E
s dauerte nicht lange, bis ich den Dreh raushatte. Ein Affe hätte es genauso gut hinbekommen. An den Tischen saßen dieselben merkwürdigen, bunten Charaktere, wie man sie an diesem Ort gewohnt war, aber zum Glück befanden sich an meinen die netteren Gruppen. Sie alle lächelten mir zu, wenn ich ihr Leergut einsammelte. Einige reichten mir sogar ihre Gläser, wenn sie schwer erreichbar waren.
An einem Tisch waren die Leute außergewöhnlich freundlich, fragten sogar nach meinem Namen und stellten sich als die Familie Shinigami vor. Natürlich sagte mir das nicht viel, aber sie schienen trotzdem zufrieden. Sie alle teilten auffallende, extrem hellblaue Augen, fast schon transparent, aber sie trugen eine tiefe Aufrichtigkeit in sich, die mich beschwichtigte. Ich fühlte mich wohl bei ihnen.
Die Band begann zu spielen, aber zum ersten Mal, seitdem ich hier angefangen hatte, hörte ich eine Frauenstimme durch das Mikrofon. Ein sanfterer Klang als das, was hier in der Regel aus den Lautsprechern dröhnte, dennoch mit einem rockigen Akzent. Sie sang von ihrer Liebe zu einem dunkeläugigen Fremden und wie diese Liebe innerhalb von vierundzwanzig
Stunden ein bitteres Ende nehmen würde. Der Tod, den er über sie bringen würde, war unvermeidlich.
Mein Körper verlor die Kontrolle, und ich spähte zum Tisch, den ich die ganze Nacht vermieden hatte. Was ich dort fand, war sowohl verlockend als auch erschreckend.
Wie immer, wenn ich ihn außerhalb meiner Träume sah, trug er einen Anzug mit einem dunkelroten Hemd und einer schwarzen Krawatte. Aus irgendeinem Grund betonte das Outfit seine dominanten Gesichtszüge. Er wirkte aber noch grausamer und ungerührter als sonst. Vielleicht war meine Präsenz schuld. Ich konnte meinen Blick nicht von seinen Augen abwenden. Kalt und schwarz wie die dunkelste Winternacht. Er thronte in seinem Stuhl mit einer gebieterischen Anmut, seine starken Schultern am Gestein lehnend. Tödlich und unzerstörbar. Der Anblick jagte einen Schauer meinen Rücken hinunter.
Karmun behielt mich die ganze Nacht über im Auge. Nicht auf eine einschüchternde Weise, eher wie ein Freund, der auf mich achtgab. Gerade als ich den letzten Tisch abräumte, rief er mich zu sich.
»Was gibt‘s?«, fragte ich, als eine der anderen Kellnerinnen zur Bar kam. Die mit den kurzen Haaren, wie hieß sie noch gleich? Ach ja, Rue. Sie drehte sich zu mir und streckte ihre Hand aus. Ich konnte mir meinen verblüfften Gesichtsausdruck nicht verkneifen, als ich in ihre Augen sah – sie besaß die seltsamsten Augen, die ich je gesehen hatte. Sie waren komplett weiß, mit Ausnahme von kleinen schwarzen Pupillen in der Mitte. Narben und etwas, das Brandflecken glich, umrandeten ihre Augen und schlichen sich über ihre Wangen.
Sie war blind.
»Schön, dich kennenzulernen. Ich bin Rue. Du bist Keira, richtig?«, sagte sie mit übermütiger Stimme. Als ich ihre Hand schüttelte, bemerkte ich ein seltsames Tribal-Tattoo auf ihrer Handfläche. Auf der anderen Hand befand sich genau das gleiche
an derselben Stelle. Sie sah mich direkt an, was erstaunlich war in Anbetracht der Tatsache, dass ihr das Augenlicht fehlte.
»Hi, auch schön, dich kennenzulernen.« Lächelnd ließ sie meine Hand los, bevor sie sich ohne Weiteres zur Bar drehte. Sie brauchte nicht einmal einen Gehstock. Sie war flink und nahm das volle Tablett, das ihr Karmun reichte, bevor sie sich noch einmal zu mir wandte und sagte:
»Willkommen im Haus der Verrückten. Ich hoffe, du bleibst.« Und damit wuselte sie davon. Ich wusste, dass blinde Menschen auf andere Sinne vertrauten, aber sie war äußerst begabt. Von der Ferne würde man nie denken, dass sie nichts sehen konnte.
»Also, wie läuft es?«, fragte mich Karmun, als wäre es mein erster Tag in einer neuen Schule. Ich unterdrückte ein Lachen.
»Eigentlich ganz gut.«
»Toll! Warum gönnst du dir nicht eine Pause und holst etwas frische Luft?« Er reichte mir eine Flasche Wasser.
»Schon okay, ich brauche keine Pause. Ich bin gerade mal eine Stunde hier.« Seine Lippen verzogen sich zu einem wissenden Lächeln.
»Keira, es ist fast zehn Uhr.« Was? Fühlte sich an, als hätte ich gerade erst angefangen. Dieser Ort war eine einzige Zeitverzerrung. Ich nahm das Wasser und schlüpfte unter der Luke hinter der Bar nach vorn, als er mich mit einer Hand stoppte und sagte:
»Warum gehst du nicht nach draußen? Auf dem Balkon ist es ruhig.«
»Okay«, murmelte ich etwas entgeistert, da ein seltsamer Blick in seinen Augen aufleuchtete, als hätte gerade eine andere Entität von ihm Besitz ergriffen. Oder vielleicht war ich einfach nur paranoid. Nichtsdestotrotz machte ich mich auf den Weg zu den Türen, die zum Balkon führten.
Ich war dabei, sie zu öffnen, doch sobald meine Hand mit dem kühlen Glas in Kontakt kam, schoben sie sich seitwärts und verschwanden komplett in den Wänden. Ich schritt hindurch und in die Nacht hinaus. Die Luft traf mich wie eine kalte Dusche, nachdem man aus einem beheizten Pool gestiegen war. Ich schloss meine Augen aus Gewohnheit, etwas, das ich immer tat, wenn ich zum ersten Mal eine Winternacht betrat. Obwohl es technisch gesehen Herbst war. Aber wenn es draußen kalt war und sich Regen oder Schnee zeigten, waren das für mich die Anzeichen des Winters, ihm vorzeitig Hallo zu sagen.
Die Türen hinter mir schlossen sich mit einem leisen Surren und schnitten den Lärm von drinnen abrupt ab. Der Balkon war riesig, beinahe schon ein Raum für sich. Umrahmt von Marmorsäulen mit einer Wand aus Steinbalustraden dazwischen. Der obere Teil war breit genug, um darauf zu sitzen, wenn man mutig genug dafür war. Es gab keine Sitzgelegenheiten, und der Boden war makellos, obwohl riesige Farne in chinesischen Töpfen auf beiden Seiten der Türen standen und alles von Wäldern umzäunt war. Dennoch hatte sich kein Blatt oder eine Nadel von den Farnen hierher verirrt.
Reben arbeiteten sich um die Säulen herum, trotzdem konnte man nicht erkennen, woher sie kamen. Ich vermutete, dass sie sich an der Seite des Hauses hochschlängelten, um sich mit dem Efeu zu vermischen.
Die Aussicht vor mir erstreckte sich in einer Decke tiefster Schwärze. Der Mond hielt sich versteckt, und ohne die Lampen an den Wänden hätte ich meine Hand nicht vor meinem Gesicht gesehen. Das Licht warf einen unheimlichen Glanz auf den Marmorboden. Kein idealer Aufenthaltsort für jemanden mit einer wilden Fantasie, so viel war sicher.
Ich schraubte meine Flasche auf und nahm ein paar große Schlucke. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie durstig ich war, bis die
kühle Flüssigkeit meinen Hals hinunterfloss. Plötzlich sprach jemand hinter mir meinen Namen.
»Keira, hier hast du dich also versteckt.« Ich drehte mich zu Sophia um, die ich das erste Mal heute Abend zu Gesicht bekam. Keine Ahnung, wieso, aber jedes Mal, wenn ich den Mut fand, auf den obersten Tisch zu schauen, schaffte ich es nicht, meine Augen von ihm
abzuwenden.
»Hallo, Sophia, wie läuft deine Nacht?« Sie blickte über ihre Schulter, als hätte sie dort etwas gehört. Mit einem Lächeln drehte sie sich zu mir um.
»Produktiv. Und wie es aussieht, im Begriff, noch interessanter zu werden. Aber genug über mich, wie läuft deine erste Schicht? Wirst du bleiben?« Ich dachte einen Moment darüber nach.
»Es war ein Kinderspiel. Ehrlich gesagt, bin ich überrascht. Du hattest recht, ich habe mir umsonst Sorgen gemacht.« Ich verschraubte meine Flasche und rückte mein Top zurecht. Neben dieser Schönheit fühlte ich mich jedes Mal wie eine schäbige Obdachlose. Ihr Haar formte perfekte Spiralen, und ihr lilafarbenes Kleid passte ihrer göttlichen Figur wie angegossen.
»Gut, das ist großartig! Nun, wieso trinken wir nachher nicht etwas zusammen, um deine erste Schicht zu feiern?« Ich lugte auf meine abgewetzten, flachen Schuhe und wusste, welche Antwort ich ihr geben würde, auch wenn sie sie nicht hören wollte.
»Ich denke, das ist keine gute Idee, Sophia.«
Als mir klar wurde, dass die Antwort, die mir auf der Zunge gelegen hatte, nicht von mir gekommen war, sondern von dem Mann, der mich sowohl einschüchterte als auch an den Rand des Wahnsinns trieb, hielt ich meinen Kopf gen Boden gerichtet. Mein letzter Atemzug verfing sich in meinem Hals. Tatsächlich fühlte es sich so an, als hätte mein Blut aufgehört, durch meine Venen zu fließen. Wie immer wollte ich nur unsichtbar sein, eine
Fliege an der Wand, nie gesehen werden, bis er ging. Ich wollte ihn nur aus der Ferne betrachten – das war genug. Aber hier zu stehen, machte mich zu verletzlich.
»Und warum nicht? Sie hat gute Arbeit geleistet und verdient einen Drink.« Ich mochte Sophia, aber in diesem Moment wünschte ich mir, sie würde von ihrer neuen Position als meine Pressesprecherin zurücktreten. Ich musste etwas sagen, bevor die beiden noch meinetwegen einen Streit vom Zaun brachen.
»Ich … Ich schätze die Einladung sehr, aber dein Bruder hat recht, ich muss passen. Aber danke trotzdem.« Ich hatte es getan. Das Undenkbare. Okay, mein Kopf zeigte noch immer Richtung Boden, aber zum ersten Mal hatte ich vor ihm gesprochen, ohne das Wort ›Sorry‹ hinzuzufügen. Zum Teufel, ich hatte Glück, dass es Sinn ergab und Englisch war, obwohl ich ein wenig ins Stottern gekommen war.
Ich sah zu Sophia auf. Sie zog ein Gesicht, als hätte ich gerade ihre Lieblingspuppe gestohlen, ihren Kopf abgerissen und ihn einem Rottweiler zum Fraß vorgeworfen. Deshalb schoss ich schnell nach:
»Ein anderes Mal, okay?«
Ein Lächeln blitzte auf ihren perfekten Lippen auf. Ich konnte Dravens Augen auf mir spüren, aber ich schaffte es noch immer nicht, seinen Blick zu erwidern. Ich wünschte nur, dass es endlich vorbei wäre, damit ich mich wieder in meine Arbeit flüchten konnte.
»Gut, aber bald, und dann gibt es keine Ausreden.« Sie schien zufrieden mit dieser letzten kleinen Forderung, aber ich fand das Ganze eher hinreißend als ernst.
»Sophia, du wirst gebraucht.« Er sagte dies mit extremer Autorität, aber Sophia schenkte ihm nur ein Achselzucken. Bevor sie ging, umarmte sie mich und sagte:
»Bis morgen.« Ich war mir sicher, ich hörte die Missbilligung ihres Bruders in der Form eines leisen Knurrens. Ich umarmte
sie zurück, lief aber leuchtend rot an. Es war keine große Sache, doch unter den prüfenden Adleraugen ihres Bruders zeigte das Blut in meinen Wangen meine Gefühle nur zu deutlich.
Danach verließ sie uns, und ich ertappte mich dabei, wie ich nervös mit der Flasche in meinen Händen spielte. Nach einem Moment der Stille und keinerlei Bewegung seinerseits marschierte ich um ihn herum, als er plötzlich meinen Arm ergriff und meine Flucht stoppte.
Die Hitze durch diese erste Berührung schoss durch das dünne Material meines Tops und die Handschuhe darunter. Sie durchdrang meine Haut und durchbohrte mein Herz, als würde dieser Mann aus purer, sexueller Energie bestehen. Ich erstarrte, wusste nicht, wie ich reagieren sollte und ließ aus Schock die Flasche fallen. Bevor ich überhaupt dazu kam, mich in Bewegung zu setzen, fing er sie auf und übergab sie mir.
»Bitte sehr«, sagte er mit einem Hauch von Weichheit in seiner Stimme. Das brachte mich dazu, einen Blick auf ihn zu richten, und ich bereute es augenblicklich. Seine Augen wirbelten von so vielen Emotionen, dass es schwer war, nur eine aufzuzählen. Sie waren so intensiv und hypnotisierend, dass ich mich stundenlang in ihrer Schönheit hätte verlieren können. Er ließ meinen Arm nicht los. Stattdessen strich er mit seiner Hand der Länge nach hinunter, bis er meine Faust erreichte. Er hob sie näher an sein Gesicht, als ob er im Begriff wäre, sie in Augenschein zu nehmen.
»Ich … Was …?«
»Schhh.« Er unterbrach mich mit einem sanften Ton und fing an, meine Finger mit seinen auszurollen. Sobald meine Hand ausgestreckt war, drehte er sie an meinem Handgelenk um, was mich zusammenzucken ließ. Seine Augen huschten zu meinen, als sich sein Griff über den Narben festzog, die ihm zum Glück verborgen blieben. Nach einem stillen Moment der Suche nach Antworten ließ er es endlich sein und richtete seine
Aufmerksamkeit zurück auf meine Hand. Dann strich er einen Finger über die wunde Stelle, die er dort fand. Der schöne Schmerz, den die Berührung auslöste, ließ mich meine Augen schließen.
»Wie hast du deine Hand verletzt?« Bei seiner Frage riss ich meine Augen auf. Mit einer kleinen Bewegung schüttelte ich meinen Kopf, in der Hoffnung, dass er damit zufrieden wäre, aber er hob seine Augenbrauen.
»Keira, ich habe dir eine Frage gestellt.«
Das brachte mich dazu, hart zu schlucken, und ich musste mich räuspern, um eine Antwort formulieren zu können.
»Ich koche«, platzte ich heraus, um dann schnell zu erkennen, wie dämlich das klang. Also fügte ich noch eine weitere Dummheit hinzu, denn wenn dein Name Keira war, kannte die Dummheit offenbar keine Grenzen!
»Ich meine, ich habe gekocht … Vorher, meine ich … Äh, Spaghetti Bolognese für meine Schwester und Frank. Er ist mein Schwager. Ich möchte, dass er eine anständige Mahlzeit bekommt, und meine Schwester ist nicht die beste Köchin und …«
»Ich weiß, wer Frank ist«, konstatierte er, und ich dankte Gott, dass mich seine Stimme zum Schweigen brachte.
»Tatsächlich?«, sprudelte es weiter aus mir heraus.
»Tatsächlich.« Ich war knapp davor, mir selbst auf den Kopf zu schlagen! Aber natürlich wusste er, wer Frank war. Frank war derjenige, der für die Sicherheit im Erdgeschoss sorgte.
»Natürlich«,
murmelte ich, obwohl ich in meinem Kopf ›IDIOT!‹ schrie.
»Nächstes Mal wirst du vorsichtiger sein, ja?« Seine Frage klang eher nach einer Aufforderung. Als Reaktion nickte ich nur, und als ich das tat, ließ er meine Hand fallen. Das kappte die Verbindung, als hätte er den Draht durchtrennt, der mein Herz
für eine kurze Zeit angetrieben hatte. Ich senkte meinen Kopf, um meine Scham zu verbergen.
»Sophia hat mir erzählt, wie du darüber denkst, nach Hause gefahren zu werden.« In diesem ›Oh Scheiße‹-Moment wagte ich direkten Blickkontakt.
»Nun ich … Ich habe etwas gesagt, ja, aber ich … Ich habe ihr gesagt, ich wäre dankbar, und ich bin es wirklich … Dankbar, meine ich, aber …« Er hielt eine Hand hoch, um mich ein weiteres Mal zum Schweigen zu bringen und mich von meinem Elend zu befreien.
»Ich verstehe. Dennoch, als eine meiner Angestellten liegt deine Sicherheit in meinen Händen. Ich werde deinen Wunsch respektieren und zukünftig auf das peinliche
Chauffieren verzichten …«
»Danke, ich …« Er schnitt mir abrupt das Wort ab, als ich die Todsünde beging, ihn nicht zu Ende sprechen zu lassen.
»Im Gegenzug jedoch erwarte ich, benachrichtigt zu werden, wenn Frank oder deine Schwester nicht für deinen Transport zur Verfügung stehen.«
»Okay, das sollte kein …«
»Ich bin noch nicht fertig.« Meine Augen weiteten sich, als ich auf meine Lippe biss. Ich fühlte mich wie ein Kind, das zurechtgewiesen wurde.
»Wenn das passiert, dann werde ich dich persönlich
nach Hause fahren, ist das klar?«
In diesem Moment hoffte ich nur, dass mein Mund nicht aufklappte. War das sein Ernst?! Ich konnte kaum klar denken, bevor er fortfuhr.
»Karmun meinte, du hättest heute Abend gute Arbeit geleistet.« Ich nickte, da mir keine Antwort einfiel. Ich konnte ihm immer noch nicht in die Augen sehen. Wenn ich das täte, würde ich ihnen nicht mehr entkommen.
Er rückte einen Schritt näher, und ich spürte die Hitze seines Körpers. Ich schloss meine Augen, da ich nicht in der Lage war, meine schüchterne Gewohnheit abzuschütteln. Er beugte sich etwas nach unten, so wie er es schon viele Male zuvor in meinen Träumen getan hatte.
Er ragte mehr als einen ganzen Kopf über mir, aber er schloss den Abstand zwischen unseren Körpern bis auf wenige Zentimeter. Ich konnte seine Haut riechen und wollte tiefer einatmen, um jede Duftnote wahrzunehmen. Aber das tat ich nicht. Nein, stattdessen erstarrte ich, paralysiert wie ein verängstigtes Tier.
»Wenn dem so ist, dann komm morgen wieder.« Und das war‘s. Mit diesen Worten war die vorzügliche Folter vorbei – Worte, die immer noch in der Luft schwebten, als er mich stehen ließ, nahe am Hyperventilieren.
Und in diesem Moment wusste ich …
Mein Herz steckte in großen Schwierigkeiten.
Ich fantasierte immer noch über meine Begegnung mit Draven, als ich mich zu Hause fürs Bett fertig machte. Seit einer Stunde befand ich mich in einem zombieähnlichen Zustand.
Ich war noch total von den Socken, dass wir tatsächlich miteinander gesprochen hatten. Okay, es war kein langes Gespräch gewesen, aber besser als Beleidigungen, während ich nur dastand und keinen Laut von mir gab. Was mich aber am meisten schockierte, war, dass er informiert werden wollte, wenn ich keine Mitfahrgelegenheit hatte, damit er mich nach Hause fahren konnte! Er selbst. Persönlich. Er und ich, gemeinsam in einem Auto … allein! Wie war es dazu gekommen?
Eines war sicher: ein eigenes Auto zu kaufen, hatte jetzt oberste Priorität.
Ich bekam immer noch Gänsehaut, wenn ich daran dachte, wie nahe er mir gewesen war. Wie schlimm wäre das dann, wenn ich neben ihm auf dem Beifahrersitz sitzen würde? Man würde meinen, die Wirklichkeit wäre realistischer als meine Träume, aber wie sich herausgestellt hatte, war der Unterschied eher minimal. Der Geruch war derselbe gewesen, ebenso die Wärme und die tiefe Verbindung, die ich fühlte, wenn er mich berührte. Keine Ahnung, wie das sein konnte, aber was da auch immer vor sich ging, ich konnte mich nicht darüber beklagen.
Ich versuchte, abzuschalten und begann, Jane Eyre an der Stelle weiterzulesen, an der ich aufgehört hatte, aber Mr Rochester verwandelte sich immer wieder in Draven. Die Ähnlichkeiten überschlugen sich allmählich. Auch er war schroff zu Jane bei ihrem ersten Treffen gewesen und hatte sie eine Hexe genannt. Aber schon bald kamen sie sich näher, als sie seine harte Schale zersplitterte und sein weiches Herz fand, obwohl sie schlicht, mittellos und vor allem … zerbrochen war.
Ich würde nur allzu gern glauben, dass meine eigene Geschichte ähnlich verlaufen würde, aber in einem Zeitalter, das von Schönheit, Geld und Gier geprägt war, bezweifelte ich, dass mich Draven jemals so sehen würde wie Rochester Jane. Aber was war schon dabei, zu fantasieren, nicht wahr?
Genervt, dass sich alles wieder um Draven drehte, legte ich das Buch nach drei gelesenen Seiten beseite. Ich schaltete das Licht aus und betete, heute Nacht nicht von den Monstern gejagt zu werden, die entschieden hatten, dass jetzt der richtige Zeitpunkt wäre, um mein Leben wieder auf den Kopf zu stellen. Als wäre nicht alles schon kompliziert genug!
Ich döste ein, wachte aber wieder auf, als das Drehen und Wenden zu frustrierend wurde, um Schlaf zu finden. Ich stand auf und ging ins Badezimmer. Auch wenn die Schlaftabletten
letzte Nacht keine Wirkung gezeigt hatten, hatte ich heute vielleicht mehr Glück.
Gerade als ich dabei war, zwei Pillen in meinen Mund zu werfen, nahm ich ein Geräusch wahr. Ich drehte mich in die Richtung, aus der es gekommen war und stand still, während ich meinen Atem anhielt. Ich wartete, aber nichts regte sich. Wohl wieder meine Fantasie.
Nachdem ich die Pillen geschluckt hatte, ging ich zurück ins Zimmer. Regen peitschte gegen die Fenster, also hatte mich wahrscheinlich nur das höllische Wetter erschreckt. Ich tappte hinüber zum Fenstersitz, setzte mich und hörte dem Regen zu, bis mich die Pillen schläfrig machten. Ich blickte hinauf zum wütenden Nachthimmel und zuckte, als ein Blitz die Wolken und Silhouetten der Bäume erleuchtete. Mit einer Hand auf meiner Brust lachte ich nervös über meine Unruhe.
Ich zählte die Sekunden bis zum Donner. Sechs Sekunden. Er war ganz nahe. Obwohl ich wusste, dass er einschlagen würde, sprang ich in die Höhe, als er mit einem lauten Krach über den Himmel fuhr. Dann folgte ein weiterer Blitz, aber dieses Mal erhellte er nicht nur den Himmel.
Ich spähte hinunter in den Garten. Für den Bruchteil einer Sekunde konnte ich eine Gestalt unter meinem Fenster sehen, die zu mir nach oben sah. Ich wandte meine Augen nicht von ihr ab, aber ohne Blitze war es zu dunkel, um mehr zu erkennen.
Blinzelnd wartete ich auf den nächsten Lichtstrahl, um das Geheimnis zu lüften. Der Sturm kam näher, da ich nur noch drei Sekunden zählte, bis der Donner ausbrach. Die Gestalt bewegte sich langsam. Es schien, als ob sie mir bedeutete, zu ihr nach unten zu kommen. Ich konnte gerade einmal erkennen, dass es sich um einen Mann handelte, denn für eine Frau war er viel zu groß und stämmig.
Ich wartete auf etwas mehr Licht. Wenn sich nur der Mond gezeigt hätte, hätte ich ihn klarer sehen können. Wer auch
immer er war, er trug einen bodenlangen Mantel und einen Filzhut, den man aus alten, kitschigen Detektivfilmen kannte. Nur Mund und Kinn waren sichtbar, da der Hut sein halbes Gesicht verbarg.
Irgendwie sah der Hut vertraut aus. Ich war mir sicher, ihn schon einmal gesehen zu haben, aber bei wem? Bald fand ich es heraus, als der Himmel an drei verschiedenen Stellen gleichzeitig aufleuchtete. Was meine Augen dort erblickten, war schrecklicher als jeder Alptraum und jedes Monster, das mir je untergekommen war.
Denn dort, unter meinem Fenster, winkte mir etwas zu …
Meine Vergangenheit.