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Freunde und Betrunkene
D er Rest der Woche verging wie im Flug und ohne weitere Zwischenfälle. Drei weitere Nächte hatte ich im Club gearbeitet, und langsam bekam ich den Dreh raus. Ich hatte bereits die Phase erreicht, in der ich hinter der Bar bedienen durfte.
Mike wurde in dieser Woche mein kleiner Beschützer. Half mir aus der Patsche, wenn mir ein Fehler mit dem komplizierten Kreditkartenleser unterlief, hielt mir den Rücken frei, wenn Kunden unhöflich waren und trug den Müll nach draußen. Dafür war ich ihm am allermeisten dankbar.
Ich versuchte, mehr über die Dravens herauszufinden, da ich meine Neugier eines Nachts nicht mehr zurückhalten konnte, aber alle blieben immer fürchterlich vage. Niemand gab irgendwelche nützlichen Informationen über sie preis. Ich bekam immer dieselbe Geschichte zu hören, als wäre sie einstudiert.
Es gab zwei Brüder und eine Schwester. Das Familienoberhaupt war der ältere Bruder, Dominic Draven. Keine Ahnung, ob ich den anderen Bruder schon mal gesehen hatte. Als sie das erste Mal hier ankamen, waren mir nur Männer begegnet, also wusste ich, dass ich zumindest die Schwester noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Dominic hatte ich zwei Mal in Fleisch und Blut gesehen und den Rest in meinen Träumen, aber das reichte aus, um eine krankhafte Besessenheit zu entwickeln.
Meine Gedanken schienen sich permanent um ihn zu drehen. Ich verstand nicht ganz, wieso. Als hätte er eine Macht über mich, die mich einfach nicht loslassen wollte. Natürlich gab es offensichtliche Gründe. Einer davon war, dass er das bemerkenswerteste menschliche Wesen war, das mir je untergekommen war. Er war atemberaubend. Wie ein überirdisches, gottähnliches Geschöpf. Aber auf der dunkleren Seite sah er unfassbar stark aus, fast unbesiegbar, als wäre er in einem früheren Leben ein Spartaner oder Trojaner gewesen … Sogar in Armani gekleidet.
Meine Augen flitzten öfter zum ersten Stock hoch, als ich zählen konnte, aber dann löste ich schnell meinen Blick, bevor er dort oben ankam. Meine Wangen wurden rot allein bei dem Gedanken, was damals passiert war, als ich auf Frank gewartet hatte. Die Art und Weise, wie er mich in jener Nacht angesehen hatte, mit diesen verzehrenden Augen, die mich durchbohrten, brennend mit feuriger Leidenschaft, inbrünstig und beinahe unerträglich.
Täglich musste ich mich davon überzeugen, dass da nichts zwischen uns war, um nicht durchzudrehen. Meine Tagträume waren allgegenwärtig, und das Ganze wurde langsam lächerlich. Bei der Arbeit zu sein, war das Schlimmste und auch das Beste, denn da fühlte ich es am stärksten. Wie eine magnetische Anziehung, die mich zu ihm zog. Aber es war meine Scham, die mich davon abhielt, aufzublicken.
Anscheinend war ich wohl die Einzige, die diese Zurückhaltung beherrschte, da alle anderen im Club permanent in seine Richtung starrten. Natürlich konnte man ihn nicht wirklich dort oben sehen, nur Schatten von Menschen. Aber niemand ging jemals die Treppe hinauf oder hinunter. Und in Anbetracht der Tatsache, dass dort oben immer Leute präsent waren, fragte ich mich, wo sie alle hinwollten. Oder blieben sie dort? Wie in einem luxuriösen Fünf-Sterne-Hotel? Nun, wenn das der Fall war, wo zum Teufel konnte ich einchecken?
In der Tat hatte ich nur ein einziges Mal jemanden diese Stufen hinaufgehen sehen, und zwar Draven vor einer Woche. Es war alles sehr seltsam, da auch niemand etwas über sie zu wissen schien, obwohl sie die Hälfte der Stadt besaßen und seit Jahren hierherkamen. Als ob ganz Evergreen Teil einer skurrilen Verschwörung wäre, mit den Dravens an ihrer Spitze. Und selbstverständlich war ich die kleine Außenseiterin in dieser X-Files-Episode.
Zurück in der Realität packte ich ein paar Klamotten, bevor ich noch zu spät zum ›Neulingstag‹ an meinem neuen College kam. Ich schob das ganze Grau und Schwarz, das ich in meiner Hand hielt, über meinen Kopf, ohne zu wissen, was ich mir da genau überzog. Es hatte Ärmel, und das war alles, was zählte.
Dazu kamen noch verblasste Jeans, die schon bessere Tage erlebt hatten. Sie waren etwas zu lang, und hin und wieder musste ich unten ein Stückchen abreißen, wenn sie sich um meine Sportschuhe verfingen.
»Bist du fertig? Ich glaube, RJ ist schon hier!«, schrie Libby vom Fuß der Treppe. Ich hatte sie in der Küche zu einer gottlosen Stunde aufgefunden, als sie versuchte, mir ein englisches Frühstück zuzubereiten. Natürlich sah es aus, als wäre es mit Plutonium gekocht worden. Ich hatte so viel gegessen, wie ich konnte, während sich meine Zähne durch Lavagestein malmten und vor Schmerz schrien. Schade, dass wir keinen Hund hatten. Andererseits, nicht einmal ein Hund hätte das verdauen können, und dann wäre mir ein Anruf beim Tierschutzverein wohl nicht erspart geblieben.
»Ja, gib mir noch eine Minute.« Ich packte meine Tasche, legte den Riemen um meinen Kopf und zog meine Jacke darüber. Heute kam ich ohne Handschuhe aus, da meine Ärmel Daumenlöcher hatten. Ich rannte die Treppe hinunter und rutschte auf der Stufe aus, was dazu führte, dass ich auf meinem bereits mit blauen Flecken übersäten Arsch landete.
»Autsch!«
»Bist du okay?«, rief Libby nach oben, und ich murrte meine Antwort.
»Ja.« Ich wagte die Vermutung aufzustellen, dass heute einer dieser Tage sein würde.
Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich von Libby loskam, die wieder ihr Mutter-Ding abzog.
»Ich habe das schon mal gemacht, Libs. Es wird alles wie am Schnürchen laufen. Ich ziehe nicht in den Krieg.« Mit einem Salut machte mich auf zur Tür.
Die arme RJ hatte so lange gewartet, dass sie schon den Motor abgestellt hatte.
»Tut mir leid, meine Schwester kann manchmal ein wenig neurotisch sein.« Ich schenkte ihr ein zaghaftes Lächeln, aber sie schien nicht sauer zu sein, sondern fröhlich wie immer. So überaus fröhlich sogar, dass sie nicht stillsitzen konnte.
»Komm, erzähl mir alles. Lass nichts aus, auch wenn es noch so unbedeutend ist.« Sie klatschte in die Hände und startete den Motor. Sie hatte ein komisches kleines Auto, das irgendwie wütend klang, als sie losfuhr. Es sah aus wie ein alter VW, aber das Abzeichen vorne war abgefallen, also konnte ich es wirklich nicht sagen.
Das Gespräch über den Nachtclub führten wir bis zum College, und sie hatte tatsächlich keine Witze gemacht, was die kleinen Details anging. Als wir also dort ankamen, war RJ in alles eingeweiht … Nun, alles, außer einer winzigen Kleinigkeit. Ich verlor kein Wort über Draven auf dem Parkplatz. Nein, das behielt ich für mich. Irgendwie war es mir heilig.
»Wir werden nie wieder einen Parkplatz so nah am Campus bekommen. Jack sagte, er würde uns hier treffen.« Sie zwinkerte mir zu, was ich gekonnt ignorierte. ›Hier‹ war ein Parkplatz umgeben von Bäumen, die sich in verschiedene Rot- und Orangetöne verwandelt hatten. Er war etwas weiter vom Hauptcampus entfernt, was für mich in Ordnung war, da es endlich aufgehört hatte zu regnen.
Tatsächlich war die Sonne hinter den Wolken hervorgekommen und verwandelte den einst trostlosen Tag in eine Utopie sonnenbrechender Farbe. Zum ersten Mal seit Langem verspürte ich den Drang, wieder einen Pinsel in die Hand zu nehmen.
Wir schnappten unsere Taschen vom Rücksitz. Ich schlug die Tür zu hart zu, sodass kleine Rostflecken von der Tür rieselten. Hoppla!
»Sorry«, sagte ich mit einem verlegenen Grinsen.
»Oh, ist in Ordnung. Ich bekomme ein neues, wenn ich das College abschließe, aber um ehrlich zu sein glaube ich nicht, dass es bis dahin durchhalten wird. Also schlag zu, so viel du willst!« Wir begannen beide zu lachen und bemerkten nicht, dass Jack hinter uns aufgetaucht war.
»Was ist so lustig? Was habe ich verpasst?« Er kam instinktiv auf mich zu, nahm die Tasche von meiner Schulter und schenkte mir ein Augenzwinkern. RJ entging das nicht. Sie steckte ihren Finger in den Mund und gab ein würgendes Geräusch von sich.
»Und was ist mit meiner Tasche?«, raunzte RJ, als sie Jacks Ohr schnippte. Er wich dem Schlag auf seinen Arm, der folgte, aus.
»Du kommst schon zurecht mit deiner Tasche. Du hast einen starken, stabilen Rücken, wie ein Kamel.« Er klopfte ihr auf den Rücken, was sich mehr wie ein Klatscher anhörte. Sie waren ein typisches Geschwisterpaar. Voller Geplänkel und Herumalberei. Aber tief im Herzen konnte man sehen, dass sie sich liebten.
Wir gingen alle zum Campus, der mehr einer Stadt ähnelte. Riesige rote Backsteingebäude, die alle in einem kleinen Waldgelände lagen, passten zur Farbe der Bäume, die sie umgaben.
RJ und Jack waren offensichtlich an den Ort gewöhnt. Sie schienen nicht halb so beeindruckt wie ich. Ich sprach kein Wort auf dem Weg zum Hauptgebäude. Völlig verdattert ließ ich die wunderschöne Umgebung auf mich einwirken und freute mich darauf, sie jeden Tag bewundern zu können. Es war wie aus einem Film. Viel zu nobel eigentlich für ein College. Gut, vielleicht Oxford oder Cambridge, aber hier? Kein Wunder, dass meine Eltern nicht das Geld hinblättern wollten, das sie hierfür zusammengekratzt hatten. Wahrscheinlich ein kleines Vermögen!
Ich wollte meinen eigenen Beitrag dazu leisten, nachdem ich im Sommer ein wenig angespart hatte. Außerdem hatte ich noch mein Erbe. Als mein Großvater verstarb, hatte er uns allen eine beträchtliche Summe Geld vermacht. Ich war damals erst zwei Jahre alt, und das Geld ruhte nach wie vor auf einem Sparkonto. Ich hatte es noch nicht angefasst, obwohl ich seit meinem achtzehnten Geburtstag Zugriff darauf hatte.
Der Vater meines Vaters war an einer Reihe von Firmen in Liverpool beteiligt gewesen. Er hatte nur einen Sohn, meinen Vater, den er selbst aufzog, nachdem seine Frau bei der Geburt verstorben war. Sein Vater liebte ihn und erzählte ihm jeden Tag, wie sehr er ihn an seine Mutter erinnerte. Sie standen sich sehr nahe, aber die harten Zeiten hatten meinen Großvater dazu gezwungen, sich auf die Arbeit und sein kleines Businessimperium zu konzentrieren. Dafür holte er seine Schwester Olivia ins Boot, nach der meine Schwester benannt worden war.
Sie war eine kinderlose Witwe und infolgedessen eine sehr einsame und deprimierte Frau. Nach einer Reihe gescheiterter Selbstmordversuche fand sie schließlich ihr Glück als Ersatzmutter für meinen Vater. Sie war vernarrt in ihn und verbrachte den Rest ihrer Tage damit, für ihn zu sorgen. Sie waren unzertrennlich, wie zwei Erbsen in einer Hülse, wie mein Vater immer sagte. Als sie verstarb, war es für ihn so, als hätte er wieder eine Mutter verloren, nur dieses Mal eine, die er kannte.
Mein Großvater hatte seine Firmen für ein kleines Vermögen verkauft, in dem Wissen, dass mein Vater kein Interesse an ihnen hatte. Er ging in den Ruhestand und zog ins Ausland, wo er den Rest seiner Tage unter strahlendem Sonnenschein verbrachte. Mein Vater hatte keine Ahnung, wie viel Geld er im Laufe der Jahre verdient hatte, bis der Nachlass verlesen wurde. Natürlich ging alles an meinen Vater, da es keine anderen Familienmitglieder mehr gab. Meine Mutter erzählte mir, er hätte fast einen Herzinfarkt erlitten, als man ihm die Summe nannte.
Er teilte es durch drei und legte die Anteile von Libby und mir auf einem Sparkonto an. Meine Eltern kauften sich mit ihrem Anteil ein größeres Haus, in dem sie bis heute leben. Und das Haus in Spanien, das ebenfalls meinem Großvater gehörte, wurde zu ihrem kleinen Feriendomizil.
Libby hatte bereits einen Teil ihres Geldes verwendet, um auszuwandern und etwas in den Umbau des Hauses zu investieren, das Frank geerbt hatte. Unsere Eltern hatten ihre Hochzeit bezahlt, da sie kaum erwarten konnten, sie ›an den Mann zu bringen‹, wie mein Vater zu scherzen pflegte. Er hatte auch Frank gesagt, dass eine Rückerstattung ausgeschlossen sei, mit anderen Worten: ›Viel Glück und behalte sie!‹ Wir hatten alle bei der Hochzeit über diesen Teil der Rede meines Vaters gelacht.
»Erde an Kaz, hört mich jemand?« Was? Oh, RJ glotzte mich mit einem verwirrten Blick in ihren Augen an. Ich hatte mich wieder in meinen Tagträumen verloren.
»Sorry, ich war in meiner eigenen kleinen Welt. Dieser Ort ist unglaublich.« Sie zuckte mit den Schultern, als wäre sie daran gewöhnt, im Taj Mahal zu frühstücken.
Wir folgten den Stufen hinauf zum Hauptgebäude, das von Studenten nur so wimmelte. Überall standen Tische, verziert mit Bannern, die für verschiedene Clubs und Studentenverbindungen warben. Menschen in denselben T-Shirts und Pullovern schwirrten herum wie Klone. So viele Leute schrien durcheinander, dass alle Stimmen miteinander zu verschmelzen schienen. Die regulären ›Werde bei uns Mitglied‹-Gruppen hoben sich jedoch deutlich vom Rest ab.
Es überraschte mich nicht, dass uns niemand aufhielt. Ein Blick auf RJ mit ihrer üblichen Goth-Kleidung reichte aus, damit alle schnell auf Abstand gingen. Ich grinste. Wir passten gut zusammen. Sie zog sich so an, um wahrgenommen zu werden und sich abzuheben. Ich tat das genaue Gegenteil, scheute mich vor jeder Form von Aufmerksamkeit. Ironischerweise punkteten wir beide damit. Ich stahl ihr keine Aufmerksamkeit, und sie wirkte furchteinflößend genug, um jegliche Aufmerksamkeit von mir abzuwehren. Zugegeben zog ich daraus einen größeren Vorteil als sie, also konnte ich mich nicht beklagen.
Jack hingegen ragte aus der Menge heraus, und das nicht grundlos. Mit jedem Schritt, den seine langen Beine taten, wurde er bewundert oder beneidet. Mädchen zwinkerten und kicherten, während die Jungs respektvoll nickten. Einige von ihnen benutzten sogar verschlüsselte Handgesten, die mir alle fremd waren.
Er war sehr beliebt, aber auch schon seit Längerem hier. Es schien ihm nichts auszumachen, uns herumzuführen, trotz der komischen Blicke, die RJ auf sich zog. Ich nehme an, er war es gewöhnt, da RJ ein Hardcore-Goth war, aber das hinderte ihn nicht daran, uns seinen Freunden vorzustellen. Als er mich einer Gruppe von ihnen vorstellte, legte er sogar seinen Arm spielerisch um meine Schultern. Das führte dazu, dass ich viele böse Blicke von Mädchen auf mich zog, aber schelmische Grinser von den Jungs.
Ich konnte das nicht ganz verstehen. Es schien, als wäre er stolz, aber ich konnte mir nicht erklären, warum. Ich musste fürchterlich langweilig im Vergleich zu dem lebenden Reklame-Model wirken, das neben mir stand. Meine Wangen flammten jedes Mal auf, wenn er mich vorstellte, während RJ nur gleichgültig nickte. Sie spielte die Rolle der Eiskönigin sehr gut. Ich hingegen war nicht so vertraut mit der kühlen, ruhigen und gesammelten Fassung.
Der Rest des Tages war vollgepackt mit Vorträgen über Gruppen, denen wir eventuell beitreten wollten, und Touren über den Campus, dazu auch Fächer, die wir uns aussuchen konnten, Wohltätigkeitsveranstaltungen und weiß Gott was. Am Ende des Tages war ich geistig erledigt.
Jack entschied, dass wir uns einen Drink nach diesem hektischen Tag verdient hatten, also gingen wir alle in eine Bar nahe dem Campus. Wir trafen dort Drew und Lanie, und es wurde schnell klar, dass sich etwas zwischen den beiden entwickelte.
Wir traten die kurze Strecke zur Bar zu Fuß an. ›Willy‘s Einäugiger Joe‹ war kein Club Afterlife, so viel war klar. Mit anderen Worten, eine richtige Kneipe. Wir schlenderten durch die heruntergekommenen Türen. Im Inneren war es ähnlich wie draußen – verwahrlost. Der Laden war definitiv renovierungsbedürftig. Verdammt, man sollte ihn eher abreißen!
Die Wände sahen aus, als ob sie schmelzen würden. Eine Mischung aus Farbe und Tapete, die verzweifelt versuchte, den Boden zu erreichen. Es roch stark nach Desinfektionsmittel, und ich wagte einen Blick nach unten, um zu erkennen, dass auch die Fliesen schon bessere Tage erlebt hatten. Mit abgebrochenen Stücken und ein paar neuen dazwischen, die nicht zum Original passten, hatte man den Eindruck, dass hier eigentlich nichts zusammengehörte. Die Stühle und Tische waren so schmuddelig, dass ich mir die Frage stellte, ob sie überhaupt jemals neu gewesen waren.
Wir nahmen an der großen Sitzbank in der Ecke Platz. Sie knarrte vor Schmerz, als wir uns alle hinsetzten. Ich bemerkte, dass ich die Einzige war, die sich etwas fehl am Platz fühlte. Die anderen wirkten entspannt und waren offensichtlich an den schäbigen Zustand des Ladens gewöhnt.
»Joe … Hey, Joe!«, rief Jack zur Bar, die auch nicht mehr so neu wirkte. Ein großer, dicker Mann mit einem heiteren Gesicht drehte sich überrascht um. Nur zwei andere Gäste saßen an der Bar. Stammgäste womöglich.
»Oh, hey Leute.« Der Typ sah eher aus wie ein Weihnachtsmann-Double als der fröhliche Besitzer dieses Ladens. Er schlurfte zu uns rüber und traf Jack auf halbem Wege.
»Hey, Joe. Ah, wie läuft das Geschäft?« Ich verhustete mich beinahe. War das ein Witz? Jolly Joe lächelte nur und antwortete mit einem Händeschütteln.
»Nicht schlecht, könnte aber besser gehen. Die Biker-Rallye fährt nächste Woche hier durch, was immer gut fürs Geschäft ist.« Jack nickte und sah aus, als ob er nicht ganz wüsste, was er dem hinzufügen sollte.
»Hey, Joe, wie wär‘s mit einer Runde hier? Ich spucke gleich Federn!« Ich musste es RJ lassen, sie hatte eine gute Wortwahl. Joe winkte ihr zu und ging zurück hinter die Bar. Währenddessen nahm Jack seinen Platz neben mir ein und machte es sich gemütlich. Wir fingen an, über das College zu plaudern, als ich nicht umhinkonnte, einen Typ zu bemerken, der uns von der Bar aus anstarrte. Eigentlich gaffte er nicht uns an, sondern nur Jack. Ich runzelte die Stirn. Sehr merkwürdig. Jack folgte meinem Blick. Der Kerl sah ihn düster an, aber Jack zuckte nur mit den Schultern und drehte ihm den Rücken zu.
»Habe ich dir nicht gesagt, dass dieser Ort alles zu bieten hat? Sogar verrückte Betrunkene.« Er zwinkerte mir zu, legte seinen Arm um meine Schultern und drückte sie kurz. Ich lachte nervös. Der verachtende Blick von dem Typ war mir nicht ganz geheuer. Er sah aus, als wollte er Jacks Arm ausreißen und ihn damit krankenhausreif prügeln.
»Ja, ich weiß. Aber ernsthaft, der Typ sieht dich an, als ob du sein Auto zerkratzt hättest oder so.« Jack lächelte zu mir herab und hob seine Hand, um eine verlorene Haarsträhne hinter mein Ohr zu streichen. Ich versuchte, nicht zurückzuweichen, um ihn nicht zu beleidigen.
»Zerbrich dir nicht deinen kleinen hübschen Kopf darüber. Dieser Typ kennt mich nicht.«
»KELLNER! Noch etwas zum Trinken!«, schrie der Betrunkene und erschreckte alle, als er eine Faust auf den Tresen schlug.
»Ahh!« Jack schoss in die Höhe. Sein Glas kippte um, und der Inhalt ergoss sich über seine Hose.
»Toll gemacht, Bro, ganz toll. Jetzt siehst du aus, als hättest du dir in die Hosen gemacht!« RJ kicherte. Jack warf ihr einen gespielt wütenden Blick zu, bevor er ihr den Mittelfinger zeigte.
»Du kannst mich mal!«, blaffte er über seine Schulter, als er zur Toilette ging. Ich hatte Mitleid mit ihm. Ich hatte nicht einmal mitbekommen, dass er sich bewegt hatte, also keine Ahnung, wie das überhaupt passiert war. Aber meine Aufmerksamkeit war wohl, wie bei uns allen, auf das aggressive Verhalten des Betrunkenen gerichtet gewesen.
»Okay, Billy, bleib locker, Herrgott … Was ist heute mit dir los, Mann?«, brummte Joe, der dem Typ Bier nachschenkte, während dieser nur den Kopf schüttelte, als würde er gerade aus einem Traum erwachen.
»Was?! Was hab ich getan?«, fragte er, als wären die letzten zehn Minuten an ihm vorüber gegangen. Wenn man ihn nun so ansah, wirkte er ganz anders. Eher einfach nur bekloppt als aggressiv.
RJ rutschte von ihrer Seite der Sitzbank zu mir rüber und nahm Jacks Platz ein.
»Jack steht voll auf dich, Kazzy Liebling.« Sie stupste mich an. Ich biss auf meine Lippe. Dieses Gespräch wollte ich gerade wirklich nicht führen. Es war seltsam. Als müsste ich aus einem bestimmten Grund vorsichtig sein. Ich spähte zur Bar. Billy schüttelte noch immer seinen Kopf, als ob er keine Ahnung hätte, was passiert war. Aber es war nicht mehr Billy, auf den ich mich fokussierte. Jetzt war es der andere Kerl, der auf mich und RJ fixiert zu sein schien, als könnte er hören, worüber wir sprachen. Er traf direkt meinen Blick, bevor ein eigenartiger, violetter Schimmer in seinen Augen aufblitzte. Wohl nur eine Lichtreflexion.
»Also?«, fragte RJ und unterbrach damit die Verbindung.
»Also?«
»Ja, ich meine, alsooo … Bist du interessiert?« Das war eine schwierige Frage, aber als das Handy, das ich von Libby ausgeliehen hatte, begann, Abba zu singen, schickte ich ein Dankesgebet nach oben. Ich nahm den Anruf entgegen. Es war Jerry, der wissen wollte, ob ich Zeit hätte, heute Abend eine Schicht einzulegen.
»Ja, kein Problem. Ich muss nur schnell klären, ob mich meine Schwester fahren kann oder …«
»Nein, nein, das ist kein Problem«, meinte Jerry. »Ich habe schon eine Fahrgelegenheit für dich arrangiert. Das Auto ist bereits auf dem Weg und wird gleich vor Ort sein.«
Damit legte er auf, sodass mir keine Zeit mehr blieb, Fragen zu stellen. Meine Augenbrauen zogen sich zusammen.
Woher hatte er gewusst, dass ich ja sagen würde?
Aber die größte Frage von allen …
Woher hatte er gewusst, wo ich überhaupt war?