S
obald die Worte ausgesprochen waren, schlief ich augenblicklich ein. Aber sie hallten immer wieder in meinem Kopf, sodass ich bald erneut aus dem Schlaf gerissen wurde. Es war noch dunkel vor meinem Fenster, das aber geschlossen war, als wäre es nie geöffnet worden. Mein Herz sank. Ich versuchte, den Alptraum zu analysieren, der in der zweitbesten Fantasie geendet hatte. Die erste war natürlich die mit dem Kuss.
Alles erschien so real, dass ich kaum glauben konnte, dass die Träume nur aus atemberaubenden Erinnerungen und süßen Illusionen konstruiert worden waren. Hauptsächlich Illusionen von dem, was ich selbst mit Mister Arrogant anstellen wollte. Der einzige Grund, weshalb ich noch fest daran glaubte, dass es sich nur um Träume handelte, war, dass alle anderen Optionen völlig ausgeschlossen waren. Dieser Mann verachtete mich. Für ihn war ich jemand, der nicht in seine Welt gehörte, und ganz bestimmt nicht in seinen Club. Also, was tat mein Verstand, um das zu kompensieren? Er beschwor einen süßen Kern, umhüllt von einer köstlichen, knackigen Hülle anstelle des bitteren Nachgeschmacks, den Draven in der Regel bei mir hinterließ.
Ich zerrte mich aus dem Bett und warf eine Strickjacke um meine Schultern, um etwas zu tun, was ich schon lange nicht mehr getan hatte: Ich ging zu meinem Schreibtisch und nahm die Utensilien, die ich benötigte, aus einer der Schubladen. Libby hatte jede Menge Zeichen- und Malzubehör in meinem Zimmer verstaut, in der Hoffnung, ich würde eines Tages meine Leidenschaft zur Kunst wieder aufleben lassen. Wie sich herausstellte, hatte sie recht behalten. Ich hielt den Bleistift in meiner Hand wie Harry Potter, dem endlich der richtige Zauberstab zugeflogen war.
Libby und ich hatten beide schon in jungen Jahren eine Leidenschaft für Kunst entwickelt. Bei Libby entwickelte sich daraus eine Vorliebe für Innenarchitektur. Mit sechzehn Jahren hatte sie die Lounge unserer Eltern dekoriert. Seither kannte sie ihre Berufung, und sie war eine Meisterin darin. Bei mir hingegen hatte die Kunst einen anderen Weg eingeschlagen.
Wisst ihr, ich habe ein Geheimnis. Das tiefste und dunkelste aller Geheimnisse. Ich war anders als die anderen. Mir war immer klar gewesen, dass es mich eines Tages einholen würde. Eine Welt voller Dämonen, die kein Versteck für mich bereithielt. Egal wie fest ich meine Augen schloss, sie waren da. Sie waren immer da. Lauernd in den Schatten von dem, was von meinem Verstand übriggeblieben war. Wartend auf den Tag, an dem ich zerbrechen und mich ihnen zum allerletzten Mal hingeben würde. Das Beängstigende war, dass es sich so anfühlte, als würde dieser Tag bald kommen. Es hatte begonnen, als ich jünger war, in einem Jahr, als wir alle nach Cornwall fuhren, um den Sommer mit den Eltern meiner Mutter zu verbringen.
Meine Großeltern lebten am Meer. Die Gegend war sehr attraktiv für Touristen. Im Sommer wimmelte es dort von Menschen, die es aus allen Teilen der Welt herzog. Es gab dort immer viel zu erleben. Jeder wartete gespannt auf den
berühmten Wanderzirkus und den Jahrmarkt, der die Stadt zum Leben erweckte.
Nur dieses Jahr änderte sich für mich alles schlagartig.
Meine Schwester und ich boxten uns kichernd durch die Massen, während wir alles mit großen Augen bewunderten. Feuerspeier, Akrobaten, Männer, die Schwerter verschlangen, Stelzenläufer und Clowns mit traurigen Gesichtern, die sich gegenseitig mit wassergefüllten Blumen bespritzten. Die aufgeregten Schreie der Fahrgeschäfte und die Aromen von Zuckerwatte und Hot Dogs schwebten in der Luft und verwandelten das Areal in ein Kindertraumland.
Es war mein erstes Mal auf dem Jahrmarkt. Ich war fast sieben, also durfte ich noch nicht überall mitfahren wie Libby, aber das war mir egal. Ich war so glücklich, hier zu sein, dass ich meine Aufregung kaum zügeln konnte. Libby und mein Vater kamen gerade von der Achterbahn ›Inferno Twister‹, als ich nach dem Süßigkeitenstand neben dem ›House of Fun‹ fragte. Meine Mutter köderte mich mit Zuckerwatte, die ich bekommen würde, wenn ich brav wartete, bis Libbys Fahrt zu Ende war. Angesichts meiner Liebe für jegliche Art von Süßigkeit war das keine schwere Aufgabe für mich.
»Libby, nimm deine Schwester und kauf ihr ein paar zähneverfaulende Süßigkeiten, bevor sie noch meine Hand abnagt.« Lachend nahm meine Schwester meine Hand, auf der Suche nach dem rot-weißen Stand.
»Was bedeutet abnagen?«, fragte ich unschuldig, als die Menge dichter wurde. Die Hand meiner Schwester drückte meine vergeblich, bevor sie den Halt verlor. Ich konnte nichts sehen, da sich alle Körper in andere Richtungen bewegten.
Hilflos wurde ich mit einer Familie, die kein Englisch sprach, weitergeschoben. Ich konnte meine Schwester kaum hören, die meinen Namen rief.
Nach einer halben Ewigkeit erreichte ich einen ruhigeren Teil des Messegeländes, ohne Fahrgeschäfte oder Stände. Ich war am Rande des Parks angelangt. Ich stand hilflos da, mein Gesicht nass von Tränen, als eine Frau mit einer freundlichen Stimme auf mich zukam. Sie war seltsam gekleidet, mit roten und violetten Schals, die sie wie einen Turban um ihren Kopf gewickelt hatte. Ich wusste aus Büchern in der Bibliothek meiner Großeltern, dass sie eine Zigeunerin war.
Sie trug eine weiße Bluse mit weiten Ärmeln und ein rotes Kleid, das unter der Büste mit Bändern verknotet war. Reifen und goldene Armbänder, von denen so etwas wie Münzen hingen, bedeckten ihre Arme.
Außerdem trug sie eine Vielzahl Kreole in ihren Ohren. Ihre Hände waren mit so vielen Ringen bestückt, dass man kaum die Haut an ihren Fingern sehen konnte. Einer davon war besonders außergewöhnlich. Geformt wie ein silberner Drachenkopf, der sein Maul so weit aufriss, dass es den Anschein hatte, er würde ihren ganzen Finger verschlingen. Messerscharfe Zähne verschränkten sich an den Spitzen.
»Hast du dich verlaufen, junge Dame?«
Ich fand es sehr nett, dass man mich junge Dame anstelle des üblichen ›Kleiner Zwerg‹ nannte, wie Libby es immer tat.
»Ja, ich kann meine Schwester nicht finden. Sie wollte mit mir Süßigkeiten holen.« Sie lächelte und zeigte mir eine Reihe gelber Zähne, wie bei einer alten Frau, die ein Leben lang geraucht hatte. Ihre gebräunte Haut war voller Falten, und ich bemerkte einen kleinen roten Stern neben dem rechten Auge, fast verdeckt von ihren Krähenfüßen.
Sie sah mich seltsam an und starrte tief in meine Augen. Selbst als Kind wusste ich, dass etwas mit dieser Frau nicht
stimmte, also rief ich mir die goldene Kindheitsregel hervor, machte einen Schritt zurück und sagte:
»Ich sollte gehen und meine Eltern finden. Und ich sollte nicht mit dir reden, du bist eine Fremde.« Ich drehte mich um, aber irgendwie stand sie mir wieder gegenüber.
»Wie hast du das gemacht?«
Ihre roten Lippen bogen sich auf einer Seite nach oben und enthüllten einen spitzen, gelben Eckzahn, bevor sie sich zu mir herabbeugte.
»Magie!«, sagte sie, und mit einer schnellen Handbewegung erschuf sie eine hübsche rosafarbene Blume, die sie mir reichte. Dann richtete sie sich mit einem weniger unheimlichen Lächeln auf.
»Mein Name ist Nesteemia, aber meine Freunde nennen mich Ness. Ich bin eine Handflächenleserin.«
»Was ist eine Handflächenleserin?« Ich befand mich gerade in meiner Fragephase und wollte absolut alles wissen, was es über irgendetwas zu wissen gab.
»Ich kann dir deine Zukunft vorhersagen, meine Liebe, indem ich deine Hand berühre.«
»Wie? Ich halte andauernd die Hand meiner Schwester und sehe nichts.«
Sie biss sich auf die Lippe und versuchte, ein Lächeln zu verbergen, das sich zweifellos bald in ein Lachen verwandeln würde.
»Man muss die Magie beherrschen, um sehen zu können.«
Ich nickte. Sie war wahrscheinlich eine Hexe. Bestimmt streckte ich meine Hand aus und sagte: »Zeig sie mir, bitte.«
Das erwies sich als der größte Fehler meines Lebens, denn als sie meine Hand nahm, sah ich etwas Fürchterliches … Und offenbar nicht nur ich, sondern auch die Zigeunerin.
Sie schloss ihre Augen, als sie ihre mit kaltem Metall bedeckten Finger über meine kleine Handfläche strich und
begann, Worte zu singen, die ich nicht verstand. Ich bekam Angst und versuchte, meine Hand zurückzuziehen, aber sie hielt sie nur fester. Sie öffnete ihre Lider, aber ihre Augen waren woanders. Sie rollten zurück in ihre Augenhöhlen, sodass nur das trübe Weiß zu sehen war. Sie schüttelte den Kopf, und ihre Augen, die nun wieder zurückrollten, waren plötzlich blutrot und zuckten hin und her, als ob sie versuchten, die Zeilen in einem Buch in einer Geschwindigkeit von eintausend Worten pro Sekunde zu lesen.
Ich schaute mich panisch um, auf der Suche nach jemandem, der mir zur Hilfe kommen könnte, aber ich hatte nicht bemerkt, dass sie mich weiter vom Messegelände weggezogen hatte. Wir waren jetzt völlig außer Sichtweite. Ich versuchte zu schreien, aber als ich meinen Mund öffnete, kam kein Ton heraus. Als hätte sie mir einen Bann auferlegt, der mich zum Schweigen brachte. Ich war hilflos und wünschte mir, ich hätte nie nach Süßigkeiten gefragt.
Ihre Atmung verlangsamte sich, und ihre Augenbewegungen wurden immer unkontrollierter. Sie sah mich an, aber jetzt war sie diejenige, die verängstigt wirkte. Ihr Körper vibrierte regelrecht, als ob das, was sie in meiner Zukunft gesehen hatte, so verstörend wäre, dass sie ihren Schreck nicht zurückhalten konnte. Ich wurde still, denn jetzt hatte mich eine neue Angst ergriffen.
Was hatte sie gesehen?
»Was ist los? Sag es mir. Was hast du gesehen?«, fragte ich panisch. Sie starrte mich nur an, sprach kein Wort, hielt meine Hand aber noch immer fest.
»SAG ES MIR!«, rief ich, was sie aus ihrem komatösen Zustand riss.
»Alles ist wahr, aber das kann nicht sein … Du kannst nicht real sein … Was für ein Schwindel ist das?« Ich verstand ihr
Geplapper nicht, also versuchte ich noch einmal, mich aus ihrem Griff zu befreien.
»Lass mich los!«, flehte ich, aber sie hörte mir gar nicht zu. Sie wiederholte immer nur dieselben Worte.
»Die Zeit ist gekommen, die Zeit ist gekommen.« Endlich konnte ich sehen, wie jemand auf uns zukam. Ich versuchte ein weiteres Mal, zu fliehen. Sie bekam Wind davon, bevor ich es schaffte, Aufmerksamkeit auf uns beide zu lenken, schlug ihre andere Hand über meinen Mund und zog mich hinter einen Schuppen.
»Ich werde dich vorbereiten für deinen Gebieter, junge Dame.« Konfus schüttelte ich meinen Kopf, den sie noch immer festhielt.
»Bleib still«, befahl sie, als sie meinen Arm ergriff und ihn mit meiner Handfläche nach oben ausstreckte. Ich verlor die Kraft, mich weiter zu wehren, und gab auf. Tränen strömten über mein Gesicht und auf ihre Hand. Sie hielt den Finger mit dem Drachenring über meine Handfläche.
Sie zischte etwas, das wie ein Befehl klang, aber in einer anderen Sprache.
»укусить!« (»Beiß zu!«, auf Russisch) Dann sahen meine Augen das Unmögliche. Der Drachenkopf bewegte sich. Er öffnete weit sein Maul, als würde er jede Sekunde zubeißen. Ich bildete die Worte ›Nicht!‹
und ›Nein!‹,
aber meine Stimme wurde von ihrer Hand gedämpft. Die Zähne des Drachens bohrten sich in meine Handfläche und hinterließen kleine Bissspuren. Ich schrie vor Schmerzen. Wann würde dieser Alptraum endlich aufhören? Würde ich jemals meine Familie wiedersehen? Sie flüsterte mir noch mehr Worte ins Ohr, die ich nicht verstand.
»Θα τελειώσουν σύντομα ένας γενναίος.« (»Es wird bald vorbei sein, sei mutig«, auf Griechisch)
Sie entfernte ihre Hand von meinen Lippen, aber die Schmerzen waren zu stark, als dass ich etwas anderes tun konnte außer zu weinen. Dann wiederholte sie die gleichen Worte mit Blick auf den Drachenring, legte ihn auf ihre Handfläche und ließ ihn noch mal zubeißen. Zumindest war es dieses Mal ihr Blut. Im Gegensatz zu mir lächelte sie, als ob sie den Schmerz begrüßte, bevor sie ihre blutende Hand auf meine presste.
»Es war mir eine Ehre, Electus. Bis zum nächsten Mal.«
Das waren die letzten Worte, die ich hörte, bis mich die Stimme meiner Mutter aufweckte. Als ich meine Augen öffnete, fand ich mich in dem Zimmer wieder, das meine Schwester und ich uns im Gästehaus meiner Großeltern teilten. Zuerst dachte ich, es wäre alles nur ein Traum gewesen, als ich auf meiner Hand keine Bissspuren erkennen konnte. Später fand ich heraus, dass mich meine Eltern gemeinsam mit dem Personal vor Ort zusammengerollt und schlafend in der Nähe des Schuppens gefunden hatten. Keine Anzeichen auf eine Zigeunerin. Auch hatte keine auf dem Jahrmarkt gearbeitet. Ich erzählte es meinen Eltern, aber da es keine Beweise gab, führten sie alles auf einen traumatischen Alptraum zurück. Auch ich war davon überzeugt.
Bis zu dem Tag, an dem ich sie wiedersah.
Es war mein siebter Geburtstag. Nachdem wir in einem amerikanischen Diner, das Burger und Pommes servierte, gegessen hatten, schlenderten wir am Ufer entlang und trafen auf einen Eisstand, der Eis nach dem traditionellen Cornwall-Rezept ›Cornish Clotted Cream‹ verkaufte. Der bunte Eiswagen zog mich an wie ein Leuchtfeuer.
Ich näherte mich dem offenen Fenster, als ich etwas bemerkte, das mir nicht fremd war. Der Mann, der mich bediente, zeigte dieselbe tödlich-rote Färbung in seinen Augen wie die Zigeunerin aus meinem Traum. Ich versuchte es zu ignorieren, aber das Rot wurde immer intensiver, bis es schien, als wären seine Augen komplett blutunterlaufen. Ich ruderte zurück, als mich die Stimme meines Vaters erschreckte.
»Hey, Kleine, welche Sorte willst du?« Ich antwortete nicht, als mein Vater an mir vorbeiging und drei Mal Eis für sich selbst, meine Schwester und meine Mutter bestellte.
»Liebes, was willst du? Komm schon, entscheide dich.« Mein Vater wurde ungeduldig. Hinter mir bildete sich bereits eine Schlange. Doch mir hatte es die Sprache verschlagen. Wieso konnte er nicht sehen, was ich sah? Er drehte sich mit einem Blick zu mir um, der so viel bedeutete wie: ›Wenn du dich nicht bald entscheidest, bekommst du keins‹, also brabbelte ich ein leises: »Schokolade.« Mein Vater händigte mir mein Eis aus und bummelte zurück zu den anderen. Ich war im Begriff, ihm zu folgen, als der Mann aus dem Van in einem starken englischen Akzent rief:
»Hey, Mann, du hast dein Wechselgeld vergessen! Oh Schätzchen, nimmst du das für mich?« Verdammt. Ich konnte schwer Nein sagen, es sei denn, mir fiel rasch eine Ausrede ein. Vielleicht bildete ich mir das alles nur ein. Das musste es sein. Niemand in der Schlange wirkte aufgebracht. Die Leute bahnten mir einen Weg nach vorn, als ich meine Hand nach oben streckte, um das Geld zu nehmen, aber der Mann packte sie.
Meine Augen trafen das Gesicht der Zigeunerin, das meine Träume seit Wochen verfolgte. Das Blut, das aus ihren Augen austrat, tropfte ihre Wangen herab. Dort floss es in dicken Tropfen zusammen, die auf die Eistüten in den Haltern fielen. Die Kunden nahmen sie dennoch und leckten sie gierig, als ob sie eine blutige, dämonische Erdbeersauce konsumierten. Und
niemand schien diese verrückte Frau zu bemerken, als sie mich näher ans Fenster zog. Sie gingen um mich herum, als wäre ich ein Verkehrsleitkegel auf der Straße.
»Jetzt wirst du … 7 … 7 … 7 sehen, und ich werde dich bei 7 … 7 … 7 wiedersehen.« Sie wiederholte die Zahl immer wieder, als sie meine Hand losließ. Ich fiel nach hinten. Ein älteres Paar half mir auf und sammelte das Wechselgeld ein, das die verrückte Zigeunerin auf den Boden geworfen hatte. Ich starrte zurück in das Gesicht des Eisverkäufers, der lächelte und sagte: »Geht es dir gut, Liebes?«
Ich konnte nicht verstehen, was geschehen war. Meine Eltern dachten, ich weinte, weil ich hingefallen war und mein Eis verloren hatte. Aber von diesem Tag an sah ich Dinge, die weitaus schlimmer waren als das, was Menschen als Alpträume bezeichneten. Denn meine begannen noch bevor ich in den Schlaf sank. Wenn ich in einem Bus oder im Auto saß, sah ich in der einen Minute eine normale Person, bevor sie sich ganz plötzlich in etwas absolut Abscheuliches verwandelte.
Manchmal sah ich Schuppen, wo sich Haut befinden sollte, oder Haare, die sich bewegten, als schwebten sie unter Wasser. Dann gab es die extrem Unheimlichen, mit schwarzen leeren Löchern anstatt Augen. Manchmal glühten diese Löcher rot, was die Risse in ihrer Haut zum Aufleuchten brachte. Es bewegte sich unter den Rissen, als ob Tausende von kleinen Kreaturen versuchten, sich einen Weg aus dem herauszukratzen, was einem trockenen Flussbett glich.
Bei anderen flackerten die Gesichter, während sie schrien. Als ob ihre dunkle Seite versuchte, durchzubrechen. Diese stießen einen kreischenden Ton aus – so hoch, dass ich meine Hände über meine Ohren schlagen musste, die danach immer schmerzten und ein unangenehmes Pfeifen in meinem zerbrechlichen Verstand zurückließen.
Seither lebte ich in Angst davor, wieder so einer Kreatur zu begegnen, wurde immer beklommener und verschlossener. Ich erzählte meinen Eltern von meinen Ängsten, aber sie schrieben es alles und jenem zu. Sie wiesen mich zurecht, schickten mich auf mein Zimmer, und dann flippte meine Mutter aus. Ich lief weinend zu Libby, flehte sie an, mir zu glauben, aber je mehr Zeit verstrich, desto weniger tat sie es. Ich hatte keine Antworten auf ihre Fragen, also warum sollte sie?
»Warum kann niemand sonst sie sehen?«, fragte sie oft, aber ich hing einfach in meinem Kopf fest, hilflos gefangen in einer geheimen Welt, die allen anderen verborgen blieb. Gelegentlich offenbarten sich mir Kreaturen, die gutmütig wirkten, aber selbst diese waren verstörend. Sie besaßen helle, leuchtende Augen, aber ihre Adern bewegten sich, als ob man das Blut durch ihre Körper fließen sehen könnte. Ein bläuliches Licht, das sich zu ihren Rücken hindurch zog bis hin zu etwas, das Flügeln ähnelte. Auch diese unterschieden sich in Form, Größe und Material.
Ich erinnerte mich, einmal eine Frau mit Flügeln gesehen zu haben, die aussahen, als beständen sie aus transparentem Plastik und mündeten in lange, dünne, zweigähnliche Finger, die sich an den Enden krümmten. Aber die Bilder flackerten so schnell hin und her, dass sie sich manchmal veränderten. Ich wusste nicht mehr, was der Realität entsprach.
Eines Tages in der Schule wurde es mir zu viel. Eine neue Lehrerin fragte mich, warum ich weinte und nicht nach draußen gehe, um mit den anderen zu spielen? Als ich ihr antwortete: »Weil es einen Jungen in meiner Klasse gibt, der ein Monster ist«, rief sie meine Eltern an, mit der Bitte, in die Schule zu kommen. Das Treffen fand mit verschiedenen Lehrern statt und dauerte den ganzen Tag. Niemand sprach mit mir. Mein Vater würdigte mich kaum eines Blickes. Meine Mutter legte nur ihre Hand auf meinen Rücken und sagte:
»Komm, wir gehen nach Hause.«
Im Auto sprach niemand ein Wort.
Später an diesem Abend hörte ich den Streit zwischen meiner Mutter und meinem Vater. Ich tappte auf Zehenspitzen zur Treppe, um ihnen zu lauschen. Meine Schwester saß schon da, ihr Gesicht voller Trauer. Auf ihren Wangen fand ich Anzeichen, dass sie weinte. Die Stimmen unten wurden lauter. Auch meine Mutter weinte.
»Aber sie ist nicht krank, und ich werde sie nicht dorthin schicken!«, rief meine Mutter schluchzend.
»Ich will das genauso wenig wie du, aber was sollen wir sonst tun?«
Tränen füllten meine Augen. Ich hatte all diese Probleme verursacht. Ich wünschte, ich könnte alles auslöschen. Ich wünschte, ich könnte wieder das glückliche Kind sein, das ich einst gewesen war, dann wäre nichts hiervon passiert. Meine Schwester wandte sich zu mir und wischte meine Tränen weg.
»Ich weiß nicht, warum dir das passiert, doch ich weiß, dass du es nicht vortäuschst. Aber Mom und Dad werden dich fortschicken, wenn du nichts dagegen tust.« Sie flehte mich mit ihren Augen an.
»Wohin wollen sie mich schicken?« Ich versuchte, mein Schluchzen zurückzuhalten, damit meine Eltern nicht hörten, dass wir alles mitbekamen.
»Die Schule denkt, man sollte dich in ein spezielles Krankenhaus schicken, damit dich Ärzte und Therapeuten überwachen können.« Sie senkte beschämt ihren Kopf.
»Sie denken, ich wäre verrückt, oder?« Sie nickte. Eine Träne rollte über ihre rosige Wange.
»Was soll ich tun? Ich will nicht dahin. Ich habe Angst, Libby.« Sie umarmte mich und hielt mich fest. Dann beugte sie sich zu mir und flüsterte mir ein Wort ins Ohr.
»Lüge.«
Mein Kopf schnellte nach oben. Sie meinte es ernst.
»Was?«
»Lüge. Sag ihnen, es war nur eine Lüge, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Sag ihnen, ein Mädchen in der Schule hätte dich dazu gezwungen. Sag ihnen, du hättest dir heimlich schlimme Filme angesehen, keine Ahnung. Sag ihnen irgendetwas, damit sie dich nicht wegschicken!« Sie war beinahe so verzweifelt wie ich.
Ich nickte und sagte: »Okay, das werde ich. Aber Libby, was mache ich, um die Monster fernzuhalten?«
Besorgt sah sich mich an und sagte traurig: »Ich weiß es nicht, aber kümmern wir uns zuerst um dieses Problem.«
Es fühlte sich beruhigend an, den Halbglauben meiner Schwester zu hören, also gab es mir das Vertrauen, das ich brauchte. Nachdem ich meinen Eltern eine von Libbys Ausreden aufgetischt hatte, fanden wir schnell wieder ins normale Leben zurück. Abgesehen davon, dass ich unerklärliche Dinge sah, holte ich mir das Leben eines normalen, jungen Mädchens wieder.
Nur jetzt musste ich vieles vortäuschen. Wieso ich zum Beispiel plötzlich aufsprang und fassungslos eine zufällige Person angaffte. Aber meine Eltern waren mehr als glücklich zu glauben, dass es mir gutging. Wenn sie nur einen Tag lang die gleichen Dinge gesehen hätten wie ich … Manchmal träumte ich davon, dass dies geschehen würde, hatte dann aber sofort wieder Gewissensbisse. Diesen Fluch wünschte ich niemandem. Selbst in jungen Jahren kannte ich die Konsequenzen, die ein so einschneidendes Ereignis auf den menschlichen Verstand hatte.
Aber sechs Monate später wendete sich das Blatt noch einmal, als Libby mit einer Idee in mein Zimmer stürmte. Sie hatte vor kurzem eine Dokumentation über einen Mann gesehen, der die Welt bereiste und von den verschiedenen Kulturen erzählte. Als er versucht hatte, ein Foto der Aborigines
zu schießen, hielten sie ihre Hände aus Protest hoch. Er erklärte dann, weshalb sie das taten.
Spirituelle Menschen behaupteten, dass das menschliche Abbild auf einer gespiegelten Oberfläche ein Blick in die Seele sei. Sie glaubten auch, dass es ihre Seelen öffnen und Dämonen Eintritt gewähren würde. Die Aborigines waren also der Überzeugung, dass Fotografieren einen Teil ihrer eigenen Seele raubte. Und sie damit wegsperrte.
Wegsperren
– das war der Schlüssel.
So entstand ihre Idee. Sie dachte, wenn man ein Foto von jemandem machte, um Dämonen hineinzulassen, würde umgekehrt das Fotografieren eines Dämons ihn einfangen. Aber ich konnte nicht durch die Gegend laufen, um von allen Personen Fotos zu schießen, also schlug sie eine andere Lösung vor. Sie meinte, ich solle versuchen, sie zu zeichnen, wenn mir einer begegnete. Vielleicht wirkte das wie eine Art Gefängnis, um sie aus meinem Geist auszuschließen. Ich wäre niemals auf diese Idee gekommen, also folgte ich ihrem Rat und begann, sie zu skizzieren.
Es stellte sich heraus, dass ich damit jedes Mal das Bild aus meinem Kopf löschte und sie nicht wieder auftauchten. Aber hier hörte es nicht auf. Denn nach Jahren dieser lebendigen Alpträume wurden sie immer weniger, bis mir eines Tages auffiel, dass ich seit Monaten keinen mehr gesehen hatte.
Sie verschwanden nie völlig. Jetzt kamen sie zu mir, wenn ich schlief, aber solange sie in meinen Träumen blieben, konnte ich damit umgehen. Dann zeichnete ich, was ich gesehen hatte, und bewahrte sie in einem versteckten Ordner auf, um sie für immer wegzusperren.
Wenn ich dieselbe Person ein nächstes Mal wiedersah, sah sie ganz normal aus und ich träumte nie wieder von ihr. Als ich mein Teenageralter erreichte, hörten auch die Träume auf und kamen nur ein paar Mal im Jahr zu mir zurück. Ich hatte alles
Libby zu verdanken. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, was sie für mich getan hatte. Sie hatte mich vor meinem Fluch gerettet.
Nun widmete ich mich wieder meiner eigenen ungewöhnlichen Therapie und zeichnete die schrecklichen Visionen, die sich mir letzte Nacht offenbart hatten. Mit dem Unterschied, dass ich diesmal einen Ritter, gekleidet in Hosen und T-Shirt, skizzierte. Aber Mann, was er doch für ein Ritter war! Das war es schon wert, so verängstigt im Nebel der Hölle gefangen zu sein, nur um den Himmel zu sehen, der darauf wartete, mich zu befreien. Schade nur, dass auch er nichts weiter als eine fragmentierte Version der Wahrheit war. Draven im Club und Draven der Ritter waren Lichtjahre voneinander entfernt. Leider konnte mich die reale Version nicht ausstehen.
Ich studierte die Bilder von Gesichtern, geschaffen aus Zähnen, und schlotterte beim Anblick. Aber dieses Mal hatte ich keinen Ordner, in dem ich es ablegen konnte. Dieses Mal musste ich einen neuen anlegen, für neue Alpträume.
Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass dies nur der Anfang meiner wiederkehrenden Vergangenheit war.
Mein Fluch war zurück.