfen!« Darüber fing sie an zu lachen.
»Was?«, fragte ich mit zusammengezogenen Augenbrauen.
»Ach, komm schon. Hast du nicht gesehen, wie er zuerst Mister Lustvoll gespielt hat? Der finstere Blick kam erst, als ihm klar wurde, dass du nicht auf deine Knie fallen und ihn anflehen würdest, dich mitzunehmen … Was dich, nur so nebenbei, offiziell zur coolsten Person macht, die ich kenne.« Ich lachte und erschauderte gleichzeitig.
RJ beendete das Gespräch, nachdem ich ihr schwören musste, dass ich ihr alles über meine erste Schicht in Afterlife erzählen würde. Wir arrangierten auch ein Treffen für unseren ersten Collegetag. Jack war bereits in seinem dritten Jahr und hatte angeboten, uns herumzuführen. Zugegeben, es beruhigte mich zu wissen, dass ich das College nicht ganz auf mich allein gestellt beginnen musste. Und mit meinem neuen Job begannen die Dinge langsam, ihren Lauf zu nehmen.
Ich war so gut gelaunt, dass ich sogar meine Mutter anrief, um sie wissen zu lassen, wie großartig die Dinge gerade liefen. Das Gespräch dauerte nicht lange, da sie zu ihrem Spinning-Kurs musste, aber sie war begeistert zu hören, dass mir der Umzug so guttat. Wir machten aus, das nächste Mal ein ausführlicheres Gespräch über Skype zu führen, damit auch Libby dabei sein konnte.
Bald war es Zeit für meine erste Schicht. Das war der Zeitpunkt, an dem meine Nerven mit mir durchgingen. Der Gedanke, dorthin zurückzukehren, machte meine Handflächen ganz schwitzig. Ich wusste nicht, warum. Nun gut, das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Ich würde mich definitiv wohler fühlen, wenn die Dravens nicht hier wären.
Was hatte es mit diesem Mann auf sich? Allein der Gedanke an ihn ließ Schmetterlinge in meinem Bauch herumschwirren. Und das Wort einschüchternd beschrieb ihn nicht mal annähernd. Natürlich blieb die Frage offen, was es mit meinen Träumen auf sich hatte. Ich meine, wie konnte ein Mann, den ich nie zuvor mit eigenen Augen gesehen hatte, letzten Endes so real sein? Die ganze Nacht hatten mich diese Fragen wachgehalten.
Und jetzt, wo ich meine erste Schicht antreten musste, war ich ein totales Nervenbündel. Jedes Mal, wenn ich an letzte Nacht dachte, versuchte ich, mir nichts einzureden. Aber dieser eine Blick schlich sich immer wieder in meinen Verstand zurück, wie ein kleiner Käfer, der an meinem Gehirn knabberte.
Als Libby durch die Eingangstür flog, saß ich bereits am Fuß der Treppe. Ich hatte schon meine Jacke an und meine Tasche bereit, was sie offensichtlich nicht erwartet hatte.
»Oookay …« Libby zog das Wort in einem skeptischen Ton lang, während sie ihre Jacke langsam aufhing.
»Könntest du vielleicht …?«
Libby unterbrach mich, indem sie ihre Jacke wieder an sich nahm. Sie wusste, was ich fragen wollte. »Fahren wir los.«
Sie drehte sich um und ging zur Tür hinaus. Erst als ich aufstand, erkannte ich, dass ich viel zu lange auf der Treppe gesessen hatte. Mein Hintern war taub. Ich packte meine Tasche und folgte Libby, die ins Auto sprang und den Motor startete.
»Okay, also wohin?«, fragte sie, als ich auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Aber bevor ich ihr antworten konnte, kam sie mit ihrer eigenen Schlussfolgerung.
»Du siehst toll aus. Du hast ein Date, nicht wahr? Mit diesem Typ, Jack, oder?«
»Nein, es ist kein Date. Warte … Woher weißt du von Jack?«, fragte ich, obwohl ich einen Verdacht hatte.
»Glaubst du wirklich, ich weiß nicht, wenn mein eigener Ehemann etwas vor mir verheimlicht? Außerdem macht er dann immer dieses Ding mit seinen Lippen. Sieht jedes Mal aus, als ob er an einer Zitrone lutscht. Oh, das, und er ist kitzelig. Also war es leicht, es aus ihm herauszubekommen.« Sie grinste mich an. Jetzt wusste ich, was es mit dem lauten Gelächter letzte Nacht auf sich hatte.
»Nun, offensichtlich hast du nicht alles aus ihm rausbekommen.«
»Was meinst du?« Sie warf mir einen Seitenblick zu.
»Mein Date ist kein Date. Ich beginne heute Abend mit meinem neuen Job. Und ich habe mich nicht in Schale geworfen. Ich dachte nur, ich mache mich ein bisschen hübsch, da es meine erste Schicht ist und so …«, plapperte ich dahin, in der Hoffnung, ihren Vortrag zu überspringen. Sie schloss kurz ihre Augen, als ob sie versuchte, die richtigen Worte zu finden, doch ich kam ihr zuvor.
»Ich weiß, du denkst, ich sollte dort nicht arbeiten. Aber glaub mir, alles ist gut. Tatsächlich freue ich mich darauf, wieder arbeiten zu können, und außerdem könnt ihr beide mich nicht ewig chauffieren. Ich brauche ein Auto und somit auch ein entsprechendes Startkapital.« Libby stieß einen großen Seufzer aus, und anstelle des Arguments, das ich erwartet hatte, schockierte sie mich mit den Worten:
»Okay, ist schon klar. Ich bin vielleicht nicht begeistert, aber ich verstehe, dass du deine Unabhängigkeit willst. Und nach all dem, was passiert ist, kann ich es dir nicht übelnehmen.« Ich spürte, wie sich meine Muskeln festzurrten, als sie die Vergangenheit ansprach, aber das Gefühl war so schnell weg, wie es gekommen war. Libby würde das Thema nicht ausgraben, was bedeutete, dass ich es auch nicht tat.
»Danke, Libs. Du weißt, ich liebe dich, ja?«
»Jaja. Ich liebe dich auch, deshalb musste Frank mir versprechen, dass seine Jungs auf dich aufpassen. Also, wenn du in irgendwelche Schwierigkeiten gerätst, dann werden Ärsche versohlt.«
»Schon gut. Du machst mir etwas Angst, Libs.« Ich lachte, aber trotzdem musste ich ihr nochmals hochheilig versprechen, Cameron und Jo Bescheid zu geben, falls es Probleme gab, bevor ich aus dem Auto stieg.
Es war eine klare Nacht, aber dennoch beißend kalt. Ich zog meinen hohen Jackenkragen näher an mein Gesicht, um meinen Hals warmzuhalten. Drinnen war es sicherlich kuschelig. Ich war etwa zwanzig Minuten zu früh, aber das war bestimmt kein Problem. Heute Abend würde man mich wahrscheinlich nur herumführen, aber darauf freute ich mich am meisten. Es war einfach eine so tolle Location. Ich konnte mir vorstellen, dass ein Lord oder eine Lady, die die Stadt besaßen, hier ihre Residenz gehabt hatten.
Aber dieser Gedanke ernüchterte mich schnell, als ich mir in Erinnerung rief, welcher ›Lord‹ hier tatsächlich lebte. Nun, zumindest zurzeit. Und wenn man den Gerüchten Glauben schenken konnte, gehörte diesem Lord auch der Großteil der Stadt. Ein Mann, für den ich zukünftig arbeiten würde. Dieser Gedanke brachte meinen Puls zum Rasen. Ich riss mich zusammen und brachte meine Füße dazu, sich vorwärts zu bewegen.
Die gleichen Türsteher wie beim letzten Mal begrüßten mich, als ich mich näherte, was meine Nerven etwas beruhigte. Der Club war zu dieser Tageszeit leer und wirkte dreimal so groß wie gestern. Man konnte jetzt viel mehr Details erkennen, die zuvor in der Menschenmasse untergegangen waren.
Der Barbereich bestand aus einer Glasfront, durchzogen von Metall. Dieses war geformt wie dornige Reben, die das Glas durchbohrten, und an jedem dieser Punkte waren sie blutrot gefärbt. Es sah aus wie ein Kunstwerk.
Der Rest der Bar folgte dem Stil, mit großen Glasregalen auf rebenähnlichen Metallstützen, die eine Vielzahl verschiedener Spirituosenflaschen präsentierten. Einige von ihnen waren mir bekannt, doch andere waren von Gott weiß wo importiert.
»Hey, du bist früh dran. Gut.« Jerry kam auf mich zu, sah aber dieses Mal nicht ganz so gestresst aus. Er war groß und sehr dünn und erinnerte mich ein wenig an Nosferatu mit seiner fahlen Haut, die sogar blasser war als meine. Eine ständige Angst schimmerte in seinen Augen, und er bewegte sich etwas rastlos. Ehrlich gesagt sah er nicht gerade wie ein Clubmanager aus, und ich konnte auch die Freundlichkeit von gestern Abend nicht in ihm erkennen.
»Ich hoffe, das geht in Ordnung«, flüsterte ich verlegen. Er nickte, als ob er abgelenkt wäre. Seine Augen verharrten auf etwas hinter mir, mit einem verängstigten Ausdruck. Ich war gerade dabei, mich umzudrehen, aber er blinzelte zweimal und wandte seine Aufmerksamkeit abrupt mir zu.
»Okay, dann lass uns anfangen.« Ich machte mich auf, ihm zu folgen, aber nicht bevor ich in die Richtung geguckt hatte, die er anfixiert hatte. Er hatte auf die VIP-Lounge gestarrt, aber was auch immer er im Blick gehabt hatte, war jetzt weg. Man konnte nur schwache Schatten erkennen, die sich nicht zu bewegen schienen.
»Es gibt eine Sache, vor der ich dich warnen muss. Wir haben nur eine Regel, aber es ist sehr wichtig, dass du sie dir zu Herzen nimmst.« Er sprach leise, aber dann blieb er stehen und schaute sich um, als wäre er im Begriff, mir ein tödliches Geheimnis zu verraten. Er beugte sich näher zu mir. Ich roch etwas Saures in seinem Atem, was mich leicht zum Würgen brachte.
»Niemand geht nach oben … JEMALS!«, zischte er und schrie den letzten Teil sogar fast. Ich konnte nicht umhin, einen erschrockenen Schritt nach hinten zu treten. Dieser Ort wirkte surreal, als ob dieser Kerl ein Schauspieler wäre und ich mich in irgendeiner ›Versteckte Kamera‹-Show befinden würde. Die, wo sie irgendwelche armen, ahnungslosen Narren austricksten und ihnen vormachten, dass alles real wäre, nur um einen Kick aus ihren verängstigten Reaktionen zu bekommen.
»Oookay«, sagte ich langsam.
»Ja … Ich meine, niemand, niemand geht dort ohne ausdrückliche Aufforderung hinauf. Sie haben dort oben ihr eigenes Personal, und die VIP-Lounge schließt nie, solange die Draven Familie und ihre Gäste hier sind. Ich meine oben, da oben!« Man brauchte schon fast einen Dechiffriercode, um zu entziffern, was dieser Mann von sich gab!
»Kein Problem, ich hab‘s geschnallt«, sagte ich mit etwas zu viel Enthusiasmus. Glücklicherweise schien das Sand in sein Getriebe zu streuen und beendete sein Geschwätz.
»Das ist Mike, und das dort drüben ist Hannah. Mike wird dir alles zeigen, aber keine Sorge. Wir werden dich heute Abend nur zum Gläser einsammeln einteilen, bis du … ähm … ein Gefühl für den Ort bekommst.« Es war seltsam, wie er diesen letzten Teil aussprach, als ob da etwas nicht stimmte. Er kratzte seinen Kopf recht energisch, was mich leicht unrund machte. Ich war mir ziemlich sicher, dass er gezuckt hatte, bevor er das tat. Dann plötzlich drehte er sich um und machte einen unheimlichen Abgang.
Er war, gelinde gesagt, äußerst skurril. Vielleicht konnte mir Frank etwas über ihn erzählen, wenn er mich abholte, was voraussetzte, dass ich mutig genug war, es überhaupt herausfinden zu wollen.
»Hi. Tut mir leid, wie war dein Name noch gleich?« Eine Stimme brachte mich zurück ins Jetzt.
»Keira, oder auch nur Kaz.«
»Mach dir keine Gedanken seinetwegen, er ist ein bisschen ein Spinner«, sagte Mike. »Du gewöhnst dich dran. Natürlich ist es schlimmer, jetzt wo die Dravens hier sind. Er wird nicht locker werden, bis sie wieder weg sind.« Er stand defensiv mit verschränkten Armen da, was mich schlussfolgern ließ, dass er schon ein paar Probleme mit dem Manager hatte, die er nur allzu gern mit jemandem teilen wollte. »Sein Bruder Jerry ist der Entspanntere.«
Ah! Das erklärte Einiges. Er war nicht mal der richtige Kerl.
»Zwillinge?« Obwohl es offensichtlich war, sprach ich es trotzdem an.
»Ja, das war Gary, aber sie ähneln sich überhaupt nicht. Gary ist ein wenig … Wie soll ich sagen? Speziell.« Oh, okay, das erklärte sein Verhalten. Und jetzt fühlte ich mich erst recht schlecht.
Mike wich mir die ganze Nacht nicht von der Seite. Wie sich herausstellte, war er ein lustiger Typ. Er erinnerte mich an Franks jüngeren Bruder Justin.
Justin war in meinem Alter. Wir hatten uns bei der Hochzeit meiner Schwester getroffen. Er kam sehr nach Frank, mit seiner lockeren und gutherzigen Art, aber sein Aussehen war das komplette Gegenteil. Sie waren beide recht hübsch, aber auf unterschiedliche Weise. Frank war mehr ein niedlicher Kuschelbär, groß und stämmig. Justin war eine Schönheit mit Babyface, und Junge, er wusste das ganz genau. Ich gebe zu, dass ich mich in ihn verknallt hatte, als ich ihn zum ersten Mal sah. Wenn er nicht seine Freundin zu Libbys sehr englischer Kirchenhochzeit mitgebracht hätte, hätte ich mir mehr erhofft.
Je mehr Zeit verging, desto hektischer wurde es an der Bar. Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass eine Band zu spielen begonnen hatte, bis es Zeit für mich war, leere Gläser einzusammeln. Mike verließ mich widerwillig, um an der Bar zu bedienen. Ich drängelte mich durch alle möglichen Leute, die aussahen, als ob sie versuchten, zu etwas Größerem zu gehören. War das nicht das, was wir alle irgendwie taten? Zu versuchen, zu etwas Besserem zu gehören als uns selbst? Zu versuchen, unsere Gedanken und unseren Geist zu erweitern, spannende, neue Möglichkeiten zu eröffnen? War das nicht das, worum es bei Eskapismus ging?
Manchmal war die Realität einfach nicht genug. In meinem eigenen Kopf hielt ich mich an Fantasien fest. Das war sicherer für mich, denn in meinen Fantasien waren die Dinge, die in meinem wirklichen Leben passiert waren, Träume. Nein, keine Träume, sondern Alpträume. Somit schien es, als ob diese Dinge nie geschehen wären, und nur so konnte ich sie bewältigen. Schmerz konnte betäubt werden, wenn man es schaffte, sich in einem perfekten Zustand der Unwissenheit zu verlieren. Schließlich hieß es ja ›Unwissenheit ist ein Segen‹. Es ließ die Wolke nicht vollständig verschwinden, aber es half mir, vom einen Tag zum nächsten zu kommen, ohne andere mit runterzuziehen. Das war mein Fluch, und meiner allein.
Als ich durch die Menge ging oder mich eher duckte, quetschte und mir meinen Weg durch all diese bekümmerten Seelen bahnte, fand ich es auch ein wenig beruhigend, dass ich, na ja, ›dazugehörte‹.
Die Nacht verging schnell, und ich hatte nicht mitbekommen, dass aus meiner zweistündigen Probezeit eine sechsstündige Schicht geworden war. Jetzt war ich dabei, den Müll rauszubringen. Es war völlig dunkel. Zum Glück hatte ich Frank angerufen und arrangiert, dass er mich später abholen sollte. Ich lächelte, als Libby im Hintergrund fragte: ›Geht es ihr gut? Soll ich sie jetzt gleich abholen?‹
Mike hatte mir gezeigt, wo die Mülleimer standen und mir den vierstelligen Code für die Sicherheitstüren gegeben. Er meinte, ich solle mir einfach nur das Quadrat 1452 merken. Seine Finger berührten die Tasten in dieser Reihenfolge, und ich sagte nickend »Verstanden«, um Blondinen ja keinen schlechten Namen zu machen. Aber jetzt stand ich hier, allein hinter verschlossenen Türen, weit weg von der wohligen Atmosphäre des Clubs und der Musik, die nach draußen hallte. Nein, jetzt schaute ich hinter mich auf den bedrohlichen Wald, der mir eindeutig zu nah war. Ich wünschte mir, ich hätte Mikes Angebot, die Mülleimer rauszubringen, nicht ausgeschlagen.
Jetzt war ich allein. Die Tatsache, dass diese Seite des Gebäudes komplett von einer unheimlichen schwarzen Waldmauer umgeben war, half meinem Rückgrat nicht, das sich langsam in Gelee verwandelte. Automatisch begann ich mich umzusehen, doch als ich die Seitenwand entlang blickte, fand ich nur eine schwarze Leere, die nicht zu enden schien. Wie riesig war dieser verfluchte Ort?
Ich schüttelte das Gefühl, beobachtet zu werden, ab, als ich wieder dieses Kribbeln an der Basis meines Schädels spürte. Ich begab mich in die Richtung, wo angeblich die Mülleimer versteckt waren. Toll … versteckt! Aber natürlich waren sie das, dachte ich und verdrehte meine Augen.
Ich kämpfte mich mit meiner schweren Last die Stufen runter und rutschte fast aus. Die Temperatur war signifikant gesunken, was den Boden mit einem Film aus Eis bedeckt hatte. Meine Hand fand das Metallgeländer, um schnell Halt zu finden, und ich stieß ein nervöses Kichern aus. Ich hob die Säcke auf, die ich fallen lassen hatte, und tappte langsam um die Ecke. Meine Schuhe knirschten auf dem eisigen Kies und ließen mein Herz schneller schlagen. Es war so dumm, Angst zu haben.
»Reiß dich zusammen, Keira. Das ist wirklich keine Hexerei«, murrte ich, um mich selbst zu beruhigen.
Ich konnte schon die ›Container‹ sehen, wie Mike sie genannt hatte. Ich fragte mich, ob ich nicht zurückgehen und um Hilfe bitten sollte. Sie waren so groß, dass ich die Klappe wahrscheinlich gar nicht hochheben konnte. Ich hielt inne und drehte mich zur Tür. Um die Ecke der imposanten Steinmauer leuchtete ein schwacher Schimmer des Sicherheitslichts. Es warf Schatten über den Boden, die alle möglichen wilden Bilder in meinem Kopf hervorriefen. Das Licht fing den eisigen Kies, sodass er wie Glas aussah und in alle Richtungen funkelte.
Ich versuchte, mich auf die Aufgabe zu konzentrieren. Je schneller ich das hinter mich brachte, desto eher konnte ich wieder hinein, wo es sicher und warm war. Ich hob die Klappe. Sie öffnete sich, nur um wieder nach unten zu krachen und meine Finger um Haaresbreite zu verfehlen.
Okay, dann wohl auf die harte Tour. Also, was hast du drauf, du verdammte, nervtötende Kunststoffklappe? Ich beugte meine Knie, in einem Versuch, mich nach oben zu katapultieren, was mir hoffentlich genug Schwung gab, den Müll zu entsorgen, bis die Klappe wieder nach unten fiel. Okay, auf geht‘s. Ich atmete tief ein, sprang in die Höhe und drückte die Klappe so hart, wie ich es aus eigener Muskelkraft konnte. Aber es war nicht genug.
Meine Hände ergriffen die Innenseite, wo die Klappe eigentlich einhaken sollte. Sie sauste aber jetzt wieder wütend nach unten. Mir blieb nicht genügend Zeit zu reagieren. Ich konnte lediglich auf den Schmerz warten.
Aber der Schmerz kam nicht. Stattdessen kam der Wind. Eine Böe, die stark genug war, die Klappe mit einem donnernden Krach nach oben zu drücken. Der Kunststoff schwang hin und her, bis er unter der Belastung riss. Erschrocken sprang ich rückwärts und landete auf meinem Rücken. Das würde einen Bluterguss hinterlassen, aber hey, besser, als sich acht Finger zu brechen. Ich stand auf, wischte meine Jeans ab und rieb meinen schmerzenden Hintern. Dann hob ich die dummen schwarzen Säcke auf und warf sie in die dunkle Grube.
»Was war das!?« Meine Stimme zitterte als Reaktion auf den Lärm, der gerade durch die dunkle Stille gehallt war. Okay, Zeit sich aus dem Staub zu machen. Aber hey, warum war es so dunkel? Scheiße! Ich hatte es vorher nicht bemerkt, aber wo war das Licht hin? Es gab keinen glitzernden Boden oder formlose Schatten mehr. Oh Gott, das Sicherheitslicht war erloschen!
Dann vernahm ich ein Geräusch. Raschelnde Bäume und ein schnappender Zweig ließen mich vor Angst erstarren. Es musste ein Tier sein. Aber was, wenn nicht? Gut, atme. Atme einfach.
Ich starrte in die umliegenden Bäume, aber es gab nichts zu sehen. Nur große, schwarze, verflochtene Formen, die mir näherkamen. Wie ein Holzkäfig, dem ich nicht entkommen konnte. Meine Brust verengte sich. Es wurde schwieriger zu atmen. Ich versuchte mir einzureden, nicht in Panik zu geraten und mich zurück zur Tür zu begeben, aber meine Füße waren wie verwurzelt. Angst hielt mich gefangen. Ich spürte, wie meine Narben fast einen Weg durch das Material brannten, das sie verbarg. Mein Blut erstarrte, meine Augen füllten sich mit Tränen.
Erinnerungen schmetterten in mich zurück, hart wie ein blutiger Vorschlaghammer auf meiner Brust. Verdrängte Erinnerungen, die mich überfielen und mein Gehirn überfluteten. Es war eine Nacht wie diese gewesen, kalt und betörend schön. Nur damals war ich ohne Furcht. Ich hatte ihre Schönheit gesehen und nicht die lebendigen Alpträume, die sie bringen konnte. Das Böse lauernd in seinem makellosen Umfeld.
Ich hatte gewartet, nichtsahnend der Gefahr, die diese Nacht für mich bereithielt. Und nachdem ich etwas Süßes erwartet hatte, war das Einzige, das auf mich wartete, brutal böse und sauer gewesen. Dann hatte ich ein Geräusch gehört, das ich niemals vergessen würde. Eines, von dem ich um alles in der Welt hoffte, es irgendwann vergessen zu können. War es eine Warnung gewesen? Es war das letzte Geräusch, das ich gehört hatte, bevor mich die Hölle tatsächlich fand. Bevor ich mich verändert hatte.
Bevor er mich verändert hatte.
Eine einzige Träne entkam meinem Auge und lief meine Wange hinunter zu meinen zitternden Lippen. Aber etwas geschah, bevor sie dort ankam – sie stoppte. Nein, sie stoppte nicht nur … Sie gefror. Ich konnte mich jetzt bewegen. Mein Fokus wurde aus seinem geistigen Käfig gezogen, und ich hob meine Hand zur Wange. Dort knibbelten meine Finger die gefrorene Träne ab.
Meine Augen begannen sich auf einen vertrauten Anblick zu konzentrieren. Denn da vor mir entfaltete sich ein Bild, das näherkam und so anmutig durch die Bäume segelte, als stände kein Wald in seinem Weg. Er glitt durch die schwarze Abendluft und kippte seine Flügel, als versuchte er, die kühle Brise aufzufangen.
Der Vogel aus meinem Traum war zurück.
Aber noch wichtiger …
Wo war sein Gebieter?