20
Reise durch die schreckliche Vergangenheit
I ch schrie und schrie, bis mir die Luft ausging. Ich klammerte mich an irgendetwas fest. Es fühlte sich an, als würde ich ersticken. Vielleicht hatte mir jemand einen Sack übergestülpt. Das war‘s! Er hatte mich gefunden. Es geschah schon wieder. Nein, nein, nein! Ich musste mich befreien. Jemand musste mich hören. Sie mussten mich hören! Ich schrie weiter. Ich konnte das Material über meinem Gesicht schmecken und den Schweiß meines Körpers riechen, als ich mich wie ein Wurm wand.
Ich kratzte, um es loszuwerden. Die Schreie hörten nicht auf. Ich verbrauchte die ganze Luft in meinen Lungen, bevor sich das Material von meinem Gesicht hob und ich eine vertraute Stimme wahrnahm, die meinen Namen sagte.
»Kaz, Kazzy! Es ist okay, es ist okay, ich bin es … Beruhige dich, du bist in Sicherheit. Es war nur ein Traum.« Meine Schwester streichelte über meine Stirn. Sie sah so blass aus, wie ich es wahrscheinlich auch war. Sie half mir auf, während mein Verstand versuchte, sich einen Weg zurück in die Realität zu erkämpfen. Meine Atmung verlangsamte sich. Tränen begannen aus meinen Augen zu strömen.
»Es tu… tut … mir leid«, schluchzte ich mit Schluckauf. Lächelnd legte sie meinen Kopf in ihre Arme und bot mir ihre Schulter, um mich auszuweinen.
»Ist sie okay?« Frank stand kampfbereit mit einem Baseballschläger in der Hand neben der Tür. Sie deutete ihm mit einem Arm hinter ihrem Rücken etwas an. Er nickte, bevor er mich in Libbys Armen ließ wie ein kleines verängstigtes Kind.
»Besser?«, fragte sie nach zehn Minuten Hysterie.
»Es tut mir leid, es war nur … Ich hatte so einen Traum seit einer Weile nicht mehr. Hat mich diesmal wohl hart getroffen.« Ich nahm das Taschentuch aus ihrer Hand, das sie mir anbot, und wischte mir beschämt meine Augen und laufende Nase.
»Es ist in Ordnung, Schätzchen, aber so wie du geschrien hast, war Frank kurz davor, die Tür einzuschlagen. Und sie war nicht einmal verschlossen! Manchmal glaubt er wohl, er wäre Jack Bauer aus 24.« Wir lachten beide, und ich fühlte mich sofort besser.
»Armer Frank. Er sah besorgt aus«, murmelte ich reuevoll.
»Nun, zumindest kannst du auf deinen großen Bruder zählen, der dich beschützt.« Das war beruhigender, als sie sich überhaupt vorstellen konnte.
»Hast du von ihm geträumt?«, fragte sie vorsichtig. Ich nickte nur und spürte, wie sich meine Augen wieder mit Tränen füllten. Sie wirkte aufgebracht und betrübt zugleich.
»Versuch, etwas zu schlafen. Möchtest du ein paar Schlaftabletten?«
»Alles gut, ich habe schon … Oh nein, warte, das muss wohl in meinem Traum passiert sein. In diesem Fall ja, ich nehme besser eine.« Sie stand auf und ging ins Badezimmer, aber als sie wieder zurückkam, hatte sie nur die Flasche in der Hand. Ich war dabei zu protestieren, da ich die Pillen keinesfalls ohne Flüssigkeit schlucken konnte, aber sie reichte mir ein leeres Fläschchen.
»Aber wie …? Das ist eigenartig, gestern war es noch fast voll.« Wie konnte das Fläschchen leer sein? Ich hatte am Abend zuvor nur eine genommen.
Libby schielte mich mit einem seltsamen Blick an, offensichtlich ahnungslos, was sie glauben sollte. Sie war ganz klar besorgt, also erzählte ich ihr, dass ich in meinem Traum Pillen eingenommen hatte.
»Vielleicht bin ich schlafgewandelt und habe sie weggeworfen? Ich erinnere mich wirklich nicht mehr.« Ihr Ausdruck besänftigte sich und sie gab mir ein paar von ihren Pillen, die man ihr verschrieben hatte, als sie sich vor sechs Monaten den Rücken verrenkt hatte.
»Diese hauen dich um, also nimm erst mal nur zwei. Ich wecke dich morgen früh. Aber du weißt, du musst zu einem Therapeuten, der dir wieder welche verschreibt.« Ich nickte widerwillig. Das Letzte, was ich brauchte, war wieder ›über meine Gefühle zu sprechen‹. Schien so, als ob mein altes Leben versuchte, mein neues aufzuholen …
Wieder einmal.
Am nächsten Morgen weckte mich Libby mit einer Tasse Tee.
»Wie fühlst du dich heute?« Ich blinzelte sie durch verschwommene Augen an. Sie sah bereit für die Arbeit aus, was nur eins bedeuten konnte – ich war definitiv zu spät! RJ würde jede Minute auftauchen. Ich sprang aus dem Bett und raste in Richtung Bad, aber Libby stellte sich mir in den Weg.
»Wieso die Eile?«
»Ich komme zu spät. Warum hast du mich nicht früher geweckt?«, meinte ich mit noch krächzender Stimme.
»Weil ich dachte, du würdest gerne ausschlafen. Es ist Samstag.« Oh, ich musste letzte Nacht noch verwirrter gewesen sein, als gedacht. Ich hatte vermutet, als Sophia ›Wir sehen uns morgen‹ sagte, dass sie den Unterricht meinte, aber sie hatte wohl von der Arbeit gesprochen.
»Oh ja, ganz vergessen. Aber wieso siehst du aus, als wärst du fertig fürs Büro?« Ich ließ mich wieder auf das Bett plumpsen, um meinen Tee zu genießen. Währenddessen sammelte Libby wahllos Klamotten ein und stopfte ein Paar meiner Schuhe zurück in den Kleiderschrank.
»Entschuldige, ich weiß, wir wollten den Tag zusammen verbringen, aber dieser Kunde lässt nicht locker. Und wenn ich diesen Job gut hinkriege, könnte ich sechs andere Häuser absahnen, also eine wirklich große Sache.« Sie lächelte begeistert, wirkte aber noch immer etwas schuldbewusst.
»Alles in Ordnung, Libs. Ich muss ohnehin lernen, und ich denke, jetzt, wo der Sturm vorüber ist, werde ich das Wetter nutzen und einen Spaziergang unternehmen.« Ich musste raus und meinen Kopf freikriegen. Etwas Besseres fiel mir nicht ein.
»Okay, aber heute Abend werde ich das wiedergutmachen. Wir werden Pizza bestellen, Popcorn machen und uns einen Mädchenfilm reinziehen.« Ich lachte, als sie sich an einem fürchterlichen, amerikanischen Akzent versuchte. Ich liebte es, Zeit mit meiner Schwester zu verbringen, daher wirkte sie nicht gerade begeistert, als ich ihr erzählte, dass ich heute arbeiten müsste.
»Tut mir leid, aber hey, ich habe morgen frei. Lass uns dann etwas machen, okay?«
Sie nickte und fügte hinzu:
»Okay, aber ich denke trotzdem, es ist alles etwas zu viel, Arbeit und College und der Club … Du wirst noch zusammenbrechen.« Sie hatte nicht ganz unrecht. Wenn ich nicht bald etwas erholsamen Schlaf bekäme, würde ich umkippen.
»Nur, bis ich genug zusammengekratzt habe, um ein Auto zu kaufen, dann werde ich meine Schichten reduzieren. Außerdem kann ich nicht von Frank und dir erwarten, dass ihr mich permanent hin und zurück chauffiert.« Ich hielt meine Hand hoch, um ihre Proteste zu stoppen. Mental fügte ich noch den Teil hinzu, in dem ich mit Dominic Draven und seiner Drohung, mich nach Hause zu fahren, zu kämpfen hatte.
»Ich weiß, es macht dir nichts aus, aber mir. Ich will nicht, dass du mich zu so später Stunde abholen musst. Außerdem möchte ich mein Glück mit RJ nicht überstrapazieren.« Damit akzeptierte sie ihre Niederlage.
»Okay, ich hab‘s verstanden. Ich weiß, dass du dich wieder nach etwas Unabhängigkeit sehnst.« Ich schenkte ihr ein dankbares Lächeln.
»Wir sehen uns später. Und Kaz?« Sie hielt auf dem Weg hinaus inne, während sie sich am Türrahmen festhielt.
»Ja?«
»Versuch, dich heute mal auszuruhen. Geh es langsam an, okay?« Ich salutierte mit einem ›Pfadfinder-Ehrenwort‹.
Ich verbrachte einen Teil des Tages damit, zu lernen und mich ›zu entspannen‹, wie Libby es angewiesen hatte, aber mir fiel es schwer, mich zu konzentrieren. Mein Verstand schweifte immer wieder in die dunklen Tiefen meines Traums hinab. Es war irrational, aber irgendwie erdrückte mich das Gewicht bitterer Enttäuschung. Das lag nicht nur daran, dass er einen Weg zurück in mein Leben gefunden hatte, sondern dass niemand gekommen war, um mich zu retten .
In meinem letzten Alptraum war Draven erschienen, um mich vor den Monstern zu beschützen, was das Ganze etwas erträglicher gemacht hatte. In dem Traum von letzter Nacht hätte ich ihn am dringendsten gebraucht, doch er war nicht erschienen. Infolgedessen konnte ich meine Gedanken nicht von meiner Vergangenheit fernhalten, egal wie sehr ich es versuchte. An einem Punkt wurde es so schlimm, dass ich schon knapp davor war, mich an der Flasche Wodka aus Libbys Schnapsschrank zu bedienen.
Aber das war ein dunkler Ort, von dem ich mich fernhalten wollte. Dennoch, manchmal reichte der Gedanke aus, diesen Weg einzuschlagen, nur um den Schmerz zu betäuben und mich wieder zu klarem Verstand zu bringen. Das war die richtige Zeit, um meinen Spaziergang zu unternehmen und zu versuchen, die Stelle zu finden, zu der Libby und ich gewandert waren. Trotz der Kälte war es ein schöner, klarer Tag, und ich wusste, ich würde mich aufwärmen, sobald ich mich in Bewegung setzte.
Ich schnappte mir meine Jacke mit einer großen Kapuze, nur für den Fall, dass das Wetter wieder umschlug. Dann schob ich meinen MP3-Player in meine Tasche, schaltete ihn ein und stopfte die Kopfhörer in meine Ohren. Schon bald verlor ich mich in der Musik und der Landschaft um mich herum. Ich fragte mich, ob ich dem Mädchen im Wald wieder begegnen würde, und mir wurde klar, dass ich in letzter Zeit nicht viel über sie nachgedacht hatte. Zumindest hatte ich sie nicht mehr gesehen, was die Frage aufwarf, ob sie mir an diesem Tag gefolgt war oder sich alles nur in meinem Kopf abgespielt hatte?
Ich zuckte mental mit den Schultern und folgte dem unebenen Pfad, der tiefer in den Wald führte. Ich schlenderte weiter bis zu der Stelle, an der sich der Weg gabelte, aber ich konnte mich bei Gott nicht mehr erinnern, welche Richtung wir eingeschlagen hatten. Aus irgendeinem Grund packte mich jedoch der Drang, links abzubiegen, als würde mich etwas dorthin ziehen. Eine leise Stimme in mir warnte mich davor, aber ich ignorierte sie. Stattdessen folgte ich der rebellischen Stimme, die mir sagte, ich sollte nicht so übervorsichtig sein.
Nach etwa zwanzig Minuten Gehzeit wurde der Waldboden etwas holpriger. Als ob dies einmal ein regulärer Spazierweg gewesen wäre, der aber schon seit einer Weile nicht mehr betreten worden war. Der Boden sah unberührt aus. Man musste sich unter viele Äste ducken und diese beiseite ziehen, um voranzukommen. An einer Stelle lag ein umgestürzter Baum, der so groß war, dass ich meinen Kurs ändern und mir einen anderen Weg bahnen musste. Vielleicht hatte ihn der Sturm gestern Nacht umgeworfen.
Weitere zwanzig Minuten Marsch in diese Richtung reichten aus, um meine Entscheidung zu bereuen, denn ich bezweifelte, dass ich den Weg zurück so leicht wiederfinden würde. Ich hielt an und nahm die Kopfhörer aus meinen Ohren. Das Rauschen von fließendem Wasser ließ mich schlussfolgern, dass in der Nähe ein Fluss vorbeilief. In diesem Moment fiel mir auf, dass ich extrem durstig war. Ich folgte dem Plätschern ein wenig abseits des Pfades, und es dauerte nicht lange, bis ich den Fluss fand. Die Szenerie war so schön, dass ich mir wünschte, ich hätte meine Kamera eingepackt.
Das Ufer war mit sanftem Moos bedeckt und wand sich wie eine Decke um jeden Felsen und Stein. Das Rauschen hallte durch den Wald. Ich beugte mich herab und rollte einen meiner fingerlosen Handschuhe hoch, um mit meiner Hand das kristallklare Wasser zu schöpfen.
Ein Zischen entfuhr mir, als die eiskalte Flüssigkeit in Kontakt mit meiner Haut kam, aber trotz des Schocks war es ein erfrischendes Gefühl. Sobald ich meinen Durst gestillt hatte, stand ich auf und wanderte für eine Weile flussaufwärts, bevor ich auf eine Lichtung stieß. Sie sah aus wie die in meinem Traum, in der ich Draven zum ersten Mal begegnet war.
Meine Augen hatten sich so sehr an den schattigen Wald gewöhnt, dass ich sie mit einer Hand verdecken musste, als ich in das Licht trat. Ich bahnte mir weiter einen Weg nach vorn und erkannte bald, dass sich die Lichtung nahe der Klippen befand. Bäume umzäunten eine Blockhütte, die am Rande eines steilen Abhangs stand. Der Nationalpark breitete sich dahinter aus und erstreckte sich kilometerweit in jede Richtung. Die Aussicht erinnerte mich an die vor meinem Schlafzimmerfenster – Welle um Welle von üppigem, grünem Wald.
Die Schönheit, die sich vor mir entfaltete, brachte mich zum Lächeln. Ich fragte mich, was für ein Leben die Leute in dieser Hütte wohl geführt hatten. Buchstäblich ein Leben am Rande des Abgrunds, umgeben von der Schönheit des Waldes. Eine der schönsten Aussichten, die sich mir je offenbart hatten.
Die Blockhütte wirkte verlassen, mit zerbrochenen Fenstern und zersplitterten Holzplanken, die aussahen, als hätte sie jemand eingetreten. Die Tür war genauso alt wie der Rest und hing schief an ihren Scharnieren. Langsam näherte ich mich. Der Drang zu rufen überkam mich, um zu sehen, ob da noch jemand war. Keine Ahnung, wieso, da hier ganz offensichtlich seit langer Zeit niemand mehr gelebt hatte, aber ich hatte das Gefühl, dass ich vielleicht nicht so allein war, wie es den Anschein hatte.
Nachdem ich diesen Gedanken in meinen Hinterkopf geschoben hatte, stieg ich die hölzernen Stufen hoch, die zur Haustür führten. Das Holz knarrte unter meinen Schuhen und ich blickte mich um, um sicherzustellen, dass mich niemand beobachtete. Nur eine Wand aus Wald war sichtbar, also wagte ich mich auf die Veranda und spähte durch eines der Fenster. Ein Panel fehlte, also hockte ich mich hin und lugte hinein. Weiter würde ich nicht gehen.
Innen sah es genauso verlassen aus wie außen. Ein paar von Hand gefertigte Möbel stapelten sich in der Nähe der Türen und Fenster, aber das meiste davon war nicht mehr zu gebrauchen. Dann bemerkte ich, dass der Rest der Fenster, die zur Klippe zeigten, offenbar in Eile vernagelt worden waren.
Neben der Eingangstür befanden sich die meisten Möbel, aber sie schienen nach hinten geschoben worden zu sein. Als hätte etwas die Eingangstür gerammt und das Interieur über dem Boden verstreut. Warum würde jemand so etwas tun? Was hatten sie versucht, fernzuhalten?
Ein seltsames Gefühl breitete sich in meiner Magengrube aus. Es war an der Zeit zu gehen. Etwas sagte mir, dass hier etwas Schreckliches passiert war. Ich machte ein paar Schritte nach hinten, ohne meine Augen von der Tür zu nehmen, als könnte etwas jeden Moment herausplatzen und auf mich zustürmen. Natürlich war das eine Bewegung, die ich hätte unterlassen sollen, denn mein Fuß verfing sich und ich fiel rückwärts die Stufen hinunter.
Mein Körper traf seitwärts auf dem Boden auf. Mein Kopf krachte auf einen der Felsen, die einen Pfad zur Haustür formten. Ein schießender Schmerz explodierte in meinem Schädel. Ich versuchte, aufzustehen, aber das Piepsen in meinem Kopf machte es schwer, mich zu fokussieren. Schließlich stützte ich mich auf meine Knie und tastete meinen Kopf ab.
Meine Finger stießen auf eine klebrige Flüssigkeit. Großartig! Jetzt blutete ich auch noch. Ich inspizierte meine blutverschmierte Hand und versuchte, Ruhe zu bewahren. Ein kleiner Cut würde mich nicht umbringen, und ich hatte gezwungenermaßen meine Angst vor Blut schon vor Jahren überwunden.
Ich raffte mich auf und wischte meine Hand ab. Blut lief über meine Wange, also zog ich einen meiner Handschuhe aus, rieb mein Gesicht und drückte den Stoff auf die Wunde. Hoffentlich musste sie nicht genäht werden. Das war das Letzte, was ich für meine Schicht heute Abend brauchte – eine klaffende, blau angeschwollene Wunde auf meinem Kopf. Ich betete, dass es nicht so schlimm war wie es sich anfühlte. Frustriert trat ich den Rückweg an. Hoffentlich war niemand zu Hause. Libby würde nur wieder ausflippen. Wenn ich zumindest noch rechtzeitig das Blut aus meinen Haaren waschen konnte, wäre das ein Bonus.
Ich könnte mich beim Fluss etwas zurechtmachen, nur für den Fall, dass Libby schon zu Hause war. Aber wo war er? War ich irgendwo falsch abgebogen? Er befand sich doch in der Nähe der Hütte, oder? Ich drehte mich in jede Richtung, aber ich konnte nichts finden, was mir vertraut schien. Wie weit war ich von dem Weg abgewichen? Mein Kopf begann sich unangenehm zu drehen, und der Schmerz trübte meine Sehkraft. Ich streckte schnell meinen Arm aus und stützte mich an einem Baum ab, bis ich mein Gleichgewicht wiederfand.
Dann hörte ich es. Ich wusste nicht, woher es kam, aber ich folgte dem Geräusch trotzdem, in der Hoffnung, dass es mich zur Zivilisation führte. Jemand sang in der Ferne, oder war das Musik? Ich konnte es nicht erkennen, da ich so etwas noch nie zuvor gehört hatte. Ein schönes Summen, das in Worte floss, die ich nicht verstand. Vielleicht würde ich auf Wanderer stoßen, die eine Karte bei sich hatten … und offensichtlich eine Stereoanlage.
Ich bahnte meinen Weg durch Äste und Laub, während ich den Lauten folgte, die durch die Bäume hallten. Wenn ich mich einmal vom Weg abwandte, wurde es für einen Moment dort lauter, wo man mich offenbar hinführen wollte.
Ich war benommen, konnte das Pochen in meinem Kopf gar nicht mehr spüren. Alles, worum sich meine Gedanken drehten, was ich fühlen und schmecken konnte, war der Klang, dem ich folgte. Mir war bewusst, er würde mich nur tiefer in den Wald führen und ich würde für immer verloren sein, aber aus irgendeinem unerklärlichen Grund blieb ich unbesorgt. Als ob ich auf einer Art Droge wäre, die meinen Verstand kontrollierte. Ich war total hypnotisiert, entspannt und gelassen, als ich mein Tempo beschleunigte, um dem erstaunlichen Klang endlich auf die Schliche zu kommen.
Ich war mir nicht sicher, wie lange ich unterwegs gewesen war, aber es fühlte sich nicht länger als ein paar Minuten an. Der Klang wurde lauter, aber ich konnte immer noch nicht erkennen, woher er stammte. Ich befand mich wieder auf einem ebenen Pfad. Meine Füße mussten nicht mehr so hart arbeiten, mich voranzutreiben. Als ich spürte, dass ich ganz nah war, fing ich an zu rennen.
Ich konnte jetzt mehrere Worte hören, aber es handelte sich nach wie vor um eine Sprache, die mir fremd war. Ich war schon völlig außer Atem und meine Brust schmerzte. Auch zu meinen besten Zeiten war ich nicht unbedingt die Fitteste gewesen, und Laufen zählte nicht zu meinen Stärken, aber der faszinierende Klang füllte meine Ohren, mein Gehirn und ließ mich nicht mehr los. Nur noch wenige Meter. Ich konnte es fühlen. Die Bäume wurden allmählich spärlicher, und mit jedem Schritt, den ich tat, wurde es heller.
Und dann plötzlich – Stille .
Gerade als ich aus den Bäumen hervortrat und die Vorderseite unseres Hauses erkannte, riss das hinreißende Lied ab, als hätte man abrupt den Strom gekappt. Keine Ahnung, was gerade geschehen war. Ich schaute mich nach irgendwelchen Lebenszeichen um, einem vorbeifahrenden Auto oder Musik, die Libby gespielt hatte. Ich war einer Melodie gefolgt, die mich nach Hause geführt hatte. Dessen war ich mir sicher.
Konfus betrat ich das Haus, ging nach oben, warf meine Jacke aufs Bett und schleuderte meine Schuhe weg. Irgendwann hatte ich den Handschuh verloren, den ich benutzt hatte, um das Blut aufzusaugen. Benommen zog ich den anderen Handschuh sowie mein blutbeflecktes Oberteil aus, bereit für eine Dusche. Im Badezimmer nahm ich meine Wunde genauer unter die Lupe.
Gott sei Dank schien es nicht so schlimm zu sein wie befürchtet. Etwas getrocknetes Blut klebte auf meinem Gesicht und in meinen Haaren. Der Cut war nicht so tief, dass er genäht werden müsste, also war ich zuversichtlich, auf einen Arztbesuch verzichten zu können. Den hässlichen Bluterguss, der sich rundherum gebildet hatte, konnte ich mit meinen Haaren und einem hautfarbenen Pflaster verdecken, sodass es vielleicht niemand bemerken würde.
Doch gerade als ich das Badezimmer verließ, kam Libby zurück, noch bevor ich Zeit gefunden hatte, die Wunde zu versorgen.
»Oh mein Gott, was ist passiert?« Sie wehte zu mir rüber, ballte ihre Hände zu Fäusten und sog Luft durch ihre Zähne, so, wie es Leute taten, wenn sie sich den Schmerz selbst vorstellten.
»Alles in Ordnung, Libs. Nicht so schlimm, wie es aussieht.« Das war eine Lüge. Sobald die Musik aufgehört hatte zu spielen, hatte der Schmerz wieder zu hämmern begonnen.
»Beug deinen Kopf und lass mich sehen. Das muss vielleicht genäht werden.« Ich neigte meinen Kopf in ihre Hände und sagte:
»Nein, ich hab es mir im Spiegel angesehen. Es ist nicht so tief. Ein Pflaster wird ausreichen.« Sie ergriff meine Hand und zog mich in die Küche, wo sie den Erste-Hilfe-Kasten aufbewahrte.
»Setz dich unter das Licht.« Ich folgte ihren Anweisungen, und sie fischte eine Box heraus, die so groß war, dass ein Weihnachtstruthahn darin Platz gehabt hätte. Was bewahrte sie in diesem Ding auf? Körper-Ersatzteile?
»Also, erzählst du mir, was passiert ist?«
»Nichts Besonderes. Ich bin gestolpert und mit dem Kopf auf einen Felsen geknallt.« Sie schnitt Klebeband in kleine Streifen und gab sie mir weiter, um sie zu halten.
»Das könnte etwas brennen.« Sie sprühte ein Antiseptikum auf die offene Wunde, was mich dazu brachte zu fluchen wie ein Pirat.
»Schön … Sehr ladylike«, murrte sie.
»Tut mir leid. Das nächste Mal, wenn es sich so anfühlt, als ob meine Haut schmilzt, werde ich gelassen sagen: ›Oh, tut mir schrecklich leid, meine Liebe, aber das war in der Tat ein wenig unangenehm‹.« Sie prustete über meinen noblen Akzent und zog meine Haut zusammen, bevor sie sie mit den kleinen Streifen zusammenklebte und daraus provisorische Nähte kreierte. Das Ganze bedeckte sie mit einem großen Pflaster.
»So, fertig.«
»Danke Mom.« Ich pflanzte einen Kuss auf ihre Wange und machte mich wieder auf den Weg nach oben.
»Willst du, dass ich für dich im Club anrufe?« Ich drehte mich um und schaute sie ungläubig an.
»Warum zur Hölle sollte ich das wollen?«
»Weil du eine Kopfverletzung hast und vielleicht auch eine Gehirnerschütterung.«
Ich schüttelte grinsend den Kopf.
»Ich habe mir nicht das Genick gebrochen, Libs, nur den Kopf gestoßen. Ich kann ohne Weiteres arbeiten.«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Okay, wollte nur auf Nummer sicher gehen.«
Sobald ich mich fertig gemacht hatte, inspizierte ich mich im Spiegel. Ich versuchte, meine Haare so zu legen, dass sie das Pflaster vollständig bedeckten, aber jedes Mal, wenn ich meinen Kopf bewegte, bewegten sich auch meine Haare. Schließlich gab ich auf und beschloss, meinen Kopf unten zu behalten und darauf zu hoffen, dass es unbemerkt blieb.
Gerade als ich mein Zimmer verlassen wollte, rief mich RJ an. Sie fragte mich, ob ich heute arbeitete und eine Mitfahrgelegenheit nach Hause bräuchte, da Jack der Fahrer des heutigen Abends war. Ich nahm das Angebot dankend an, da Frank heute Nachtschicht hatte und ich mit Libby ungern im Dunkeln fuhr. Oder noch schlimmer, mit Draven.
»Sag Jack Danke von mir«, sagte ich, um das Gespräch zu beenden, bevor ich noch zu spät zur Arbeit kam.
»Das kannst du ihm später selbst sagen, da er es sicherlich lieber von dir hören würde.« Sie beendete den Satz mit einem frechen Kichern und legte auf. Ich zog meine Jacke an und nahm die Tasche, die Libby mir gab.
»Bist du bereit?« Ich dachte kurz über die Frage nach. Würde ich jemals bereit sein, mit Draven im selben Raum zu sein?
Die Antwort blieb die gleiche …
Niemals.