26
Zickenkrieg
I ch schrie auf, als mir der Schmerz durch den Nacken schoss und fiel fast aus dem Bett. Es dauerte ein paar Minuten, bis mir klar wurde, was geschehen war. Ich befand mich wieder in meinem Zimmer, aber wie war ich hierhergekommen? Ich rieb meinen Hals, wo ich den leichten, stechenden Schmerz spürte, als hätte mich etwas gebissen. Ich schaltete das Licht ein und sah mich im Zimmer um, fand aber keinen Hinweis darauf, dass etwas vorgefallen war.
Musste wohl ein Traum gewesen sein. Ein Traum, der sich wieder einmal viel zu real angefühlt hatte. Der realste von allen. Ich konnte Draven auf meiner Haut riechen, und meine Taille war noch warm von seiner Berührung. Ich stand auf und stapfte ins Badezimmer. Vor dem Spiegel streckte ich meinen Hals. Eine kleine Beule mit einem winzig roten Punkt in der Mitte befand sich darauf. Ich rieb sie mit meinem Daumen, versuchte zu verstehen, was ich gerade erlebt hatte, doch das Ganze blieb ein Mysterium.
Der nächste Tag verstrich, als wäre ich eine Drohne, die von einem anderen Teil in mir kontrolliert wurde. Der Teil, der sich anpassen musste. Ich antwortete, wenn Leute mit mir sprachen, mit dem richtigen Ja und Kopfnicken, aber alles war verkehrt. Als ob das mein Traum wäre und letzte Nacht die Realität. Den ganzen Tag fummelte ich an dem roten Punkt auf meinem Hals.
Auf dem Weg zum College hatte Jack mich ein paar Mal gefragt, ob alles in Ordnung sei. Ich hatte ihm geantwortet, als würde ich auf Autopilot laufen. In den Geschichtskurs schlurfte ich wie ein Geist. Man flüsterte hinter meinem Rücken, aber an diesem Tag fehlte mir einfach die Energie, mir etwas daraus zu machen.
Als ich neben Sophia in den Sitz plumpste, sah sie mich mit einem besorgten Stirnrunzeln an.
»Keira, geht es dir gut? Du bist sehr blass und siehst extrem müde aus. Hast du schlecht geschlafen?« Aus irgendeinem Grund explodierte ich in lautes Gelächter. Sie beäugte mich, als hätte ich völlig den Verstand verloren. Vielleicht lag sie da nicht so falsch.
»Tut mir leid, das war unhöflich. Ehrlich gesagt hab ich keine Ahnung, ob ich letzte Nacht überhaupt geschlafen habe.«
»Was meinst du, du hast keine Ahnung?« Jetzt wirkte sie nicht mehr nur besorgt, sondern regelrecht beunruhigt. Dann bemerkte sie die rote Markierung an meinem Hals, und sie schüttelte ihren Kopf. Wahrscheinlich dachte sie, ich hätte mir Drogen in den Hals gespritzt. Eine völlig verrückte, mit Drogen vollgepumpte Keira!
»Egal, ich hatte entweder einen schlechten oder einen guten Traum, ich kann es nicht sagen. Aber alles okay, keine Sorge.« Sie blieb skeptisch, ließ das Thema aber fallen, als Reed den Raum betrat.
Am Ende des Vortrags fragte mich Sophia, ob ich eine Mitfahrgelegenheit nach Hause bräuchte, da RJ heute nicht hier war.
»Danke, aber nicht nötig. Jack hat mich heute Morgen abgeholt.«
»Oh, Jack. Der Nicht-Freund-der-es-aber-sein-will-Jack?« Sie warf einem vorbeigehenden Studenten einen finsteren Blick zu, der ihr einen noch finstereren zurückwarf. Vielleicht jemand, den sie kannte.
»Ähm, ja. Ich meine, er ist nur ein Freund.«
»Du brauchst wirklich ein Auto, oder? Sicher willst du nicht die ganze Zeit von den anderen abhängig sein«, meinte sie, als wir uns auf den Weg nach draußen machten.
»Ja, aber leider brauche ich noch ein paar Gehaltsschecks, bevor das passiert. Außerdem hab ich ja einen guten Job, also wird es nicht so lange dauern.« Sie grinste, als wäre mir wieder einmal etwas Wichtiges entgangen. Sie murmelte noch etwas wie ›Wir werden sehen‹ und winkte mir zu, als sie in das riesige schwarze Biest eines Range Rovers stieg. Saß Draven da drin? Ich senkte meinen Kopf, als Erinnerungen von letzter Nacht in mir hochkamen.
Auf der Fahrt nach Hause fühlte ich mich wieder halbwegs normal, und Jack schien glücklich darüber zu sein. Er fragte, ob ich heute Abend arbeitete, und als ich bejahte, war es offensichtlich nicht die Antwort, die er sich erhofft hatte.
Bei der Arbeit blieb ich ungewöhnlich ruhig und reagierte wenig auf mein Umfeld. Die Stunden verstrichen wie Minuten. Draven kam nicht auf mich zu, und zum ersten Mal war ich froh darüber. Ein neues Gefühl breitete sich in mir aus. Ein Gefühl, das ich nicht zeigen wollte. Ich hatte jetzt ein wenig Angst vor ihm. Vielleicht eine dumme Reaktion, aber ich konnte mir nicht helfen. Gestern Nacht in meinem Traum war er so mächtig und befehlshabend gewesen, dass ich mich klein, machtlos und schwach gefühlt hatte.
Als ich nach meiner Schicht an seinem Tisch vorbeiging, fanden seine Augen meine, aber ich beugte meinen Kopf in einer Geste, die von meiner Enttäuschung sprach. Natürlich hegte ich noch immer starke Gefühle für ihn, wenn nicht sogar stärkere als zuvor, aber ich wusste nicht, ob mein Herz und mein Verstand noch mehr hinnehmen konnten. Ich fühlte mich nicht mehr wie ich selbst. Irgendwo auf dem Weg hatte ich die Kontrolle über meine Gedanken verloren, angefangen an dem Tag, an dem ich Draven zum ersten Mal begegnet war.
Draußen wartete ich auf Frank und setzte mich auf den Boden außer Sichtweite der Türsteher. Die Kälte der Steinwand hinter mir sickerte durch meine Kleidung, aber ich ignorierte sie. Ich musste wieder einen klaren Kopf bekommen. Ich musste die Kontrolle über meine eigenen Gedanken wiedererlangen, und wichtiger noch, die Kontrolle über meine eigenen Handlungen. Dieser Traum war anders gewesen. Er ratterte in meinem Kopf hin und her, doch letzten Endes ging es nur um eine Sache. Um meine eigenen Worte.
Ich war zerbrochen …
Ich konnte nicht ›geflickt‹ werden, wie er es nannte. Es gab keine Hoffnung, und ich konnte nichts dagegen tun, also war es an der Zeit, das zu akzeptieren. Sicherlich konnte ich dann wieder nach vorn blicken, oder nicht? Tränen liefen über meine Wangen, und schon nach kurzer Zeit waren sie mit salzigem Wasser verschmiert. Wütend wischte ich sie mit dem Handrücken weg.
»Reiß dich am Riemen, Keira«, sagte ich laut. Frank würde bald hier sein, und ich wollte nicht, dass er mich so sah. Ich konnte schon immer gut meine Gefühle verstecken. Zum Teufel, ich war ein Profi darin. Ich mochte vielleicht eine schlechte Lügnerin sein, aber wenn es um meine Befindlichkeit ging, darin hatte ich so viel Übung, dass ich einen Oscar für meine schauspielerische Leistung verdient hätte.
Als Frank auftauchte, zog ich meine übliche Nummer ab, ihn nach einem Spiel zu fragen, von dem ich wusste, dass er es kürzlich gesehen hatte. Das brachte mich durch den ganzen Weg nach Hause mit ein paar Mal Nicken und gelegentlichen ›Hmms‹ und ›Ahs‹.
In dieser Nacht weinte ich mich in den Schlaf.
Nach einer traumlosen Nacht fühlte ich mich am nächsten Tag schon besser, was mich zum Nachdenken brachte. Meine Träume waren so außer Kontrolle geraten, dass ich darunter regelrecht litt. Ich musste etwas dagegen zu tun. Obwohl sich alles in mir dagegen sträubte, entschied ich, einen Termin mit einem Therapeuten zu vereinbaren, um ein Rezept für Schlafmittel zu bekommen. Wenn ich diese Besessenheit bekämpfen wollte, mussten die Träume aufhören!
Ich krallte mich an dieser Einstellung den ganzen Tag fest, während ich Libby bei der Hausarbeit half und wir zusammen einen Kuchen backten. ›Wir‹ im lockeren Sinne des Wortes, denn eigentlich war ich diejenige, die mit Backen beschäftigt war, während Libby mir Gesellschaft leistete.
Natürlich verlor ich die Fassung, als Libby mich fragte, was ich da an meinem Hals hatte. Was dazu führte, dass mir das Messer entglitt und beinahe meine Zehen abschnitt.
»Mückenstich.« Ich tat so, als wäre es völlig harmlos, wo es doch das genaue Gegenteil war.
Die folgenden zwei Stunden vor meiner nächsten Schicht verbrachte ich damit, mich davon zu überzeugen, dass ich nur eine Kellnerin war und diese Krankheit aus dem Kopf bekommen musste, bevor sie zu einem ernsthaften Problem wurde. Denn das war Draven für mich.
Ein Problem.
Klar, dass die ganze schwer erkämpfte Logik aus meinem Kopf verflog, sobald ich zum ersten Mal in dieser Schicht an seinem Tisch vorbeiging. Als hätte jemand meinen Besessenheitsschalter umgelegt. Wieso war ich nicht stark genug, ihm zu widerstehen? Verdammt! Nach allem was ich durchgemacht hatte, was ich geschafft hatte, konnte ich das nicht?
Mein Verstand und mein Herz wollten einfach nicht kooperieren. Sie rebellierten ständig und beeinträchtigten meine Konzentration. Ich machte immer wieder Fehler, brachte Bestellungen zu den falschen Tischen, stieß gegen die anderen Kellnerinnen. Schließlich bat ich Karmun um eine Fünf-Minuten-Pause, und er warf mir eine Flasche Wasser zu.
Draußen setzte ich die Flasche an meine Lippen und trank sie beinahe leer, doch irgendwie konnte ich meinen Durst nicht stillen, als würde Stacheldraht in meinem Hals stecken. Ich brauchte Schmerz. Etwas, das mich zurück auf die Erde brachte, von der ich kein Teil mehr zu sein schien. Wut floss durch meine Adern und bäumte sich auf, bis ich sie nicht mehr zähmen konnte. Ich schlug so hart gegen einen der Bäume, dass seine Blätter zitterten. Ich schlug ihn mit all der Kraft, die ich aufbringen konnte und ignorierte die spitzen Zweige, die meine Knöchel aufschürften.
Sie bluteten nicht, aber mein Wutausbruch hatte eindeutig seine Spuren auf meiner Haut hinterlassen. Ich hatte mein Ziel erreicht. Jetzt war ich voll wach. Ich spürte nichts, außer dem Schmerz. Ja, nicht meine beste Idee, aber es hatte funktioniert. Also ging ich zurück an die Arbeit.
Ich war wieder voll bei der Sache. Ich schwirrte herum, räumte meine Tische ab und stellte neue Getränke hin, als hätte ich zehn Tassen Espresso intus. Das Pochen in meiner Hand erhöhte meine Konzentration, und ich zog meinen Handschuh über meine Knöchel, um die roten Kratzer zu verbergen.
Schon bald war meine Schicht zu Ende, und ich verabschiedete mich von Karmun.
Und dann passierte es. Es war wie auf einer Achterbahn mit permanenten Höhen und Tiefen. Okay, im Moment nur Tiefen, aber in Anbetracht meiner schlechten Stimmung überraschte mich das nicht.
Ich drehte mich zu schnell um und krachte in die Blondine. Layla. Das leere Tablett fiel ihr aus den Händen. Sie blickte hinab, wo es auf dem Boden gelandet war, dann hoch zu mir, mit tödlichen Augen.
Mit hochgehaltenen Händen sagte ich:
»Das tut mir wirklich leid.« Aber das reichte ihr natürlich nicht, also wich ich ein paar Schritte zurück.
»Wohin so eilig, Ungeziefer?«, zischte sie mich an. Ich fragte mich, wieso sie mich so sehr hasste.
»Was hast du gesagt?« Ich war empört.
»Du hast schon verstanden, du Parasit!« Ihre Lippen krümmten sich zu einem sadistischen Grinsen.
»Layla, lass das!« Karmun griff ein, in dem Versuch, die Situation zu entschärfen.
»Halt dich da raus, Kokabiel!«, fauchte sie zurück.
Keine Ahnung, was sie ihn genannt hatte, aber es zeigte wohl eine Wirkung. Ernüchtert wuselte er zum anderen Ende der Bar und ließ mich allein mit dieser Verrückten, die anscheinend noch weniger Tassen im Schrank hatte als ich. Sie sah auf das Tablett am Boden und blaffte: »Heb es auf!«
Ihre Worte glitten durch blutrote Lippen, und es hätte mich nicht überrascht, wenn eine gespaltene Schlangenzunge aus ihrem dreckigen Mund gekrochen wäre.
»Nein.« Ich verschränkte meine Arme. Heute Nacht würde ich mich nicht kleinkriegen lassen.
»Heb es jetzt auf!« Ihre Augen leuchteten, rot und blutunterlaufen.
»Ich sagte NEIN!« Ich kehrte ihr den Rücken zu, aber sie packte meinen Arm und grub ihre langen Fingernägel tief in meine Haut. Der Schmerz brachte meine Augen zum Tränen, aber ich ließ mich immer noch nicht dazu herab, das Tablett aufzuheben.
»Tu es. Ich weiß, das tut höllisch weh.« Sie grinste höhnisch und voller Schadenfreude. Ich versuchte mich zu befreien, aber sie drehte ihre Nägel in mein Fleisch, bis sie sich durch die Haut bohrten. Ich stöhnte vor Schmerz, schaffte es aber zu sagen:
»Ich habe mehr Schmerzen in meinem Leben erfahren als so einen winzigen Kratzer. Jetzt. Lass. Mich. Los!« Ich wusste, es war zwecklos. Der stechende Schmerz war kaum mehr zu ertragen. Blutstropfen durchnässten bereits meinen Handschuh. Meine andere Hand ballte sich zur Faust, als ich mich für den Schlag bereit machte.
Ich sah sie finster an. Ich würde ihr nicht die Genugtuung geben, vor ihr zu kauern. Doch plötzlich ließ sie meine Hand los, und ihr Gesicht versteinerte sich.
»Gibt es ein Problem, Layla?« Dravens starke, autoritäre Stimme dröhnte hinter mir.
»N… Nein, mein Lord.« Sie neigte respektvoll ihren Kopf. Man konnte die Abdrücke auf meinen Handschuhen sehen, wo ihre Nägel durch das Material gedrungen waren, und ich rieb meinen Arm. Verdammt, ein weiteres Paar Handschuhe ruiniert.
»Keira, möchtest du dem etwas hinzufügen?« Ich wandte mich ihm zu. Ich konnte spüren, wie unzählige Emotionen über mein Gesicht glitten. Mein Zorn glühte noch wie heiße Kohlen.
»Nein. Sie hat ihr Tablett fallen lassen und das war‘s.« Ich wollte keine große Sache daraus machen. Layla sah mich schockiert an, offensichtlich verwundert, wieso ich sie nicht verpetzte. Das war aber nicht nötig, da er keineswegs überzeugt zu sein schien. Er wandte sich ihr zu.
»Zurück an die Arbeit, Lahash. Eu vou tratar con vostede máis tarde!« (»Dich werde ich mir später vorknöpfen!«, auf Gälisch) Er sprach die Worte fließend, aber ich hatte keine Ahnung, was er gesagt oder welche Sprache er benutzt hatte.
Sie schien es aber verstanden zu haben, da sie verängstigt zurückschreckte. Ich hatte beinahe Mitleid mit ihr. Draven war kein Mann, den man zum Feind haben wollte. Sie war im Begriff zu gehen, als sie ihr Gesicht vor ihm senkte, als wäre er eine Art Sultan. Und was hatte es mit diesem ›Mein Lord‹ auf sich?
Er zeigte mit einem Finger auf den Boden zum Tablett.
»Heb es auf!« Dieses Mal tat sie es ohne Zögern. Ich konnte es ihr nicht verübeln. Verglichen mit Draven ähnelte ihr Zorn dem eines Kätzchens neben dem eines gefährlichen Säbelzahntigers.
Sobald sie verschwunden war, zog er mich zur Seite und packte meinen Arm. Es war die Hand, mit der ich vorhin den Baum verprügelt hatte, also sah es nicht gut aus für mich. Ich zischte durch meine Zähne, als er Druck auf die Wunde ausübte. Er fragte nicht, was passiert war, sondern hob einfach meinen Arm, um ihn zu untersuchen. Ich zog ihn jedoch weg und sagte: »Es ist nichts«, während ich meine Hand hinter meinem Rücken hielt.
Draven sah wütend aus. Sein Gesichtsausdruck machte mir Angst. Ich schluckte hart in dem verzweifelten Versuch, meine Angst mit Tapferkeit zu maskieren. Er drehte den Kopf in die Richtung, in die Layla verschwunden war, knirschte mit den Zähnen und fauchte:
»Kelba!« (»Miststück!«, auf Maltesisch) Wieder verstand ich nur Bahnhof. Ich wollte mich aus dem Staub machen, aber seine große Gestalt blockierte mir den Weg. Ich hatte ihn noch nie zuvor so außer sich gesehen und könnte schwören, dass seine Augen für einen Moment violett aufflackerten.
»Ich gehe jetzt besser.« Ich unternahm einen weiteren Fluchtversuch, aber er rührte sich nicht vom Fleck.
»Warte«, sagte er in einem weicheren Ton, als hätten ihn meine Worte aus seiner blinden Wut gezerrt.
»Lass mich deinen Arm sehen.« Als ich mich nicht bewegte, sah er auf mich herab, doch ich zeigte meinen Trotz durch einen düsteren Blick. Langsam hatte ich genug davon, dass mich Leute herumkommandierten!
»Ich sagte, es ist nichts, und wenn ich jetzt nicht gehe, komme ich zu spät zu Frank.« Ich beendete meine Rede mit einem tiefen Atemzug, der aber nicht so stabil klang wie ich gehofft hatte.
»Er kann warten.« Es wäre klug gewesen, ihm einfach zu gehorchen, aber alles in mir sträubte sich dagegen, also antwortete ich mit Nachdruck:
»Aber ich nicht. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen, Sir.« Damit kehrte ich ihm den Rücken zu und stürmte in Richtung Treppe. Nur ging mein Plan leider nicht auf, denn als ich dort ankam, stoppten mich zwei von Dravens riesigen Türstehern. Doch mein Blut, das noch immer vor Demütigung kochte, verdampfte meine Tapferkeit nicht.
»Entschuldigen Sie bitte«, zischte ich durch meine Zähne. Sie blickten zu ihrem Gebieter, und ich drehte mich ebenfalls zu ihm um. Seine Augen brannten sich in meine. Tatsächlich blieb sein Blick länger auf mir als je zuvor. Ich war kurz davor, klein beizugeben, als er seinen Blick abwandte und seinen Männern zunickte.
Sie traten zur Seite, um mir Durchlass zu gewähren, aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich nur für den Augenblick ungeschoren davonkommen würde. Ich eilte die Stufen runter und aus dem Gebäude hinaus, das sich anfühlte, als würde es meine Seele verschlingen. Ich spürte seine Augen auf mir, bis ich durch die Tür gestürmt war.
Ich konnte nicht glauben, was ich gerade getan hatte. Was versuchte ich zu beweisen? Ich hatte Draven die Stirn geboten. Ich war tatsächlich verrückt.
Es regnete, und ich rannte zu dem geparkten Auto. Frank hatte gewartet. Diesmal konnte ich ihm nichts vormachen, also plapperte ich wild drauflos.
»Ich glaube, ich habe gerade einen großen Fehler gemacht.«
Er startete das Auto und bog auf die Hauptstraße. »Das bezweifle ich. Was ist passiert?« Wieder einmal hatte er mehr Vertrauen in mich, als ich verdiente.
»Ich habe gerade meinen Boss verärgert.«
»Du meinst Mr Draven?« Er blieb ernst, schien aber weniger besorgt zu sein als ich.
»Genau der.« Ich stemmte meinen Ellbogen in das Seitenfenster und ließ meinen Kopf auf meine Faust sinken.
»Ach, komm schon, so schlimm kann es nicht sein. Er mag dich, schon vergessen?« Er klopfte mir auf den Arm.
»Jetzt wohl nicht mehr. Nicht nach der Show, die ich da gerade abgezogen habe.«
»Du meine Güte, du hast ihm nicht eins übergebraten, oder?«, sagte er, als er meine gerötete Faust bemerkte. Seine Gesichtszüge entspannten sich, als ich lachte.
»Nein. Ich hatte eine Auseinandersetzung mit einer der Kellnerinnen, die, nur so nebenbei bemerkt, ein richtiges Miststück ist.«
»Hast du ihr eins übergebraten?«, fragte Frank, offensichtlich begeistert von der Idee, dass ich mich nicht unterkriegen ließ.
»Ich war kurz davor, glaub mir, aber dann kam Draven dazwischen.«
»Sag mir nicht, dass er auf ihrer Seite stand.« Jetzt grinste er nicht mehr.
»Nein, er schickte sie weg, aber als er meinen Arm sehen wollte, nachdem sie mir ihre Fingernägel in die Haut gebohrt hatte …«, ich zeigte ihm die Löcher in meinem Handschuh, »… sagte ich nein und machte die Fliege.«
Er grinste, doch als er auf meine Arme blickte, verflog sein Lächeln.
»Nun, ich bin mir sicher, er hat es befürwortet, dass du ihr die Stirn geboten hast. Passiert in seiner Gegenwart wahrscheinlich nicht so oft.«
»Nein, eigentlich nie, aber er war sehr verärgert.«
»Er wird es verkraften. Zur Hölle noch mal, wenn du Nein zu einem Mann sagst, dann heißt das auch Nein!« Er beugte sich zu mir und sagte: »Nun ja, dann wird dich das vielleicht aufmuntern.«
»Was?«
»Libby ist schon im Bett, also heute kein Verhör.«
Wir lachten beide. Ich war froh, dass ich mich Frank anvertraut hatte. Manchmal musste man einfach alles mal abladen.
Ich saß auf meinem Bett und zog meine Haarspange heraus. Meine Haare fielen in einer großen, eingedrehten Rolle über meinen Rücken. Ich trennte sie in kleinere Strähnen, bis sie in Wellen zu meiner Taille herabhingen.
Auf meinen Knöcheln hatte sich eine bläuliche Beule geformt. Was ging da bloß in meinem Kopf vor? Gerade erst war ich eine Verletzung losgeworden, und jetzt hatte ich schon wieder eine neue. Ich zog meine Handschuhe aus und strich mit meinen Fingern über vier kleine, halbmondförmige, blutige Schnitte. Nun, zumindest passten sie zu meinen Narben.
Ich vermied es in der Regel, auf meine Arme zu sehen. Zu viele schlechte Erinnerungen. Ich berührte die hellere Narbe oben, dann die dunkleren tiefer unten bei meinem Handgelenk. Diese waren größer und dicker. Tiefrot, als würde noch immer Blut aus ihnen fließen. Ich tat das Gleiche auf dem anderen Arm und hielt sie aneinander. Was für eine Scheußlichkeit. Ich zählte acht Schnitte auf der einen und sechs auf der anderen Seite. Sah aus, als hätte mich ein Löwe zerfleischt.
Das war der Grund, warum ich mich weigerte, Draven zu gehorchen. Ich wollte nicht, dass irgendjemand meine Narben sah, und ich wollte definitiv nicht erklären, wie sie zustande gekommen waren. Seien wir doch ehrlich – jeder würde daraus die gleiche Schlussfolgerung ziehen, also wozu sich Mühe machen? Ich musste mit ihnen leben. Eine tägliche Erinnerung, die mich niemals vergessen ließ, was damals geschehen war. Das ging niemanden etwas an. Schließlich war ich hierhergekommen, um all dem zu entfliehen.
Natürlich fand ich in dieser Nacht nicht viel Schlaf.
Den nächsten Tag verbrachte ich damit, mich um Libby zu kümmern. Sie hatte anscheinend den gleichen Virus erwischt wie RJ. Hoffentlich blieb ich davon verschont.
»Wie fühlst du dich, Libs?«, fragte ich, als ich mich zu ihr auf die Couch setzte. Sie sah schrecklich aus. Ihre Haut war ganz blass, ein starker Kontrast zu ihrem flammend roten Haar.
»Okay, denke ich. Aber ich kann einfach nichts bei mir behalten.«
»Ja, RJ hat das auch, aber sie hat vorhin angerufen und meinte, sie fühlte sich besser, also musst du nur noch ein paar Tage durchhalten. Willst du eine Suppe oder so?« Sobald ich Essen erwähnte, wurde ihr Gesicht grün und sie raste in Richtung Badezimmer.
»Das deute ich als ein ›Nein‹.« Ich war gerade dabei, in die Küche zu gehen, als es an der Tür klopfte. War Frank schon zurück? Es war noch viel zu früh. Er war rüber zu ›den Jungs‹ gegangen. Eine Gruppe von alten Highschool-Freunden, die sich gemeinsam Footballspiele ansahen.
Ich öffnete die Tür. Vor mir stand ein Mann in einem schwarzen Anzug und einer schwarzen Chauffeur-Mütze. Kein Auto war in Sicht. Vielleicht hatte er um die Ecke geparkt, aber warum sollte er das tun? Ein langer schwarzer Umschlag klemmte unter seinem Arm.
»Miss Johnson?« Er wirkte ein wenig unheimlich, also trat ich einen Schritt zurück, nur für den Fall, dass ich die Tür zuschlagen musste. Eine merkwürdige Reaktion, aber ich konnte mein Unbehagen nicht zügeln.
»Ein Brief für Sie.« Damit drückte er mir den Umschlag in die Hand und verschwand.
»Wer war das?« Libby schlurfte aus der Toilette und kroch wieder unter die Bettdecke auf der Couch.
»Nur jemand, der einen Brief für mich abgegeben hat. Denkst du, du verträgst eine Tasse Tee?« Sie nickte und sah wieder zum Fernseher, wo irgendein schnulziges Drama lief.
Ich ging in die Küche und legte den Umschlag auf den Tisch, bevor ich den Wasserkocher befüllte. Sobald er eingeschaltet war, setzte ich mich hin und starrte den Umschlag an, als würde er mich jeden Augenblick beißen. Ich drehte ihn um. Er war mit rotem Wachs versiegelt. Das Familienwappen der Dravens. Das gleiche Siegel wie an den Türen im Club und auf Dravens Stuhl.
Vielleicht ging es um mein Fehlverhalten letzte Nacht. Oh Scheiße … Was, wenn sie mich gefeuert hatten?
Irgendwann hielt ich die Spannung nicht mehr aus, also riss ich das Siegel auf und zog den Inhalt hervor. Das Geräusch des piepsenden Wasserkochers erstickte meinen Aufschrei, als ich den Umschlag auf den Tisch fallen ließ.
Ich konnte es nicht glauben.
Da musste ein Fehler unterlaufen sein.
Was zum Teufel war hier los?