12
Die Schönheit beschützen
E inführung in Historisches Denken war mein nächster Kurs. Ich nahm meine Karte aus meiner Tasche und fand eine ruhige Ecke, um sie zu studieren. Alle meine Kurse waren mit Gebäudenamen und Raumnummern versehen, um mir die Orientierung zu vereinfachen. Aber einfacher war es nicht. Das Gelände war so groß wie eine Stadt. Ich würde eine halbe Stunde brauchen, um von einem Kurs zum nächsten zu gelangen. Zum Glück blieben mir ein paar Freistunden dazwischen, sodass ich es rechtzeitig schaffen konnte, aber von ›frei‹ war keine Rede.
Das College hatte sehr hektisch begonnen, aber um ehrlich zu sein, genoss ich jede Minute davon. Geschichte, Spanisch und Englische Literatur wirbelten tagelang in meinem Kopf, sodass kein Platz mehr für andere Dinge blieb. Die einzige Zeit, die nicht komplett mir gehörte, waren meine Träume.
Sie hielten immer noch dieses eine Gesicht, wie für alle Zeit in mein Gedächtnis eingebrannt. Als ob mich etwas kontrollierte, das mir Bilder und Fantasien einpflanzte – so real, dass ich mich nach dem Aufwachen jedes Mal fragte, ob mein mysteriöser Mann Wirklichkeit war. Zugegeben, ich ging ab und zu früher ins Bett, in der Hoffnung von ihm zu träumen. Und wenn ich es tat, wachte ich in einem glückseligen Zustand der Euphorie auf.
Obwohl das die Arbeit nicht gerade vereinfachte, da ich jedes Mal die Treppe beäugte und jedes Gramm Selbstkontrolle aufbringen musste, um nicht nach oben zu laufen und mich zum Affen zu machen. Ich hatte ihn seit meiner ersten Schicht nicht mehr gesehen, aber in meinen Träumen war er noch nicht verblasst. Wenn überhaupt, wurde sein Bild klarer mit jeder meiner Nächte, die er dominierte.
Die Träume variierten leicht, aber das Grundkonzept blieb gleich. Er kam immer zu mir in mein Schlafzimmer. Ich wachte auf (in meinem Traum), um zu erkennen, dass er mich von etwas weiter weg beobachtete. Ich war nie verängstigt, aber immer vorsichtig. Schließlich war er ein fremder Mann, von dem ich kaum etwas wusste und der entweder an meinem Fenster saß oder bei meinem Schreibtisch stand.
Er war immer so perfekt. Wie eine lebendige Statue, die man am Trevi-Brunnen in Rom finden würde. Ich erwiderte seinen Blick und versuchte, Details zu erkennen, aber das Mondlicht war nie hell genug, um mir die Genugtuung zu verschaffen. Dann versuchte ich mich aufzusetzen, um einen besseren Blick zu erhaschen, was ihn jedes Mal aus der Reserve lockte. Einen Augenblick später erschien er direkt neben meinem Bett, was mich hinterfragen ließ, wie er sich so schnell bewegen konnte.
Ich erstarrte, gefangen in seinem durchdringenden Blick. Sein Lächeln brachte mein Herz und meine Lunge völlig außer Kontrolle. Ich hielt meinen Atem an und wartete auf den nächsten Teil. Seine Hand hob sich, um mit dem Rücken seiner Finger über meine Wange zu streichen. Er berührte mich immer auf so eine zärtliche Art, als hielte er etwas Zerbrechliches in seinen Händen.
Aber ich verstand nicht, wie er das anstellte, denn wenn ich mich endlich auf seine Hände konzentrieren konnte, sahen sie zu stark aus, um zu solch liebevollen Berührungen fähig zu sein. Er verfolgte die Kontur meiner erröteten Wange bis zu meinem Kinn, was eine warme Spur auf meiner Haut hinterließ, und hob es leicht an. Er zog meinen Kopf näher zu sich, sodass ich seinen Atem fühlen konnte. Er war kühl wie die frische Luft, wenn es schneite, und roch nach etwas, was ich noch nie zuvor erlebt hatte. Es war hypnotisch. Jeder Atemzug löste in meinem Kopf ein Schwindelgefühl aus.
Sein Gesicht war immer so nahe, aber dennoch konnte ich mich nicht bewegen – nicht, dass ich es gewollt hätte. Er folgte meinen Lippen mit seinen Fingern, und ich fühlte jede Berührung mit winzig kleinen, elektrischen Impulsen, als würde mein Mund unter einem emotionalen Angriff stehen, ebenso wie mein Verstand. Ich hoffte nur, er bemerkte nicht, wie sie bei seinem Anblick erzitterten. Dieses selbstbewusste Lächeln schon wieder. Er wusste, was er mir antat, und er genoss es.
Ich versuchte zu sprechen, aber seine samtige Stimme griff ein und sagte: »Sssch, sag nichts.« Was meinem Verstand nur noch mehr betäubendes Gift injizierte, meine Gehirnfunktionen infiltrierte, sodass mir nichts anderes übrigblieb, als zu gehorchen.
Ich wusste, der Traum würde bald enden, hielt aber dennoch an der Hoffnung fest, dass dies die Nacht war, in der er mich nicht so schnell verlassen würde. Manchmal blieb er bei mir, wenn auch nur ein paar Sekunden länger, aber es endete immer auf die gleiche Weise. Normalerweise passierte das, wenn ich anfing, mich zu fokussieren. Wenn ich meine Gedanken verzweifelt darauf lenkte, zu erfassen, was diese wahnhafte Fantasie antrieb und was passieren würde, wenn sie ihren Höhepunkt erreichte.
Und auf diesen Höhepunkt zu warten, würde sich sicher lohnen, auch wenn es das Ende bedeutete. Ein Blick in die Spiegelung seiner dunklen Tiefen bewies, dass wir beide wussten, was geschehen würde. Meine Augen flehten ihn an, zu bleiben und mich den Traum weiterspinnen zu lassen, bis wir auf der nächsten Ebene der Intimität angelangt waren. Aber sein Blick spiegelte meinen nicht wider. Es war, als hielte ihn etwas zurück, während ich versuchte, auszubrechen.
Seine Hand fand ihren Weg zu meinem Nacken und sandte Wellen der Begierde meine Wirbelsäule entlang. Mein Körper wölbte sich als Reaktion leicht nach oben. Seine große, starke Hand hielt meinen Hinterkopf und schlängelte ihre Finger durch meine Haare. Ich war froh, dass ich nicht sprechen konnte, denn jede Faser in meinem Körper wollte ein Stöhnen ausstoßen. Sein Gesicht neigte sich zu meinem, während seine Lippen sanft meine berührten, aber er küsste mich nicht. Er stellte nur den leichtesten Kontakt her und hielt inne. Dann flüsterte er:
»Schlaf, mein Electus. Schlaf für mich.«
Und wieder einmal schenkte ich ihm Gehorsam.
Das bedeutete das Ende. Ich wachte am Morgen auf und fand mich wieder allein in meinem Zimmer. Doch die Zufriedenheit und die Behaglichkeit blieben, als hätte ich Pillen geschluckt, die mich mit Glückshormonen vollpumpten, und meistens hielt das Gefühl den ganzen Tag an.
»Hey, fang!« Pinkfarbenes Haar blitzte in meinem peripheren Blickfeld auf, zusammen mit etwas, das in Richtung meines Kopfes schleuderte. Ich drehte mich gerade noch rechtzeitig um, um die Limonade zu fangen.
»Wow, gute Reflexe. Also, hast du eine Freistunde?«, fragte mich RJ.
»Ja, aber die werde ich wahrscheinlich damit verbringen, mein nächstes Klassenzimmer zu suchen.« Sie lächelte.
»Was, kein Auto mit Chauffeur, das Sie zum Kurs kutschiert, my Lady?«, scherzte RJ, aber meine Wangen erhitzten sich trotzdem. Diese Nacht war gelinde gesagt seltsam gewesen. Ich hatte noch nie einen Job mit Chauffeur-Service gehabt, schon gar nicht mit einem Fahrzeug, das mehr wert war als so manches Haus.
»Äh, nein«, antwortete ich RJ lächelnd.
»Komm schon, wie kam es dazu? Ich meine, das ist nicht gerade Standard.« Ich konnte ihr nur zustimmen.
»Ich habe Jerry gefragt, aber er kam mir mit seinem Management-Geschwafel, von wegen jeder Kellnerin würde ihr eigener Transport zur Verfügung gestellt werden, damit sie sicher nach Hause kommt.« RJ pfiff, bevor sie meinte:
»Wow, machen die mit beim Wettbewerb für den Arbeitsplatz des Jahres, oder was? Ich meine, wie viele Mädchen arbeiten dort überhaupt?« Meine Augenbrauen wölbten sich, als ich darüber nachdachte, dann antwortete ich ihr:
»Tja, keine Ahnung, wer alles in der VIP-Lounge arbeitet. Ist ja nicht so, als würde ich viele Mitarbeiter von dort oben antreffen.« RJ gab mir einen seltsamen Blick, aber ich fuhr fort:
»Unten gibt es nur Hannah und mich. Oh, und ein anderes Mädchen, das ich noch nicht getroffen habe, die die leeren Gläser einsammelt, wenn der Club richtig voll ist.«
»Also, die sind sicher zufrieden mit dieser neuen Regelung.«
Ich dachte eine Sekunde darüber nach.
»Nein, nicht wirklich. Sie haben beide Autos.«
RJ grinste und stupste spielerisch meinen Arm.
»Also nur du, Miss Sonderbehandlung.« Das ließ mich noch mehr erröten. Zum Glück beendete sie das Gespräch und half mir, mein Klassenzimmer zu finden.
»Du hast Glück, dass ich mich hier auskenne. Also, wohin?«
»Wakewood Hall. Ich würde meine Seele verkaufen, um einen Hinweis zu bekommen, wo sie sich befindet.« Sie brach in lautes Lachen aus.
»Oh, komm schon, Kazzy! Willst du nicht lieber deine Seele für den richtigen Käufer aufheben? Ich weiß, wer meiner wäre … Mmm, oh ja.« Okay, sie hatte mich erwischt und ich war mir ziemlich sicher, dass wir an dieselbe Person dachten. Wenn sie nur wüsste, wie tief meine kleinen Fantasien über Dominic Draven wirklich gingen.
»Komm schon, ich werde dich dorthin bringen, und auf dem Weg erzähle ich dir den erstaunlichsten Klatsch, den ich je gehört habe. Besser als damals, als Miss Waterman so high war, dass sie beinahe ihren Mann wegen eines Ding Dongs erstochen hat.«
Wir marschierten zu dem Gebäude, in dem ich mich einfinden musste, und ich war mir sicher, dass RJ die ganze Zeit über keinen einzigen Atemzug tat. Das Mädchen war eine Maschine! Sie erzählte mir, wie der arme Mr Waterman wegen einer halben Flasche Wein und ein paar falsch verschriebenen Medikamente beinahe sein Leben verloren hatte. Seit diesem Tag gab es immer ausreichend Ding Dongs im Haushalt der Watermans. Oh, und nur zur Klarstellung, bei einem Ding Dong handelte es sich um Schokoladenkuchen, nicht um eine Türklingel, wie ich zuerst gedacht hatte!
»Okay, nun zu den spannenden Themen. Hast du gehört, wer sich hier einschreiben wird?« Sie war ganz rot im Gesicht und hüpfte, als ob sie ihre Aufregung nicht mehr eindämmen könnte. Aber das hielt sie nicht davon ab, die Geschichte in die Länge zu ziehen.
»Einschreiben? Ich dachte, es wäre schon zu spät dafür.« Sie grinste und genoss es, dass ich in den Klatsch nicht eingeweiht war.
»Nun, ich glaube nicht, dass sie das davon abhalten würde, wenn man bedenkt, dass ihre Familie eine beträchtliche Summe Geld in diese Institution investiert.« Sie zeigte auf das alte, imposante Gebäude vor uns – ein riesiges Ziegelgebäude, das eine Schule für sich hätte sein können.
»Willkommen bei der neuesten Ausgabe, Wakewood Hall.« Ich konnte nicht anders als zu lächeln, wissend, dass in diesem wunderschönen Gebäude die meisten meiner Geschichtskurse stattfanden.
»Das war das letzte Geschenk. Vergangenes Jahr war es ein neuer Sporthallenkomplex.« Sie winkte, als ob das vor uns nur eine Gartenbank wäre, die gespendet wurde. Deshalb stand ein so großartiges College an diesem abgelegenen Ort. Man brauchte nur einen wohltätigen Multimillionär, und ich musste nicht lange raten, um wen es hier ging.
»Das nenn ich mal ein Geschenk!«, antwortete ich schockiert, aber sie war noch nicht mit dem Klatsch des Jahres fertig. Also drängte ich weiter:
»Wo waren wir noch gleich …?«
»Oh ja, und das ist der Grund, warum sie sich jederzeit hier einschreiben kann. Ich bezweifle, dass sie überhaupt einen einzigen Kurs bestehen muss! Sie würden es nicht wagen, sie durchfallen zu lassen, so viel ist sicher.« Okay, jetzt war ich völlig verloren. Würde sie mir jemals verraten, wer dieses verdammte Mädchen war?
»Und sie ist …?«
Sie rollte mit ihren Augen, im vollen Genuss meiner Blondinenhaftigkeit.
»Ach, ist es nicht offensichtlich? Dominic Dravens Schwester!« Okay, jetzt wo sie es sagte, lag es irgendwie auf der Hand. Aber wenn Dravens Schwester hier studierte, bedeutete das, dass sie blieben? RJ überforderte mich mit ihrer üblichen Informationsflut über den Namen des Mädchens, College-Kurse und volle Stundenpläne, aber ich bekam davon kaum etwas mit.
Ich sah nur sein perfektes Gesicht im blassen Mondlicht, eine Essenz, die mehr Mythos als Mensch war. Es schien so normal, dass er eine Schwester hatte, die hier studieren würde. Meine Fantasie war eindeutig mit mir durchgegangen, und ich musste sie schleunigst wieder unter Kontrolle bringen. Das Ganze geriet langsam aus den Fugen! Was hatte ich erwartet? Schließlich war er nur ein normaler, reicher Kerl, der zufällig der gutaussehendste Mann war, der mir je untergekommen war. Ich musste mich am Riemen reißen!
Aber tief in mir wusste ich, was ich fühlte, und vielleicht steckte ein Funke Wahrheit dahinter. Etwas war anders an ihm, etwas … Unnatürliches.
»Du hast so ein Glück. Aber hey, du kommst wohl zu spät.« Anstatt sie zu fragen, wieso ich Glück hatte, da ich die halbe Unterhaltung verpasst hatte, verabschiedete ich mich und machte mich auf den Weg zu meinem nächsten Kurs.
Ich kam dort nur wenige Minuten vor Start an, aber der Saal war fast voll. Ein paar Plätze waren noch frei, wie ein alter Pullover mit Löchern übersät. Ich fand einen in der Mitte einer Gruppe von leeren Plätzen.
Der Saal füllte sich, bis nur noch ein Platz neben mir frei war. Offensichtlich fehlte auch noch der Tutor. Brummendes Geflüster schwirrte durch den Raum sowie nervöses Fußgezappel von dem Mädchen hinter mir. An jedem anderen Tag wären mit mir die Pferde durchgegangen, aber heute war mein Kopf überfüllt mit Gedanken an Draven.
Dann stürmte ein Mann herein und steuerte schnurstracks auf den vorderen Schreibtisch zu. Stille folgte. Er schleuderte seine Tasche auf den Tisch, gefolgt vom Gehämmer seiner Bücher. Er sah alles andere als fröhlich aus. Man konnte sofort die Anspannung fühlen, als alle sich zur gleichen Zeit aufzurichten schienen, was eine Geräuschwelle von knarrenden Stühlen verursachte.
Er räusperte sich, bevor er seine Lektion begann.
»Das ist kein Kurs, in dem Ihnen gute Noten hinterhergeschmissen werden. Wenn Sie also nicht bereit sind, hart zu arbeiten, dann schlage ich vor, Sie nehmen sich der kreativen Künste an, die gern schnelle Einsen verteilt, und verschwenden nicht meine Zeit.« Er hielt inne und schaute sich um. Ein Typ stand auf, hielt aber seinen Kopf gesenkt, um seine Scham zu verbergen.
»Ah, wir haben einen Interessenten. Versuchen Sie es mit dem Tischler-Kurs. Wie ich hörte, ist der ein Kinderspiel.« Die Klasse gab eine Reihe von unruhigen Lauten von sich. Der Junge verließ den Raum. Mit ihm verflog auch die Anspannung des Tutors. Das Ganze schien ihm zu gefallen, als wäre er froh, dass die Einführungsstunde endlich vorüber war und er ungehindert fortfahren konnte.
»Ich bin Mr Reed, Leiter der Geschichtskunde. Ich werde viele Ihrer Kurse übernehmen, und glauben Sie mir, wenn ich Ihnen sage, ich akzeptiere keine Ausreden, denn die Gründe interessieren mich nicht. Solange Sie also nicht unter quälenden Schmerzen auf Ihrem Sterbebett liegen und jede existierende Körperflüssigkeit aus Ihnen austritt, toleriere ich keine Abwesenheit, genauso wenig wie Verspätungen.« Diese Rede war auf die Tür gerichtet, die sich langsam öffnete. Ein weibliches Gesicht kam zum Vorschein. Sie klopfte, und wir hielten alle unseren Atem an, als wir augenblicklich Mitleid mit ihr verspürten. Wir konnten die Demütigung fühlen, die gleich ausbrechen würde, als das ahnungslose Mädchen die Grube des Elends betrat.
Sie bewegte sich mit solcher Grazie, dass es sogar Reed in Staunen versetzte. Das Klassenzimmer keuchte. Sie war einfach umwerfend schön. Tatsächlich konnte man fast die Herzen der Jungen brechen und die mentalen, neidischen Schreie der Mädchen hören. Die Art, wie sie durch die Tür glitt, hätte jede Ballerina beschämt.
Reed erlangte seine Fassung wieder, bereit, dem Mädchen den Todesstoß zu versetzen und starrte sie an, doch im Gegenzug schenkte sie ihm ein süßes Lächeln.
»Ich akzeptiere niemanden, der zu spät in meinem Kurs erscheint. Aber da es sich um den ersten Tag handelt, werde ich eine Ausnahme machen. Sollte dies jedoch noch einmal vorkommen, werde ich Sie bei jeder fälligen Hausaufgabe durchfallen lassen, ist das klar?«
»Natürlich, ich bitte aufrichtig um Entschuldigung«, ertönte ihre Stimme, die mich an eine andere erinnerte. Sie war klein und elfenartig, mit schönen schwarzen, seidigen Haaren, die in Locken ihre Schultern herabhingen und mit jeder Bewegung auf und ab hüpften. Ihre glatte Haut trug einen rosigen Farbton auf den Wangen. Sie sah aus wie eine Porzellanpuppe, als wäre ihr Gesicht irgendwie gemalt worden. Eine uralte Schönheit, wie man sie an der Decke der Sixtinischen Kapelle oder den Werken von Bouguereau finden würde.
Sie sah sich nach einem Platz um, und Jungs standen auf, um ihren Sitz dieser schönen Kreatur anzubieten. Ich hob meine Hand, und der Tutor nickte in meine Richtung. Enttäuschtes Stöhnen huschte durch den Saal. Sie schwebte die Stufen hinauf, und die Leute erhoben sich aus ihren Sitzen, um sie in der Mitte durch zu lassen. Ich nahm die Tasche, die ich auf den Sitz neben mir gelegt hatte, und entfernte mein Buch von dem ab jetzt besetzten Tisch.
»Mein Name ist Sophia und …«
»Entschuldigung, Fräulein ›Ich will die Klasse stören‹. Das reicht für heute«, fauchte Reed.
Keine Ahnung, was über mich kam, aber ich verspürte den Drang, mich für dieses arme, unschuldige Mädchen einzusetzen. Schließlich war ich der Grund für ihre Bestrafung, also tat ich das Undenkbare. Ich brach meine einzige Regel und zog alle Aufmerksamkeit auf mich.
Langsam stand ich auf. Die Studenten glotzten mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Ein paar von ihnen hielten sogar den Atem an.
»Äh …« Ich musste mich räuspern, um die Worte aus meinem Mund zu bekommen. »Es war nicht ihre Schuld. Ich habe ihr eine Frage gestellt und sie hat mir geantwortet«, fand ich den Mut zu äußern, wenn auch nicht so kraftvoll wie erhofft.
»Dann erzählen Sie mir bitte, was das für eine äußerst essenzielle Frage war? Denn jetzt, da Sie die Aufmerksamkeit der Klasse haben, möchten wir nur zu gerne wissen, was wichtiger als mein Vortrag sein könnte?« Seine Worte brannten sich in mich. Jeder Kopf im Saal hatte sich gedreht, um mich anzusehen. Meine persönliche Hölle. Ich konnte spüren, wie meine Handflächen zu schwitzen anfingen und rieb sie aneinander.
»Ich habe sie nur gefragt, ob sie ein Buch hat oder ob sie meines mit mir teilen möchte«, sagte ich in dem Versuch, selbstbewusst zu klingen.
»Was für eine gute Samariterin Sie sind. Und Ihr Name lautet?« Oh Scheiße, wie lange wollte er mich noch hinhalten? Genau so würde es von nun an laufen. Ich würde das Ziel jeder Frage sein, die Pointe jeden Scherzes und das Bullseye jeden sarkastischen Kommentars.
»Keira Johnson«, murmelte ich, als ich mich wieder hinsetzte und versuchte, das Ende meiner Demütigung einzuleiten.
»Nun, Miss Johnson, ich nehme an, ich darf fortfahren und hoffe, Sie werden in meinem Kurs dasselbe Engagement zeigen wie bei Ihrer unvorbereiteten Kollegin.«
Meine Antwort war ein Nicken, während ich versuchte, die Blicke zu ignorieren, die ich von jedem Auge im Saal erhielt.
»Jetzt, da das kleine Drama ein Ende hat, öffnen Sie Ihre Bücher auf Seite 68. Zumindest diejenigen, die so klug waren, eins mitzunehmen.« Sein Ton war einschneidend, und ich wusste, meine Chancen standen schlecht, dass dieser Sturm vorübergehen und das Ganze irgendwann in Vergessenheit geraten würde.
»In dieser Lektion werden Sie erkennen, dass das Lesen und Analysieren von Texten für das Verständnis und das Wissen über Geschichte essenziell sind. In diesem Kurs werden Sie die Bedeutung von Fakten verstehen lernen. Sie werden das intensive Studieren von Büchern und Dokumenten aus unterschiedlichen historischen Bereichen und Epochen leben und atmen.« Er fuhr so für den Rest der Stunde fort. Es war klar, dass er sich selbst gern reden hörte. Nun, zumindest tat es einer in diesem Saal.
Während der ganzen Stunde wechselten das Mädchen und ich kein Wort. Sie lächelte mich jedoch immer wieder an, als wäre ich eine Art Retter. Sie schrieb die Worte ›Vielen Dank‹ in ihr Notizbuch, in der erstaunlichsten kunstvollen Handschrift, die ich je gesehen hatte. Sie schob es zu mir, sodass ich es lesen konnte, ohne ihre Augen von dem Himmler-Double vorne abzuwenden. Es waren die fliehende Stirn und die rastlosen Augen, die hinter einer kleinen runden Brille hervorspähten, die ihm das Aussehen eines Gestapo-Führers verliehen. Hitler wäre stolz gewesen zu sehen, wie die Reinkarnation seines Leutnants die Geschichte diktierte.
Ich kritzelte in meiner nicht so eleganten Handschrift ›kein Problem‹ . Im Vergleich zu ihrer fließenden Kalligraphie sah meine Handschrift wie das Gekrakel von einem Kleinkind aus. Der Vortrag ging weiter und machte Geschichte unerträglich langweilig. Wie konnte etwas, das ich so sehr liebte, so leicht von der Stimme dieses Mannes zerstört werden?
Die Einführung in die Geschichte war bei mir eher Verschwendung, da ich sie mein ganzes Leben lang studiert hatte. Als der langatmige Vortrag also andauerte, ließ ich meine Gedanken zu anderen Themen schweifen. Heute Abend würde ich wieder im Club arbeiten, und die Chance, Draven wiederzusehen, erzeugte ein Summen der Vorfreude in mir.
Der Kurs ging schließlich zu Ende und ich erkannte, dass das meiste davon zugunsten meiner Tagträume an mir vorübergegangen war. Ich sollte in Zukunft aufmerksamer sein, bevor ich noch einmal in die Schusslinie geriet. Ich war schon jetzt ein leichtes Ziel für Reed.
Ich stand auf und sammelte meine Bücher ein. Als ich sie in meine Tasche schob, bemerkte ich ein Paar puppenartiger Augen, die mich musterten. Ich erwiderte ihren Blick mit einem neugierigen meinerseits.
»Du hast schöne Haare. Wieso trägst du sie nicht offen?« Ihre Frage überrumpelte mich, und ich stotterte meine Antwort.
»Ähm, na ja … Es … Es ist im Weg. Aber danke.« Ich konnte nicht glauben, dass mir diese zauberhafte Kreatur ein Kompliment machte, wo doch ihre Haare so aussahen, als ob sie für ein Vogue-Shooting gestylt worden wären.
Wir gingen beide nach unten und folgten der Masse an Studenten, die versuchte zu fliehen, bevor noch ein weiteres Wort aus Reeds Mund floss, als mir etwas ins Auge fiel. Reed sprach mit einem Studenten und beide peilten uns an, aber es war Reeds Ausdruck, der mein Interesse weckte. Er sah schockiert aus. Als ob der Junge ihm etwas über uns erzählt hätte. Aber Moment, es waren nicht wir , es war sie. Er starrte Sophia an, aber jetzt wirkte er beunruhigt.
Sie schien den Horror in Reeds Augen nicht wahrzunehmen, oder wenn sie es tat, zerbrach sie sich nicht den Kopf über Konsequenzen. Ich erschauderte, bevor wir außer Sichtweite gerieten und realisierte, dass sie mich noch immer anlächelte. Ich hatte das Gefühl, sie studierte mich, anstatt nur freundlich zu sein. Steckte mehr hinter ihrem Lächeln, oder hatte ich etwas zwischen meinen Zähnen? Nichtsdestotrotz glitt ich mit meiner Zunge darüber, nur um sicher zu sein.
»Nochmals vielen Dank für die Rettung da drinnen. Er ist ein echtes Ekelpaket, oder?«, sagte sie, als sie mir folgte, und die Leute starrten uns auf eine merkwürdige Weise an.
»Ja, er ist ein wenig furchteinflößend, aber ich denke, wir haben das gut hinbekommen. Obwohl ich wette, dass wir nächstes Mal mit Fragen bombardiert werden.«
Sie lachte und streckte ihre Hand aus.
»Es war schön, dich kennenzulernen, Keira.«
Ich legte meine Hand in ihre. Die Wärme, die ihre weiche Haut ausstrahlte, war beruhigend. Sie schien meine Gedanken zu lesen, lächelte noch einmal, bevor sie ging, und warf über ihre Schulter: »Bis bald.«
Meine Hand kribbelte, kurz bevor sie ganz kalt wurde, zusammen mit dem Rest meines Körpers. Seltsam.
»Wer war das?«, fragte RJ, als wir beide die Rückseite meiner neuen Freundin anstarrten, bevor wir sie aus den Augen verloren.
»Niemand … Wie war der Unterricht?«
RJ erzählte mir von ihrem Tag. Ich lauschte gern, da ich ihr nicht wirklich von dem Desaster mit Diktator Reed erzählen wollte. Und ich wusste eigentlich nicht, wieso ich kein Wort über Sophia verlor. Irgendwie fühlte ich eine eigenartige Verbindung zu ihr. Ich konnte es nicht erklären, aber ich war mir sicher, dass sie auch etwas gefühlt hatte – auf eine komische Art, beinahe wie Verwandtschaft. Vielleicht hatte mich das dazu getrieben, sie vor Reed zu verteidigen. Ich wollte unsere Freundschaft auf eine egoistische Weise für mich behalten und sie vor RJs unaufhaltsamer Neugier schützen.
Wir waren fast zu Hause angekommen, als RJs detaillierter Tagesbericht sein Ende fand. Ich hatte nichts davon mitbekommen, aber zum Glück bemerkte sie es nicht.
»Also, was du heute Abend vor? Ein paar von uns treffen uns in Afterlife. Da spielt diese tolle Band und …«
Ich unterbrach sie mitten im Satz.
»Ich kann nicht, aber ich arbeite heute dort, also werden wir uns ohnehin sehen. Vielleicht komme ich früher weg und kann mich euch anschließen.«
»Oh mein Gott, du hast so ein Glück, dass du dort arbeitest. Ich könnte es mir nicht verkneifen, andauernd Blicke nach oben zu werfen.« Sie kicherte. Wenn es nur so einfach wäre, dachte ich bitter.
»Ja, hast du die Sicherheitsleute gesehen? Die Jungs verleihen Steroid-Missbrauch eine neue Bedeutung.« Den letzten Teil sagte ich, während ich aus dem Auto stieg, bevor ich noch hinzufügte:
»Bis später.«
»Ja, bis dann, du Glückskeks!« RJ lachte immer noch, als sie ihr kleines Auto wendete. Ich sah ihr nach, bis sie um die Ecke düste. Aber nach Lachen war mir nicht zumute. Nein, es gab nur eine Sache, die mich gerade beschäftigte, und die inkludierte eine Glücksfee, die mich in denselben Raum mit einem bestimmten Jemand bringen würde …
Dominic Draven.