22
Draven und der Arzt
D raven stieg aus dem Auto und ging auf meine Seite zu. Und das alles, bevor ich überhaupt reagieren konnte. Er öffnete meine Tür, und für einen Augenblick sah es so aus, als ob er mich hochheben und raustragen wollte.
»Es geht mir gut, ich kann gehen, danke.« Er hielt sich zurück, legte aber seine Hand auf den Türrahmen über meinem Kopf.
»Gut, beweise es«, sagte er großspurig, als ob er wüsste, dass ich hinfallen würde. Natürlich hatte er recht. Sobald ich versuchte zu stehen, fiel ich beinahe zurück in den Sitz. Er ergriff meine Hand und zog mich heraus. Eine schnelle Bewegung später befand ich mich wieder sicher in seinen Armen.
»Ich habe gesagt, es geht mir gut«, raunte ich in einem erbärmlichen Versuch, mein Gesicht zu wahren. Ich spürte, wie sich seine Lippen meinem Ohr näherten, und er flüsterte zurück:
»Und ich habe dir gesagt, du sollst es beweisen.«
»Ich bin wirklich okay, nur ein bisschen wackelig.« Er antwortete mir, indem er seinen Griff verstärkte, und ehrlich gesagt verspürte ich nicht den Wunsch, seine Arme zu verlassen. Ich bemerkte erst jetzt, dass er seine Jacke ausgezogen hatte. Er musste sie abgelegt haben, bevor er ins Auto stieg, aber ich war zu verdattert gewesen, um es mitzubekommen. Wir hätten beide in der kalten Nachtluft frieren sollen, da ich auch keine Jacke trug, aber dicht an ihn gekuschelt war mir wohlig warm. Er schien regelrecht Hitze auszustrahlen, und ich saugte sie ein, als würde sie meine Seele erwärmen.
Ich konnte die definierten Unterarmmuskeln und großen Hände spüren, die meinen Körper in einem stählernen Griff hielten. Mein Herz flatterte. Ich wünschte mir, hinter der Geste würde mehr stecken. Ich wünschte mir, sie wäre erotischer Natur. Er ging die Stufen hinauf, gerade als meine arme Schwester die Tür öffnete, die, möchte ich hinzufügen, bereits in ihrem Pyjama im Häschen-und-Karotten-Design steckte.
Aha. Sah so aus, als hätte es für mich noch viel schlimmer ausgehen können. Ich könnte jetzt mit diesem Pyjama in seinen Armen liegen. Aber den Blick auf ihrem Gesicht würde ich nie vergessen. Ihr Kiefer klappte tatsächlich auf. Ich bezweifelte, dass sie Draven jemals zuvor gesehen hatte, daher war der Anblick von mir in den Armen des schönen Fremden zweifelsohne erstaunlich.
Draven lächelte sie an. Ich beschloss, etwas zu sagen, da Libby noch nichts zustande gebracht hatte.
»Mir geht es gut, nur mein Kopf … Nun, du hattest recht.« Leicht verwirrt trat sie zur Seite, um Draven Eintritt zu gewähren. Dann begann er zu sprechen, und Libby war kurz davor, ihr Bewusstsein zu verlieren.
»Sie wurde bei der Arbeit ohnmächtig und war etwas wackelig auf ihren Beinen, also habe ich sie nach Hause gebracht, damit sie sich ausruhen kann.« Er sagte diesen letzten Teil, um in Erfahrung zu bringen, wo er mich hinlegen konnte, aber sie sagte immer noch kein Wort. Immerhin erhielten wir eine Halbantwort, als sie auf die Treppe zeigte.
»Keine Umstände. Leg mich einfach auf die Couch.« Mir war das alles schon unangenehm genug, aber der Gedanke, dass er mein Schlafzimmer betrat, ließ mich erröten. Zusammen mit dem Wunsch, ihn zu attackieren und an mein Bett zu binden, sodass er niemals fliehen konnte. Meine Fantasie ging mit mir durch, als ich ihn mir auf meinem Bett vorstellte, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu stöhnen. Wie sich herausstellte, wurde mir in dieser Angelegenheit keine Wahl gelassen, da er mich ignorierte und die Treppe hinaufstieg. Meine Schwester folgte uns wie ein Roboter.
Er erreichte den ersten Stock, ging aber weiter, als wüsste er, wo sich mein Zimmer befand. Er beugte sich zu meinem Gesicht und sagte leise:
»Geht es deiner Schwester Libby gut? Sie hat kein Wort gesprochen.«
»Ja, und das ist eine Premiere«, flüsterte ich zurück, sodass nur er es hören konnte. Er versuchte, ein Lächeln zu verbergen. Ich war schockiert. Fand er mich tatsächlich humorvoll?
Als wir mein Zimmer betraten, blickte er sich kurz um, bevor er fand, wonach er suchte – mein Bett. Ich wusste, das war das Ende, also atmete ich noch einmal tief ein und sog seinen Geruch ein, während ich mir wünschte, ich könnte diesen berauschenden Duft für immer behalten. Nichtsdestotrotz, dieser Moment würde mir auf ewig in Erinnerung bleiben. Wenn dich ein Mann zu deinem Bett trägt, dann ist das einfach etwas, das deinen ganzen Körper kribbeln lässt.
Er setzte mich zärtlich ab und sagte:
»Bitte sehr.« Und das war genug, um meine Augen wieder zu schließen und in meine Lippe zu beißen. Aber er bewegte sich nicht. War er im Begriff, mehr zu sagen?
»Du solltest besser auf deine Lippe achtgeben, bevor nichts mehr davon übrig ist …«
Er beugte sich näher zu mir und ich erhielt den nächsten Schock in dieser Nacht, als er fortfuhr:
»… und das wäre wirklich bedauernswert.« Eine Seite seines Mundes verzog sich zu einem schelmischen Grinsen. Mein Herz hatte dringend einen Defibrillator nötig. Hatte er mit mir geflirtet?
»Tatsächlich?«, fragte ich beim Ausatmen, damit er mich nicht hören konnte.
»Definitiv«, sagte er über seine Schulter, als er sich Libby zuwandte, die bei der Tür stand. Wie hatte er mich gehört? Ich war mir ziemlich sicher, dass ich die Worte nur geformt und nicht ausgesprochen hatte. Und hatte er das wirklich gemeint?!
Die arme Libby war wohl wieder zu sich gekommen, da sie ihn nun anlächelte.
»Vielen Dank, dass Sie sie nach Hause gebracht haben. Meine Güte, Kazzy, wolltest du mich zu Tode erschrecken?« Oh toll, sie war zurück. Und sie musste mich natürlich Kazzy nennen, als wäre ich fünf. Grinsend stellte sich Draven neben sie.
»Überhaupt kein Problem, aber sie sollte morgen zu einem Arzt. Sie muss vielleicht geröntgt werden.« Das Gespräch hörte sich an, als wären die beiden Elternteil und Lehrer und ich das verdammte Kind.
»Nein! Ich meine … Nein, das wird nicht nötig sein. Wie ich bereits sagte, mir geht es gut. Keine Ärzte. Ich werde nicht …« Ich keuchte beinahe, aber der Schmerz schnitt mich ab und ließ meine Augen tränen. Draven runzelte die Stirn, was Libby nicht entging.
»Sie mag keine Ärzte, seitdem … Nun …«
»LIBBY!«, rief ich entsetzt, damit sie ja nicht noch mehr ausplauderte, bevor mein Leben hier und jetzt zu Ende ging. Jetzt war Dravens volle Aufmerksamkeit auf mein Gesicht gerichtet. Ich konnte fast sehen, wie sich die Zahnräder in seinem Kopf drehten. Er brannte darauf, zu erfahren, wieso ich so reagierte. Glücklicherweise wurde das Gespräch von Frank unterbrochen, der die Treppe hochlief und von dem Aston Martin quasselte, der in der Einfahrt parkte.
»Libs, hast du dieses Auto gesehen? Mann, wem gehört …« Es verschlug ihm die Stimme, als er das Zimmer betrat und die Antwort auf seine Frage neben seiner Frau stehen sah.
»Oh schei… Ich meine, Mr Draven, Sir.« Libby erstarrte vor Entsetzen, als schließlich bei ihr klickte, wen sie vor sich hatte. Aber Draven wandte sich zu Frank und streckte ihm die Hand entgegen.
»Bitte, nenn mich Dominic.« Frank schüttelte seine Hand, als würde er eine Berühmtheit treffen. Libby schüttelte ebenfalls seine Hand, aber ihr hatte es wieder einmal die Sprache verschlagen. Was für ein Segen.
Frank warf mir einen Blick zu und sagte:
»Hey Kleine, was ist mit dir? Alles gut?« Toll, jetzt war ich die Kleine. Was kam als Nächstes? Ein Fläschchen vor dem Schlafengehen und eine Gute-Nacht-Geschichte?
»Nichts, ich bin hingefallen und jetzt macht jeder ein Drama.« Ich konnte Draven nicht mehr ansehen. Unfassbar, dass wir noch immer diskutierten. Frank trat näher, um sich selbst ein Bild zu machen und zog dann ein Gesicht, als ob er etwas Saures im Mund hätte.
»Verdammt, das sieht nicht gut aus. Wo bist du hingefallen? Im Ring mit Bruce Lee?« Super. Die einzige Person, auf die ich in der Regel zählen konnte, hatte es auf die dunkle Seite verschlagen. Und gerade als ich dachte, es könnte nicht schlimmer werden, fand Libby ihre Sprache wieder.
»Nein, es ist im Wald passiert. Dann ist sie mit einer Gehirnerschütterung zur Arbeit gegangen und dort zusammengebrochen, und Mr Draven hier hat sie nach Hause gefahren. Persönlich.« Sie fügte den letzten Teil hinzu, als ob sie einen Geheimcode kommunizieren wollte.
»Nun, ich werde euch verlassen. Keira, ich möchte nicht, dass du in der VIP-Lounge arbeitest, solange du nicht eine entsprechende Bescheinigung vom Arzt bekommen hast. Verstanden?«, sagte Draven, wieder mit seinem autoritären Ton. Großartig, diese Nacht konnte wirklich nicht mehr schlimmer werden. Oh nein, ich hatte mich geirrt, denn Dravens nächste Worte toppten alles.
»Oh, und ich würde ihr einen Eimer geben, nur für den Fall. Ihr war vorhin etwas übel.« Oh mein Gott. Er hatte die ganze Zeit gewusst, dass ich in seinen Pflanzentopf gekotzt hatte!
»Du meine Güte, okay. Danke vielmals, dass Sie sich um sie gekümmert haben, aber Moment … Haben Sie VIP gesagt?« Leider war das Libby nicht entgangen, und jetzt musste ich dafür bezahlen.
»Ja, das war Keiras zweite Nacht im VIP. Hat sie das nicht erzählt?« Draven sah mich fragend an, aber ich flüchtete vor seinem Blick.
»Nein, sie hatte wohl vergessen, es zu erwähnen«, antwortete Libby lächelnd und mit gelassener Stimme.
»Gute Nacht, Keira. Sieh zu, dass du etwas zur Ruhe kommst.« Bei der Art, wie er das sagte, hätte man meinen können, er wüsste, dass ich nicht gut schlief. Ich konnte im Gegenzug nur nicken. Sein Blick flackerte hinunter zu meiner zerbissenen Lippe, bevor er sich zu meiner Schwester drehte. Er verabschiedete sich, und Frank führte ihn hinaus. Ich konnte ihn sagen hören:
»Hmm, darf ich nur fragen, welches Modell ist der Aston …?« Dann verstummte seine Stimme.
Ich wollte vor Scham tot umfallen! Es war so schlimm, dass Tränen in meinen Augen aufquollen. Zum Glück führte Libby es auf den Schmerz zurück. Sie setzte sich auf mein Bett, um meine Temperatur zu fühlen.
»Oh Kaz, es wird alles gut. Ich hole dir ein paar Schmerzmittel.« Ich erinnerte mich, dass Draven mir meine weggenommen hatte. Doch dann sah ich, wie Libby ein Fläschchen öffnete, das auf meinem Nachttisch stand. Das gleiche Fläschchen, das er genommen hatte. Er musste sie dort abgelegt haben, als er mich hingelegt hatte.
Libby ging ins Bad und kam mit einem Glas Wasser in der einen Hand und einem leeren Eimer in der anderen zurück. Ich hob eine Augenbraue, und sie sagte:
»Nur für den Fall.«
Ich trank das Wasser mit zwei Pillen. Eigenartig, sie sahen irgendwie anders aus, aber das Fläschchen war das gleiche wie sonst. Nun, das war die seltsamste Nacht meines Lebens, also warum sollte irgendetwas plötzlich Sinn ergeben?
»Ruh dich aus, aber weck mich auf, wenn du etwas brauchst oder es dir schlechter geht.« Sie küsste mich sanft auf die Stirn, ging hinaus und ließ mich mit den verwirrenden Bildern der heutigen Ereignisse zurück.
Nein, ich würde niemals einschlafen, dessen war ich mir sicher. Ich lag da und fragte mich, wie auf Erden ich jemals wieder Draven gegenübertreten konnte. Was würde er wohl denken? Und die Ironie des Ganzen: Wäre ich gegangen, als Karmun es vorgeschlagen hatte, wäre mir die Demütigung erspart geblieben. Dann driftete meine Fantasie zu den schöneren Momenten des heutigen Abends. Der Moment, in dem ich in seinen Armen lag, als er mich fest drückte. Als ob er mich beschützen wollte. War das nicht all die Demütigung der Welt wert?
Er wusste jetzt Dinge über mich. Wo ich lebte, mit wem ich lebte, und sogar wo ich schlief. Aber Sekunde mal … Wann hatte ich ihm all das erzählt? Ich hatte ihm keine Wegbeschreibung zu meinem Haus gegeben, aber er hatte gewusst, wo es sich befand. Ich hatte ihm den Namen meiner Schwester nicht verraten, doch er kannte ihn. Und vor allem: Woher hatte er gewusst, welches Zimmer meins war? Wie hätte er wissen können, dass ich im obersten Stockwerk wohnte? Das ergab keinen Sinn. Irgendetwas war anders an ihm.
Er war nicht wie jeder andere, und damit meinte ich … nicht menschlich.
Ich lachte über meine lächerlichen Gedanken. Was ging da bloß in meinem Kopf vor? Nicht menschlich? Ich brauchte Hilfe. Vielleicht hatte mich der Schlag auf den Kopf mehr beeinträchtigt als befürchtet. Wahrscheinlich hatte ich ihm alles erzählt, konnte mich aber nicht mehr daran erinnern. Oder – die plausibelste Erklärung: Er hatte sich meine Unterlagen angesehen. Ich erinnerte mich zwar nicht, jemals irgendwelche Formulare ausgefüllt zu haben, aber immerhin hatte ich diesen Job Frank zu verdanken, also vielleicht hatte er das für mich übernommen.
Ich trug immer noch meine Klamotten, also trat ich aus meinen Schuhen und wand mich aus meiner Hose. Ich war im Begriff, mein Top auszuziehen, als ich innehielt. Ich hob es zu meiner Nase und atmete es ein, erlaubte meinen Sinnen, sich am unwiderstehlichen Geruch seines Körpers zu ergötzen. Ich zog das Oberteil aus, rollte es aber unter meinen Kopf, damit ich mit nichts anderem als seinem Geruch in der Nase in den Schlaf sank.
Als ich am nächsten Tag aufwachte, wurde mir bewusst, dass ich die ganze Nacht durchgeschlafen hatte. Nur ein Traum hatte mich verfolgt. Ein perfekter Traum. Draven war wieder in meinem Zimmer gewesen. Ich fühlte die beruhigende Berührung seiner Hand an meiner Schläfe, als er mir die Haare nach hinten kämmte. Ich spürte, wie seine Lippen sanft über die Schwellung strichen. Dann verweilte sein Kuss dort, als ob er zu einer anderen Stelle auf meiner Haut reisen wollte.
Seine geballten Hände stützten sich an beiden Seiten meines Körpers ab, während er zärtliche Worte in mein Haar summte. Im Traum konnte ich nicht verstehen, was er sagte, da er eine andere Sprache benutzte, aber nur durch die Art und Weise, wie er sie aussprach, erkannte ich die tiefere Bedeutung. Er wollte mich beschützen.
Danach fand ich überraschenderweise wieder Schlaf, was mir aber nur gelang, weil Draven es mir mit seinen Worten befahl.
Ich spähte zu meinem Nachttisch und bemerkte eine Tasse kalten Tee, die wohl schon eine Weile dort stand. Ich schaute auf die Uhr. Wow, es war fast Nachmittag. Ich hatte nicht mehr so viel geschlafen seit meinem letzten Krankenhausaufenthalt. Zwei Sekunden reichten aus, um zu realisieren, dass ich mir die letzte Nacht nicht nur eingebildet hatte. Eine Mischung aus Lust und Schmerz breitete sich in meinem Verstand aus.
Ein leichtes Klopfen ertönte an der Tür, bevor sie geöffnet wurde.
»Hey Schätzchen, wie fühlst du dich heute?« Das freundliche Gesicht meiner Schwester erschien, und sie schlich herein.
»Besser. Ich werde wohl noch einen weiteren Tag voller Demütigung überleben, da bin ich mir sicher.« Sie lächelte, wirkte aber ein wenig zaghaft.
»Was ist los?« Oh Gott, was war sonst noch letzte Nacht schiefgelaufen?
»Du solltest dich besser anziehen. Der Arzt ist hier.« Was? Auf keinen Fall. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?
»Ach Libs, wieso hast du einen Arzt gerufen? Ich habe doch gesagt, mir geht’s …« Sie unterbrach mich, indem sie ihre Hände verteidigend hochhielt.
»Ich habe ihn nicht angerufen.«
»Was?«, stieß ich aus. »Wer dann?« Sie lächelte, offenbar sehr amüsiert.
»Er meinte, Mr Draven hätte ihn geschickt.« Oh nein, im Ernst? Das war kein grausamer Trick, sondern nur die grausame Realität. Wieso zum Teufel würde er das tun?
Libby verließ mein Zimmer und gönnte mir etwas Privatsphäre, um mich anzuziehen, aber ich war kaum bei der Sache. Mir war noch immer etwas schwummrig, und das lag nicht nur an dem riesigen Bluterguss, der auf meiner Stirn prangte. Ich stand auf und wackelte wie einer dieser aufblasbaren Clowns, die man zum Spaß schlagen durfte. Mein Gehirn war mit der einfachen Aufgabe überfordert, mich ins Badezimmer zu transportieren.
Als ich es irgendwie geschafft hatte, mich fertig zu machen, schnappte ich mir schwarze Sweatpants und zog ein frisches Paar graue Handschuhe sowie ein kastanienfarbenes Oberteil mit dem verblassten Fußballlogo von der alten Universitätsmannschaft meines Vaters an. Ich bürstete schnell meine Haare, verknotete sie zu einem Pferdeschwanz und trabte zurück zum Bett, um auf den Arzt zu warten, den ich nicht sehen wollte.
»Darf ich hereinkommen?«, fragte eine Stimme an der Tür. Ich willigte widerwillig ein.
Der Mann, der eintrat, war sicherlich bereits in seinen Fünfzigern. Eine merkwürdige Vertrautheit umgab ihn, die ich mir nicht erklären konnte. Seine freundlichen dunkelblauen Augen saßen tief. Er hatte einen kantigen Kiefer und ein fürsorgliches Lächeln, das ihn wie einen ganz netten Kerl aussehen ließ. Das entspannte mich etwas, doch ich blieb wachsam. Ich hatte mehr schlechte Erfahrungen als gute mit Ärzten gemacht und hielt mich in der Regel so weit von ihnen fern, wie ich nur konnte.
»Keira, nehme ich an. Schön, dich kennenzulernen, meine Liebe. Ich bin Doktor Spencer.« Er streckte seine Hand aus und lächelte mit einem Satz extrem weißer Zähne.
»Hallo. Auch nett, Sie kennenzulernen.« Okay, das war gelogen, aber was sollte ich sagen? ›Ich fürchte mich davor, also bitte, machen Sie schnell‹?
»Mr Draven hat mir mitgeteilt, du seist im Wald böse gestürzt und hättest letzte Nacht mit einigen unangenehmen Auswirkungen zu kämpfen gehabt.« Es war nicht wirklich eine Frage, und als ich nicht antwortete, kam er zum Bett, um mich zu untersuchen. Er trug eine schwarze Ledertasche, eine, die man von Ärzten kannte, und stellte sie neben dem Bett ab, als er sich neben mich hinsetzte.
»Darf ich?« Er nickte zu meinem Kopf, und ich zuckte mit den Achseln. Dann strich er meine Haare aus den Augen, so, wie Draven es getan hatte. Die Erinnerung ließ mich erschaudern.
»Entschuldige, meine Hände sind kalt. Wenn du deinen Kopf etwas nach hinten legen könntest, kann ich mir das genauer ansehen.« Ich folgte seiner Anweisung, als er um die Wunde herumstocherte. Dann nahm er eine kleine Taschenlampe, ein Stethoskop und das, was ich am meisten hasste – ein Blutdruckmessgerät.
»Das sieht nicht gut aus. Du hättest es im Krankenhaus nähen lassen sollen«, meinte er mit einem Kopfschütteln, als wäre ich ein ungehorsames Kind. Also sagte ich das Einzige, was mir zu meiner Verteidigung einfiel und zufällig auch der Wahrheit entsprach.
»Ich weiß, aber ich habe etwas gegen Krankenhäuser.« Seine Augen trafen mich mit einem seltsamen Blick von Empathie.
»Eine schlechte Erfahrung, nehme ich an?« Er verfolgte die Reaktion in meinen Pupillen mit der Taschenlampe.
»So was in der Art«, sagte ich, bevor er mir zu verstehen gab, mit den Augen seinem Finger zu folgen. Es war merkwürdig. Seine Augen brannten beinahe in mich hinein, und mich erfüllte das gleiche Gefühl, das mich umgab, wenn ich Draven nahe war. Waren sie verwandt? Ich konnte mir gut vorstellen, dass Draven im höheren Alter so aussehen könnte. Er war attraktiv für einen Mann seines Alters, wie Harrison Ford oder Robert Redford.
Er fragte mich nach meinen Symptomen letzter Nacht und meinem jetzigen Zustand.
»Ich fühle mich heute viel besser. Habe gut geschlafen«, sagte ich, in dem Wissen, dass er derjenige war, den ich überzeugen musste, um wieder zur Arbeit antreten zu dürfen. Mit gehobener Augenbraue fragte er:
»Hast du normalerweise Schlafprobleme?« Ha, was für eine Untertreibung!
»Ja, manchmal … Nun, ich meine in letzter Zeit.« Ich wünschte mir, er würde nicht nachhaken. Das war das Schlimmste bei Ärzten. Sie griffen alles auf und mussten immer tiefer graben. Und sie trafen in der Regel den Nagel auf den Kopf.
»Nimmst du dafür irgendwelche Medikamente?« Scheiße! Wenn ich diese Route einschlug, war es nicht schwer zu erraten, wo sie mich hinführen würde.
»Nein.« Er schielte mich an, als ob er die Lüge erkannt hätte und wiederholte sogar meine Antwort, was normalerweise ein klarer Hinweis dafür war, dass einem nicht geglaubt wurde.
»Nun gut, messen wir mal den Blutdruck.« Großartig. Das war in der Regel der Punkt, an dem alle dachten, ich wäre durchgeknallt!
»Wenn du bitte kurz deine Ärmel hochkrempeln könntest?« Er nahm die Schnalle, bereit, sie um meinen Arm zu ziehen. Ich blieb still, wusste nicht, was ich tun sollte. Er nickte zu meinem Ärmel, als ich nicht reagierte, also gab ich nach und rollte ihn über meinen Ellbogen. Er blickte mit in Falten gelegter Stirn auf die Handschuhe.
»Ist dir kalt?«
»Ich leide an schlechter Durchblutung, auch kalten Füßen. Ist es okay, wenn ich sie anbehalte?« Er schien nicht überzeugt zu sein und erwiderte daher:
»Es wird nicht lange dauern.« Und dann war er dabei, sie zurückzurollen, was mich dazu brachte, meinen Arm unter seinen Händen wegzuziehen.
»Hören Sie, tut mir leid, Doktor, aber ich mag es nicht, wenn man meine Arme berührt. Belassen wir es einfach dabei, okay?« Er nickte, sah aber traurig aus als ihm klar wurde, was ich kommunizieren wollte. Schließlich war er Arzt und ihm war diese Verhaltensweise sicher nicht fremd.
»Gut, messen wir an deinem Hals, ja?« Sein angespannter Kiefer entspannte sich erst, als er seinen Blick von meinen Armen nahm und ihn auf meinen Hals richtete.
»Ich schätze das sehr. Und ich gehe davon aus, dass das vertraulich bleibt?« Ich nickte zu meinen Armen. Ich war zumindest froh zu sehen, dass wir auf derselben Wellenlänge waren.
»Du meinst Mr Draven?« Er lächelte, doch mir war nicht ganz klar, warum. Ich nickte.
»Mr Draven ist nur besorgt und möchte wissen, wann du wieder arbeiten kannst. Alles andere wird diese vier Wände nicht verlassen.« Erleichtert stieß ich einen Seufzer aus.
»Danke.« Keine Ahnung, wieso, aber ich vertraute diesem Mann. Er gab mir ein paar Pillen, die gegen die Schwellung und die Schmerzen helfen sollten. Er versorgte die Wunde, nahm Libbys selbstgemachte Streifen ab und beklebte die Stelle mit medizinischem Pflaster. Den Schnitt ließ er unbedeckt. Ich bemerkte auch, dass er mich studierte. Seine Augen verharrten für einen Moment auf dem alten Pullover meines Vaters, bevor meine Stimme seine Aufmerksamkeit zurückzog.
»Also, heißt das, Sie teilen Mr Draven mit, dass ich wieder arbeitsfähig bin?«
»Ja, nach drei Tagen Ruhe und abhängig davon, ob du an weiteren Schwindelanfällen leidest.« Das war nicht das, was ich hören wollte.
»Ach, kommen Sie schon. Ich fühle mich gut, und ich will meinen Job nicht verlieren.« Vielleicht würde die Mitleidstour bei ihm ziehen, aber seinem selbstgefälligen Blick nach zu urteilen, hatte ich mich zu früh gefreut.
»Ich bezweifle sehr, dass es so weit kommen würde. Und wenn ich herausfinde, dass du meinen Anweisungen nicht Folge leistest, werde ich Mr Draven sagen, dass du eine Woche ausfällst.« Oh toll, ein Doktor mit einem Titel in Medizin und Manipulation.
»Okay, okay, drei Tage keine Arbeit.« Ich schüttelte meinen Kopf bei dem Gedanken, Draven bis dahin nicht zu sehen.
»Nicht nur Arbeit, auch kein College.« Ich zog ein mürrisches Gesicht, aber er kam mir wieder mit der ›Anweisung des Arztes‹-Geschichte und händigte mir eine Notiz für das Sekretariat am College aus.
»Das geht nicht. Sie kennen meinen Geschichtslehrer nicht! Man muss im Sterben liegen, um seinen Kurs sausen lassen zu können.« Er lachte, als ob ich scherzte.
»Ich werde mit Mr Draven sprechen. Ich weiß, dass seine Schwester denselben Kurs besucht. Ich bin mir sicher, sie kann mit ihm ein Wort wechseln.« Oh Gott, das war das Letzte, was ich wollte. Ich hatte Draven schon viel zu viele Umstände bereitet.
»Nein! Ich meine, nein danke, das wird nicht nötig sein. Ich glaube, ich habe Mr Draven mehr als genug Ärger bereitet, ohne ihn in noch mehr meiner Probleme hineinzuziehen.« Er wirkte irgendwie verletzt, was mich nur verwirrte.
»So denkt Mr Draven nicht. Ich kenne ihn schon sehr lange, und er hat sich immer um seine Mitarbeiter gekümmert.«
»Oh, daran habe ich keine Zweifel. Er war gestern Abend sehr zuvorkommend, und in Anbetracht der Tatsache, dass es erst meine zweite Schicht war, hat er genug für mich für den Rest meines Lebens getan. Ich möchte mein Glück nicht auf die Probe stellen.«
»Niemals genug.« Mein Kopf schleuderte in seine Richtung, als ich die kaum geflüsterten Worte hörte.
»Entschuldigung, haben Sie etwas gesagt?«
»Ich sagte, na gut. In diesem Fall werde ich mich auf den Weg machen, um ihm Bericht zu erstatten.« Er stand auf und streckte mir seine Hand wieder entgegen, um sie zu schütteln. Ich legte meine Hand in seine, und die Hitze, die von seiner Haut ausstrahlte, überraschte mich.
»Auf Wiedersehen, Keira. Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen. Bis zum nächsten Mal.« Er ließ meine Hand los, doch ich war völlig konfus. Warum bis zum nächsten Mal? Sehr seltsam, denn sind wir mal ehrlich – wann war ein Arztbesuch jemals etwas Gutes?
Sobald er außer Sichtweite war, fiel ich zurück aufs Bett, verdeckte mein Gesicht mit meinen Händen und sagte laut:
»Was muss er von mir halten?«
»Was muss wer von dir halten?« Libbys Stimme kam hinter meiner Tür her, als hätte sie nur darauf gewartet, dass der Arzt mein Zimmer verließ. Ich war nicht in der Stimmung, mit Libby darüber zu sprechen, also sagte ich:
»Sorry, Libs. Mein Kopf bringt mich um. Ich werde versuchen, noch ein paar Stunden zu schlafen. Können wir später reden?« Sie nickte und schloss die Tür.
Ich nahm die Pillen, die der Arzt mir gegeben hatte und zog die Decke über meinen Kopf, während kleine Tränen meine Augen füllten.
Tränen, die nur einer Ursache entspringen konnten …
Einem gebrochenen Herzen.