24
Ende der Gefangenschaft
A m nächsten Tag erwachte ich wieder nach einer traumlosen Nacht, aber ich war positiv gestimmt. Heute durfte ich endlich wieder zur Arbeit. Ich stand früher auf als nötig. Draußen war es immer noch dunkel und neblig. Nachdem ich mir einen dicken Pullover übergestreift hatte, setzte ich mich ans Fenster. Der Nebel füllte die Luft und bedeckte den Wald, als hätte er ein Eigenleben – dick genug, um ihn in den Händen zu halten.
Ich genoss die friedliche Aussicht, während ich meine Gedanken zu Draven schweifen ließ. Würde er mich ansprechen? Oder würde er sich wieder genauso geben wie vor dem Vorfall? Die Art, wie er sich in dieser Nacht verhalten hatte, war so uncharakteristisch für ihn. Es wäre wie ein Schlag ins Gesicht, wenn er mich wieder so behandeln würde, als gehörte ich nicht in seine Welt.
Der Gedanke schmerzte in meiner Brust, und ich schlang meine Arme um mich, als ob ich mich vor dem beschützen könnte, was mir heute bevorstand. Ich befand mich in einer Zwickmühle. In einem Kampf, den ich nicht gewinnen konnte, aber für einen Rückzieher war es bereits zu spät. Wenn ich einfach nur davonlaufen könnte, hätte ich vielleicht den Hauch einer Chance auf ein halbwegs normales Leben.
Aber mein Herz war jemandem verfallen. Hart verfallen. Einem Mann und seiner Welt.
Ich war aufbruchbereit, bevor ich die Hupe von RJs komischem kleinen Auto hörte. Heute war es bitterlich kalt, also trug ich meine Jeansjacke mit einem Kapuzenpullover darunter. Es schien, als hätte ich eine Ewigkeit auf diesen Tag gewartet, weshalb ich aufgeregt beim Fenster saß und ungeduldig auf RJ wartete.
»Gesegnet seist du, RJ«, sagte ich, als ihr Auto die Einfahrt hochfuhr. Ich rannte die Treppe runter und flog aus der Tür, noch bevor ihre Karre zum Stillstand gekommen war.
Sobald ich mich ins Auto setzte, wurde ich mit Fragen überflutet. Ich musste vorsichtig sein mit meinen Antworten. Ich wollte nicht zu viel verraten und ihr auf keinen Fall erzählen, was wirklich in dieser Nacht geschehen war. Sie flippte völlig aus, als ob ich ihr neues Idol wäre. Angeblich klingelte ihr Telefon nonstop, seitdem sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitet hatte, dass das neue Mädchen in der Stadt jetzt in der VIP-Lounge arbeitete.
Während wir den Campus überquerten, erzählte sie mir, dass die Leute sie regelrecht anflehten, mich ihnen vorzustellen. Als ich fragte, wieso, war ihre Antwort:
»Weil dieser Club das Highlight der Stadt ist und die Leute aus aller Welt anreisen, um ihn zu sehen. Und jedes Jahr versuchen sie alles, um einen Blick auf den Mann zu erhaschen, und jedes Jahr bekommen sie nur zwei Chancen – bei seiner Ankunft und bei seiner Abreise. Das ist das erste Jahr, indem sie sich nicht schon nach ein paar Wochen vertschüsst haben.«
»Wie lange, glaubst du, bleiben sie dieses Mal?«, fragte ich, als mich eine neue Angst durchbohrte. Erst jetzt wurde mir klar, dass ihr Aufenthalt mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht von Dauer war. Wie sollte meine Obsession ohne ihre Energiequelle überleben?
»Woher soll ich das wissen? Du arbeitest doch dort. Aber seine Schwester geht jetzt aufs College, also wer weiß? Wie auch immer, hier ist deine Chance, sie zu fragen.«
Ich lugte durch die Tür und sah Sophia bereits an unserem üblichen Platz, in einem perfekten Outfit. Es verblüffte mich immer, wenn ich sie ansah. Ihre Schönheit war atemberaubend, sodass mein Selbstbewusstsein jedes Mal in den Keller rasselte. Zum Glück war Reed noch nicht da, also blieb noch Zeit zum Plaudern.
Sobald ich das Klassenzimmer betrat, richteten sich alle Augen auf mich wie ein Bienenschwarm. Nur Sophia strahlte mich freundlich an. Seufzend schlurfte ich zu meinem Sitz.
»Hallo, Keira, wie fühlst du dich?«, fragte sie mitfühlend.
»Super, danke. Wie geht es dir?«
»Kann mich nicht beklagen. Dein Bluterguss ist schon fast verschwunden, sieht gut aus.« Genau die Art von Kompliment, die ich brauchte, denn Draven sollte mich nicht noch einmal so zusammengeschlagen sehen.
»Ja, Gott sei Dank. Den Rest kann ich unter meinen Haaren verstecken.« Ich zog an meinen Haaren, um meine Wange zu bedecken, und sie nickte. Ich bemerkte, dass mich der Junge hinter ihr anstarrte und mir gespannt lauschte. Er war irgendwie nicht er selbst. Ich erinnerte mich an ihn. Er war einer dieser Typen, die ihren Kopf gelangweilt nach unten hingen ließen und die Kapuze weit nach vorne zogen, um ihre Kopfhörer zu verstecken. Aber jetzt schien er voll wach zu sein, und etwas in seinen Augen war eigenartig. War er high? Hatte er ein Problem?
Sophia folgte meinem Blick. Als sie den Typ bemerkte, zog sie ein komisches Gesicht. Was auch immer es damit auf sich hatte, es zeigte Wirkung, denn er wandte sich ab, um nach vorne zu starren. Kannte er mich aus dem Club? Vielleicht war der Klatsch, den RJ zuvor erwähnt hatte, schon zu ihm durchgedrungen?
Reed stolzierte herein, gefolgt von einem Studenten, der einen Projektor hinterher zog. Ich seufzte erleichtert. Schien wohl ein Nachmittag frei von Reeds dröhnender Stimme zu werden.
»Heute geht es um das Verstehen von Beobachtung. Sie werden sich diese Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg ansehen und ein Essay über Ihre Interpretation der Ereignisse schreiben. Ich erwarte konstruktive Ansichten darüber, wie Sie über die Aspekte im Zusammenhang mit dem Ausbruch des Krieges denken.«
Die Klasse entspannte sich, als alle das Gleiche dachten. Ein Nachmittag frei von Diktator Reed! Schnell wurde jedoch klar, dass ich mich zu früh über den Frieden gefreut hatte, als Reed meinen Namen rief.
»Miss Johnson, auf ein Wort, wenn ich bitten darf.« Alle drehten sich um und gafften mich wieder an, als wäre ich ein Freak. Die Einzige, die nicht überrascht zu sein schien, war Sophia.
Ich richtete mich auf torkligen Beinen auf, und Hunderte Augen folgten meiner Bewegung. Vielleicht sollte ich sie am Ende der Stufen mit einer kleinen Tanzeinlage begeistern, um mich für ihre Bemühungen zu bedanken. Der Film hatte bereits begonnen. Zum Glück würden die Geräusche von Kampfflugzeugen und Kanonenschiffen unser Gespräch übertönen.
»Mir kam zu Ohren, dass Sie einen Unfall hatten?« Reed wirkte außergewöhnlich unbehaglich.
»Ja. Tut mir leid, dass ich ein paar Vorträge verpasst habe, aber der Arzt …« Er fiel mir abwinkend ins Wort.
»Jaja, ich weiß. Ich habe alles darüber gehört, aber nur weil Sie das Glück haben, in der Gunst des Dekans dieser Universität zu stehen und er mich gebeten hat, Sie gesondert zu behandeln …« Dieses Mal war ich diejenige, die ihn unterbrach.
»Entschuldigen Sie, aber ich weiß nicht, wovon Sie sprechen. Ich kenne den Dekan nicht.«
»Sparen Sie sich das, Miss Johnson. Ich weiß, dass Ihr Arbeitgeber der Wohltäter dieser Universität ist und Sie sein Liebling sind. Aber das bedeutet nicht, dass ich Ihnen einfach so Einser nachwerfen werde!« Ich war völlig fassungslos.
»Ich weiß nicht, woher Sie diese Information haben, Mr Reed, aber ich beabsichtige, in diesem Kurs hart zu arbeiten und möchte alle Noten fair und vor allem rechtmäßig erhalten. Mr Draven hatte nichts mit meiner Abwesenheit zu tun. Warum er es für eine gute Idee hielt, ohne mein Wissen mit dem Dekan über mich zu sprechen, ist mir schleierhaft. Wenn Sie mich also entschuldigen? Ich verpasse die Lektion, denn das ist der Grund, warum ich hier bin … um zu lernen!« Zornschnaubend stürmte ich zurück zu meinem Sitz. Unglaublich, dass Reed ernsthaft dachte, ich erwartete eine Sonderbehandlung. Der Gedanke, dass Draven das impliziert hatte, machte mich wütend. Wieso juckte ihn das überhaupt? Meine Frage fand ihre Antwort, als ich zu Sophia zurück zockelte und mich in den Sitz plumpsen ließ.
»Geht es dir gut? Hat er dich verärgert?«
»Alles großartig! Nein, eigentlich genau das Gegenteil. Ich würde gerne wissen, wieso dein Bruder beschlossen hat, mit dem Dekan über mich zu sprechen.«
Sie schielte über ihre Schulter auf den Jungen hinter ihr. Was zu Hölle hatte das mit ihm zu tun?
»Sophia?«, zischte ich durch zusammengebissene Zähne in dem Versuch, meine Lautstärke zu regulieren.
»Das ist meine Schuld. Ich habe Dominic gebeten, mit ihm zu sprechen, weil ich wusste, dass Reed dir die Hölle heiß machen würde, wenn du seine Vorträge verpasst. Scheint so, als hätte er es in den falschen Hals bekommen.«
»Tja, das ist etwas untertrieben. Er glaubt, ich erwarte Einser einfach so und würde ohne Weiteres bei jedem Kurs durchkommen! Reed war völlig außer sich.«
»Oh, okay. Ich werde das geradebiegen, aber ich bin mir sicher, dass mein Bruder nichts dergleichen verlangt hat. Der Dekan hat es wohl missverstanden.« Ich fühlte ein Stechen von Schuld. Ich zeterte wie ein kleines Kind, obwohl Sophia mir nur helfen wollte.
»Es tut mir leid. Ich schätze deine Hilfe, ehrlich. Ich will nur nicht, dass man mich anders behandelt, weil ich mit dir befreundet bin. Ich habe schon genug Gewissensbisse, dass dein Bruder keine Mühen scheut, mich zu unterstützen, aber das ist wirklich nicht nötig. Ich wette, er denkt, sein Leben war viel einfacher, bevor ich auf der Bildfläche erschienen bin.« Erniedrigt senkte ich meinen Kopf. Ich war wie ein Schädling. Ein Virus, der sich einnistete. Kein Wunder, dass er mir lieber aus dem Weg ging.
»Das bezweifle ich zutiefst.« Sie lachte. »Außerdem bin ich gerne in deiner Nähe, und mein Bruder hat nichts dagegen. Entspann dich einfach.« Sie pikste mir in den Arm und ich konnte nicht anders, als sie anzulächeln.
»Okay, aber keine Extrabehandlungen mehr. Von nun an bin ich nur eine gewöhnliche Freundin, die im Gegenzug nichts anderes als normale Freundschaft erwartet.«
Lachend sagte sie: »Normal also. Nun, in meinem Leben steht normal nicht gerade auf der Tagesordnung.«
»Keine Sorge, wir werden es langsam angehen. Das bedeutet nur, dass ich keine Gefallen erwarte. Ich werde auch so deine Freundin sein.«
»Nun, das klingt gut.« Ich bemerkte, dass sie nicht die Einzige war, die lächelte. Offensichtlich hatte der Junge hinter ihr auch etwas Amüsantes in unserem nicht so diskreten Gespräch gefunden.
»Also, was heute Abend betrifft … Denkst du, du packst das?«, fragte Sophia, als wir das Klassenzimmer verließen.
»Ja, solange nicht wieder etwas schiefgeht und ich es zumindest für eine Nacht schaffe, mich nicht zum Trottel zu machen, dann klar. Wird ein Kinderspiel.« Wir lachten beide, und der Junge, der hinter Sophia gesessen hatte, schenkte mir ein Augenzwinkern. Ich blinzelte ihn verdattert an. Keine Ahnung, was er damit bezweckte. Ich meine, wieso mir zuzwinkern, wenn Sophia neben mir stand? Das wäre so, als würde man ein Glas Perry einem Vintage-Champagner vorziehen.
Nachdem ich mich von Sophia verabschiedet hatte, machte ich mich auf den Weg, RJ zu treffen. Sie meinte vorhin, sie müsste noch ein Buch aus der Bibliothek holen, also vereinbarten wir als Treffpunkt ihr Auto. Als ich durch die Tür ging, zog ich meine Kapuze hoch und meinen Pullover etwas enger, um mich vor der Kälte zu schützen.
Gerade rechtzeitig, denn nur Sekunden später ließ der Himmel große Tropfen schweren Regens herab. Ich beschleunigte mein Tempo, obwohl es eigentlich sinnlos war, da ich mich nirgends unterstellen konnte. Der Junge von vorhin hatte sich seiner Gang angeschlossen. Seine Freunde sahen alle gleich aus. Jeans mit weiten Taschen und Kapuzenpullover mit Rap Star Logos. Ich wollte eine andere Route nehmen, aber ein großes Schlammloch war mir im Weg, also blieb mir nichts anderes übrig, als an ihnen vorbeizugehen. Ich hielt meinen Kopf nach unten, als ich hörte, wie der Typ über Reeds Kurs sprach.
»Ja Mann, es war komisch, ich stand völlig neben mir! Was hab ich mir da letzte Nacht reingezogen?« Irgendetwas wirkte anders an ihm, und als er meinen Blick traf, reagierte er nicht, als ob er mich nicht einmal erkannte. Hatte ich etwas missverstanden? Vielleicht war das Zwinkern für jemand anderen gedacht gewesen.
Der Regen wurde jetzt stärker und verwandelte sich schnell in einen laut trommelnden Regenguss. Das Wasser klatschte von meiner Kapuze auf meine Nase. Ich versuchte, die Tropfen abzuschütteln, als ich schneller werdende Schritte hinter mir hörte, als ob es jemand eilig hätte. Dann spürte ich eine Hand auf meiner Schulter und stieß einen erschrockenen Schrei aus.
»Hey Keira, ich bin‘s nur.« Jack stand vor mir und trug eine Baseballmütze, die den größten Teil seines Gesichts verdeckte, gemeinsam mit einer Kapuze, die er tief nach unten gezogen hatte.
»Oh, hey! Sorry, Jack, ich bin etwas schreckhaft.« Lächelnd hob er eine Hand zu meinem Gesicht und strich die Haare von meiner Stirn, die meine Beule verdeckten. Die Berührung brachte Hitze über meine Wangen, und eine Seite seines Mundes verzog sich zu einem Lächeln, als er davon Notiz nahm.
»Sieht doch schon ganz gut aus.« Er hängte seinen Arm in meinen ein und sagte:
»Sehen wir zu, dass wir uns irgendwo unterstellen können. Du erfrierst sonst noch in dieser Jacke.« Er hatte recht. Heute war der falsche Tag, um eine nicht wasserdichte Jeansjacke zu tragen. Er führte mich zu den Bäumen, nahe dem Platz, wo RJ geparkt hatte, und wir drängten uns unter einen großen überhängenden Ast, der als schützender Baldachin fungierte.
»Wegen letzter Nacht … Tut mir leid, dass ich mich so verhalten habe. Ich war ein bisschen ein Arsch.«
»Nur ein bisschen?« Ich zwickte spielerisch seinen Arm.
»Oh, so läuft der Hase also, ja?« Sein langer Arm erstreckte sich über meinen Kopf und er ergriff den Ast, als ob er ihn schütteln wollte.
»Oh nein, wag es ja nicht!« Ich versuchte, seinen Arm zu packen, bevor ich noch die volle Ladung abbekam, aber das Ganze ging nach hinten los. Ich verlor meinen Halt und fiel in seine Arme, wodurch er den Baum auch so zum Schütteln brachte und uns beide beinahe ertränkte. Wir kicherten wie Teenager, und sein anderer Arm schlang sich um meine Taille. Mit geneigtem Kopf und einer tiefen, schwelenden Stimme sagte er:
»Weißt du eigentlich, wie süß du so ganz nass aussiehst?« Ich tat einen Schritt zurück und schob ihn am Bauch sanft weg.
»Hör auf, mich zu veralbern, sonst werde ich mich rächen«, warnte ich, doch egal wie sehr ich versuchte, ernst zu bleiben, mein Lächeln kam durch.
»Und wie sieht dieser Rachefeldzug genau aus, hm?« Er trat einen Schritt näher.
»Ich hetze RJ auf dich.« Sein Gesicht veränderte sich, und ich fuhr fort:
»Ha, erwischt! Ich weiß, sie kann dir in den Arsch treten!« Er hielt seine Hände hoch, um sie dann dramatisch auf sein Herz zu legen, als ob ihn meine Worte tief getroffen hätten. Ich kicherte, als er antwortete:
»Das ist eiskalt. Ich meine, das tut weh, Keira. Wie kannst du so gemein sein?« Er versuchte so zu wirken, als würde er gleich losheulen, konnte sich aber genauso wenig zurückhalten wie ich, bevor wir beide in Gelächter ausbrachen.
»Was habe ich verpasst?« RJs pinkfarbener Kopf kam in Sicht, als sie einen Regenschirm zur Seite zog.
»Wie es scheint, ist Keira der Ansicht, dass du mir in den Arsch treten kannst und findet diesen herzlosen Gedanken auch noch lustig.«
»Tja, ich kann es ohne Weiteres mit dir aufnehmen. Aber das weiß doch jeder, Bro.« Dann stürzte er sich auf sie, als sie es am wenigsten erwartete, und sie ließ den Regenschirm fallen. Er nahm sie in den Schwitzkasten und rieb seine Fingerknöchel an ihrem Kopf.
»Sag es!«, befahl er.
»Niemals!«, rief sie zurück, während sie krümmend versuchte, sich zu befreien.
»Sag die Worte, Little Pink!«
»Du bist ein Homo!«, schrie sie.
»Nun, das ist homophob, RJ, und nicht nett. Du musst nur die Worte aussprechen und ich lasse dich los.«
»Okay, okay, ALLMÄCHTIGER, unglaublich starker Bruder, der mir immer in den Hintern treten kann. Jetzt zufrieden, Jack-ass?«
»Du hast schon mal besser um Gnade gewinselt, aber das wird es auch tun.« Gleich nachdem er sie losgelassen hatte, schwang sie herum und boxte ihn in den Magen. Es war wie eine Punch and Judy-Show am Strand. Der Regen hatte etwas nachgelassen und wir konnten uns gemütlich auf den Weg zum Auto machen, ohne ein weiteres Mal durchnässt zu werden.
Sobald ich zu Hause war, begann ich mit meinen Hausaufgaben für Reed. Jetzt war ich noch motivierter, ihm zu beweisen, dass ich keine Gefallen von irgendwem nötig hatte, um seinen Kurs zu bestehen. Ganz egal, wer mein Boss war!
Zwar hatte ich mir im Unterricht Notizen gemacht, aber es verschaffte mir einen Vorteil, dass ich die Dokumentation schon zuvor einmal auf Discovery Channel gesehen hatte. Und kurze Zeit später war mein Essay fertig.
Ein Blick auf meine Uhr sagte mir, dass mir noch genügend Zeit blieb, mich fertig zu machen. Ich untersuchte mich im Spiegel. Zum Glück hatte mein Haar den Großteil des Regens heil überstanden, mit der Ausnahme von ein paar lockigen Strähnen. Meine Haare hatten die Angewohnheit, im nassen Zustand extrem wellig zu werden, und wenn ich sie nicht auf der Stelle ausbürstete, dann blieben sie auch so.
Ich fuhr einmal schnell mit einem Haartrockner drüber, bevor ich sie nochmals aus meinem Gesicht strich und nach oben steckte. Doch egal, wie oft ich die Haarspange repositionierte, ein paar kringelige Strähnen entkamen immer.
Irgendwann gab ich auf und zog nur noch ein paar über meine Stirn, um die jetzt grünlich-gelbe Beule und den kleinen Schnitt, der hoffentlich keine Narbe hinterlassen würde, zu verdecken. Ich zog meine reguläre Arbeitskleidung an, bestehend aus einer schwarzen Hose, einem langärmeligen schwarzen Oberteil und dazu passenden schwarzen fingerlosen Handschuhen.
Als ich die VIP-Lounge betrat, beschloss ich, das Unvermeidliche zu verzögern und sauste zwischen den anderen Tischen hindurch. Jetzt kannte ich den Weg und wusste, wie ich zur Bar kam, ohne am oberen Tisch vorbei zu müssen. Okay, ich war vielleicht ein jämmerlicher Angsthase, aber ich war noch nicht bereit, mit seinem Gesicht konfrontiert zu werden.
Die anderen Kellnerinnen sahen mich an, aber die Einzige, die winkte, war Rue. Es verblüffte mich noch immer, dass sie wusste, dass ich es war. Immerhin war sie blind. Lag es vielleicht an meinem Geruch? Aber heute hatte ich einen Spritzer von Libbys Parfüm genommen, was ich sonst nie tat.
Einmal an den Tischen mit den unheimlicheren Leuten vorbei, ging ich auf Karmun zu. Ich fragte mich, ob er sich jemals einen Tag freinahm.
»Da ist sie ja. Zurück, um sich durch eine weitere Schicht zu kämpfen. Wie steht‘s mit der Kokosnuss?« Er zeigte auf seinen Kopf, als brauchte ich einen Hinweis.
»Ist keine, aus der man einen Cocktail mixen kann.« Ich zwinkerte ihm zu, und er lachte. »Aber im Ernst, ich bin fit und gesund und bereit, die Arbeit anzugehen.«
Schnell war ich wieder voll im Schwung, und jeder fragte mich, ob ich mich schon besser fühlte. Abgesehen von denen, die nicht zu meinen Tischen gehörten und natürlich auch Draven.
Wie gewohnt saß er an seinem Tisch, umgeben von seinem üblichen Gefolge. Zu seiner Linken saß seine Schwester, rechts von ihm sein Bruder. Ich hatte seinen Bruder nie näher betrachtet, da Draven immer meine ganze Aufmerksamkeit monopolisierte. Sein Bruder war sehr hübsch, was mich nicht im Geringsten überraschte. Ihr Genpool kam offensichtlich aus einer genialen DNA-Mischung.
Seine Augen waren eine Kombination von Sophias und ein klein wenig von seinem Bruder. Im Gegensatz zu seinen Geschwistern war er blond. Sein goldfarbenes, kurz geschnittenes Haar formte wunderschöne enge Locken, die ihm ein atemberaubendes, engelhaftes Aussehen verliehen.
Nur seine Augen erzählten eine andere Geschichte. Sie wirkten kalt und herzlos. Sein Ausdruck war gelangweilt, fast schon angewidert, als er von der Person neben ihm angesprochen wurde. Allein der Blick, den er dieser Person zuwarf, ließ mich erschaudern. Er war etwas schlanker gebaut als sein Bruder, wirkte aber noch immer stark und mächtig. Auch hatte es den Anschein, als wäre er jünger mit seiner weicheren Haut und einem Kinn, das nicht so kantig war wie das von Draven. Er trug zwar auch einen Anzug, aber ohne Krawatte oder Gilet. Sein Look ging eher in Richtung lässig-elegant, während Dravens ganz klar zeigte, dass er hier das Sagen hatte.
Sophia strahlte wie immer in einem schwarzen Kleid, das die Schultern überkreuzte und nach unten hin einen Bleistiftrock um ihre perfekten Beine formte.
Die anderen Leute um den Tisch herum waren bunt gemischt. Eine davon war eine schöne junge Frau mit flammend rotem Haar, das mich an Libbys erinnerte, nur war sie sehr groß und athletisch. Ein langer Schwanenhals hielt ihren Kopf, der von erstaunlichen Augen besetzt war – braun wie dunkle Schokolade. Ihre Haut hatte offenbar schon reichlich Sonne gesehen, und ihr goldener Farbton kam mit Hilfe des roten Hosenanzugs, den sie trug, noch mehr zur Geltung. Eine Flut von Eifersucht überkam mich, als ob mich gerade eine Schlange gebissen hätte, deren Gift sich einen Weg durch meinen Blutkreislauf bahnte. Das war das Leben, das ich niemals haben würde, also warum zerbrach ich mir überhaupt den Kopf darüber?
Ich zog meine Augen weg von ihrer Perfektion zu den anderen. Ein Japaner saß ebenfalls am Tisch, der eine lange schwarz-rote Robe über einem Paar schwarzer Hosen trug. Das Material war bestickt mit doppelt eingekreisten Symbolen, die ein schönes Muster schufen. Unter seinen langen Ärmeln hielt er seine Hände zusammen. Er wirkte zufrieden, zwar nicht lächelnd, aber auch nicht so finster blickend wie die anderen. Weiterhin zählte ich noch einen Mann und eine Frau, aber sie befanden sich beide außerhalb meines Sichtfeldes, sodass ich keine Details erkennen konnte.
Die nächsten Stunden verliefen ohne Zwischenfälle und vor allem ohne Zusammenstöße mit Draven. Auf meinen Tischen befanden sich keine leeren Gläse mehr, und ich servierte gerade den letzten, bevor meine Schicht zu Ende war. Wie schon beim letzten Mal war die Zeit rasend schnell vergangen. Ich dachte, Karmun scherzte, als er meinte, ich könnte in fünfzehn Minuten Schluss machen. Ich ging zur Bar, um mein letztes Tablett mit Getränken zu holen, als die blonde Kellnerin, Layla, mich anrempelte und fauchte:
»AUS DEM WEG!« Sie fixierte mich mit einem mörderischen Blick, und ich hätte schwören können, dass ihren gefletschten Zähnen ein Zischen entkommen war. Sie packte ihr Tablett, warf ihre Haare nach hinten und flanierte zurück zum obersten Tisch.
»Wow, was hat sie für ein Problem?«
»Du meinst wohl eher, was für ein Problem hat sie nicht? Das wäre eine kürzere Liste.«
Ich lachte über Karmun, der offensichtlich genauso begeistert von ihr war wie ich.
Ich nahm mein Tablett, doch bevor ich damit abzischen konnte, ergriff Karmun meine Hand und sprach die Worte, die meine Brust augenblicklich verschnürten.
»Mr Draven möchte, dass du ihn auf dem Balkon triffst, bevor du gehst.« Nur ein Gedanke raste in meinem Kopf …
Oh verflucht!