28
Die Wochen vergehen
D ie Wochen vergingen, und ich hörte kein Wort von Draven. Es schien, als ginge ihm mein Ungehorsam wohl doch gegen den Strich, und als Strafe wurde ich ignoriert. Wenn ich an ihm vorbeiging, würdigte er mich nicht mal eines Blickes, und der Schmerz, den er mir damit zufügte, verstärkte sich nur.
An einem Punkt dachte ich, ich würde eine Reaktion seinerseits bekommen, als ich eines Nachts am Ende meiner Schicht an ihm vorbeiging. Aber anstelle eines netten Wortes bekam ich einen feindlichen Blick. Das Herz in meiner Brust pochte. Ich war knapp davor, ihn anzuschreien, aber zum Glück hatte ich immer noch eine Heidenangst vor ihm. Die Tapferkeit von jener Nacht, als ich ihm getrotzt hatte, war wohl nur von kurzer Dauer gewesen.
Nichtsdestotrotz hatte ich über die Wochen eine gute Routine gefunden. Ich jonglierte College und Arbeit und verbrachte meine freien Tage mit RJ und dem Rest der Rasselbande. Das Problem – je mehr Zeit ich mit Jack verbrachte, desto offensichtlicher wurden seine Absichten. Ich versuchte, mit RJ darüber zu sprechen, stieß damit aber auf taube Ohren. Wenn es nach ihr ginge, hätte sie mich am liebsten mit Jack verkuppelt.
Ich hatte mich schon bald an mein Auto gewöhnt und liebte die neu entdeckte Freiheit. RJ und ich fuhren abwechselnd, und es dauerte nicht lange, bis mein Handschuhfach mit RJs Lieblings-CDs vollgestopft war. Natürlich zogen wir mein Auto vor, da es im Gegensatz zu ihrem nicht klang wie ein Rasenmäher auf Crack.
Sie zeigte mir die Stadt, und als Dankeschön lud ich sie in ein mexikanisches Restaurant ein. Eines Abends gingen wir ins Kino. Jacks Flirtversuche blieben nicht unbemerkt, da er alles daran setzte, mir nahe zu sein.
Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich, als würde ich dazugehören. Ein Gefühl, das mir für lange Zeit fremd gewesen war. Aber in meinem Hinterkopf lauerten die Dämonen, die ständig versuchten, sich ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen und mich nicht das Gefühl der Sicherheit vergessen ließen, wenn ich in Dravens Nähe war. Erst, wenn ich den Club betrat, drängte sich dieses Gefühl in den Hintergrund, als wäre es mein Zuhause. Ein Stück von mir war leer, und dieses Loch füllte sich, wenn ich dort war. Als wäre das Gebäude selbst eine riesige Entität, die sich von meinen Emotionen ernährte. Als wollte es mich dort haben. Als bräuchte es mich dort und würde Draven als Schlüssel benutzen, um mich festzuhalten.
Dann, eines Tages, änderte sich alles schlagartig, und wieder einmal wurde ich in eine Welt geworfen, die mir fremd war.
Der Tag begann wie jeder andere, mit dem einzigen Unterschied, dass Jack mich um ein Date gebeten hatte. Da mir langsam die Ausreden ausgingen, willigte ich ein. Mein Verstand und mein Herz befanden sich inmitten eines Krieges, in dem ich hilflos gefangen war. Beide wollten verschiedene Dinge. Mein Verstand überzeugte mich davon, dass Draven nach zwei Wochen des Schweigens nichts mit mir zu tun haben wollte und sich auch nie etwas daran ändern würde. Mein Herz, natürlich, wollte nicht aufgeben, also war die Entscheidung keine leichte. Es war nur ein Date, also was sollte schon schiefgehen?
Da ich Freitagabend frei hatte und samstags eine Tagschicht anstand, arrangierten wir eine Verabredung für Freitag. Ich hatte zuvor noch nie tagsüber im Club gearbeitet, also wusste ich nicht, was mich erwartete. Ich fragte mich, ob Draven auf seinem Tisch sitzen würde. Sie konnten ja kaum Tag und Nacht dort verbringen, oder?
Mit Sophia verbanden mich zwei separate Freundschaften. Die übliche, alltägliche in den Kursen und eine ganz andere im Club. Sie wollte es mir erklären, aber ich hatte ihr versichert, dass kein Erklärungsbedarf bestand, da ich vollstes Verständnis dafür hatte. Sie hielt eine hohe Position inne und konnte ihre Zeit nicht damit verbringen, während der Arbeit mit mir zu reden. Schließlich war sie auch mein Boss.
Und es war nicht so, als würde sie mich ignorieren. Sie winkte immer und kam gelegentlich mit einem ›Hallo‹ auf mich zu, aber es war offensichtlich, dass das von ihrem Bruder verpönt war. Im Unterricht verhielten wir uns wie normale Freunde, lachten und scherzten über Reed. Und immer zog sie dieselbe Nummer ab, bombardierte mich mit einer Million Fragen, ohne je etwas von sich preiszugeben. Sie blieb ein ungelüftetes Geheimnis, wie ihr Bruder. Sie erwähnte ihn nie, und ich fragte nie.
Sie fragte jedoch nach Jack an dem Tag, an dem er mich zum Date eingeladen hatte.
»Ich habe gesehen, dass du vorhin mit Jack gesprochen hast. Gibt es etwas Neues an der Front?« Sie zwirbelte eine schwarze Korkenzieherlocke um ihren Finger.
»Ja, kann man sagen. Er hat mich nach einem Date am Freitagabend gefragt, und ich habe endlich eingewilligt.« Sie wirkte nicht schockiert, eher als hätte sie nichts anderes erwartet. Als ob sie die ganze Zeit schon gewusst hätte, was er für mich empfand.
»Hmm, das ist schön. Keine Arbeit also an dem Tag?« Etwas war eigenartig an ihrem Ton, aber ich konnte es mir nicht erklären.
»Nein, ich habe frei. Meine nächste Schicht ist erst am Samstag.«
Ich versuchte, ihren Ausdruck zu lesen. Sie beendete aber das Gespräch, als Reed den Raum betrat. Die Wogen zwischen Reed und mir hatten sich etwas geglättet, nachdem ich mein Können unter Beweis gestellt hatte, indem ich meine Arbeiten immer früh abgegeben hatte und gut benotet wurde. Das lag auch daran, dass ich die Beschäftigung brauchte. Ansonsten neigten meine Gedanken dazu, zu Draven abzuschweifen und regelrecht von ihm verzehrt zu werden. Der einzige Weg, das zu stoppen, war, meinen Geist auf einen anderen Kurs zu bringen.
Es war Donnerstag und ich bereitete mich seelisch auf die Arbeit im Club vor. Als ich vom College nach Hause kam, fand ich Libby beim Putzen. Sie verhielt sich komisch in letzter Zeit. Sie putzte ständig und aß alles, was ihr in die Hände fiel.
Keine Ahnung, was da los war. Sie war weder ein Putzfreak noch jemand, der gern Völlerei betrieb. Zugegeben, bevor ich hierhergekommen war, hatte man hier hauptsächlich Junk Food und Mikrowellen-Mahlzeiten in jedem Fach des Gefrierschranks gefunden, aber sie waren auch Fitnessfanatiker. Trotzdem hatte Libby sowohl Yoga als auch Pilates hingeworfen.
Auf dem Weg nach oben rief ich ihrem Unterteil ein ›Hallo‹ zu, da ihr Kopf im Ofen steckte, den sie wie besessen schrubbte. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Ich rannte die Treppe runter und schleuderte so schnell um die Ecke, dass ich fast ausrutschte.
»Du bist schwanger!«
Ihr Kopf tauchte lächelnd aus dem schäumenden Ofen auf.
»Ich wusste es! Warum hast du nichts gesagt?!« Ich konnte meine Aufregung kaum eindämmen. Sie stand auf, zog ihre Gummihandschuhe aus und schleuderte sie ins Waschbecken. Ich lief auf sie zu und umarmte sie.
»Whoa, zu fest, zu fest!«
»Ups, sorry. Aber komm schon, weiß Frank Bescheid?«
»Nein, und bitte erzähl ihm noch nichts davon«, sagte sie und hielt mich an den Schultern zurück.
»Das werde ich nicht, aber warum? Ist er nicht bereit dafür?« Dumme Frage. Er war mehr als bereit, Vater zu werden. Kinder liebten ihn.
»Nein. Es gibt einen Grund, warum ich es verschwiegen habe, und du musst mir versprechen, kein Wort zu sagen!« Sie streckte ihre Hand aus für den geheimen Handschlag, den wir uns als Kinder ausgedacht hatten. Ich legte meine Hand in ihre und machte die Bewegungen, was mit einem ekelhaften Spucken in jede Handfläche endete, die wir aneinander rieben. Tja, als Kinder hatten wir einfach unsere Hände an unseren Hosen abgewischt, aber jetzt standen wir beide auf und wuschen sie lachend am Waschbecken.
»Also komm, spuck‘s aus.«
Sie atmete tief ein und sagte:
»Frank hat eine geringe Spermienanzahl.« Ich konnte nicht anders als zu prusten. Libby wirkte mürrisch über meine Reaktion.
»Entschuldige, das wollte ich nicht. Es war nur so lustig, wie du es gesagt hast. Ich dachte schon, du erzählst mir jetzt, Frank wäre ein Spion oder so.« Sie rollte mit den Augen.
»Wie dem auch sei, ich habe nächste Woche meinen ersten Ultraschall und wollte ihn erst abwarten, nur um sicherzugehen. Ich will ihm keine Hoffnungen machen.«
Nickend hielt ich ihre Hand und sagte:
»Aber wann hast du davon erfahren? Und warum hast du mir nichts gesagt?«
»Weiß auch nicht, warum. Ich wollte es ja. Ich hatte irgendwie Angst, es zu verschreien.« Sie drückte meine Hand, bevor sie aufstand, um Tee zu machen.
»Ich fand es heraus, als du mit Frank unterwegs warst. Nachdem ihr aus der Tür wart, kam mir der Gedanke, dass ich schwanger sein könnte, weil meine Periode überfällig war, also musste ich mir einen Schwangerschaftstest besorgen.«
»Deshalb warst du so sonderbar, als du nach Hause gekommen bist.«
»Nun ja, ich meine, ich habe mein Handy klingeln hören, als ich im Auto saß, aber dann dachte ich, nein, du musst jetzt extra vorsichtig sein. Ich schwöre dir, ich bin sogar langsamer gefahren.«
»Also, war der Test positiv?« Ich händigte ihr eine Packung Milch aus dem Kühlschrank aus.
»Nein, ich habe vier Tests gekauft, und sie waren alle positiv.« Ich brach beinahe in Tränen aus.
»Oh Libs, das sind tolle Neuigkeiten. Wow, Mom wird ausflippen.« Libby warf mir einen Blick zu, also versicherte ich ihr schnell:
»Keine Sorge, meine Lippen sind versiegelt, solange du mir versprichst, dass ich dabei sein darf, wenn du sie anrufst.«
Wir unterhielten uns über Babykram, bis Frank nach Hause kam und ich realisierte, dass ich schon recht spät dran war. Schnell packte ich meine Sachen und rannte zum Auto. Ich kam fünf Minuten zu spät, musste mich aber noch im Hinterzimmer umziehen, da ich noch immer das Gewand von heute Morgen trug.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin, Karmun!«, rief ich ihm zu, als ich an ihm vorbeizischte und das erste Tablett zu meinen Tischen brachte. Doch als ich für mein nächstes zurückkam, stoppte er mich.
»Sorry, Schätzchen, aber Mr Draven will dich sprechen.« Mein Herz sank. Nervös fragte ich: »Wieso?«
»Ich weiß es nicht, aber er will, dass du zu seinem Tisch kommst.« Sein Ton deutete darauf hin, dass er nicht erfreut darüber war, mir diese Nachricht zu überbringen. Und wieder einmal wollte ich nur wegrennen. Ich war noch nie an seinem Tisch gewesen und wollte auch nicht dorthin. Nun musste ich nicht nur Draven gegenübertreten, sondern allen anderen unfreundlichen Gesichtern um ihn herum! Sophia war die Einzige, die mir keine Angst einjagte, aber ich bezweifelte, dass es einen großen Unterschied machte, da sich noch sechs andere Personen an dem Tisch befanden. Mit einem tiefen Atemzug stellte ich mein Tablett ab. Wieso wurde ich das Gefühl nicht los, den Löwen zum Fraß vorgeworfen zu werden?
Es war, als würde ich den Weg zum elektrischen Stuhl bestreiten. Ich zitterte am ganzen Körper. Mein Puls pochte unter meinen Narben. Meine Augen fokussierten sich auf den Mann, der nach meiner Anwesenheit an seinem Tisch verlangt hatte.
Ich entschied mich, nicht zu sprechen. Nur zu nicken. Jeglicher Versuch, kohärente Worte zu formen, würde ohnehin scheitern. Mit großem Unbehagen schleppte ich mich die Stufen hinauf zu dem höchstgelegenen Tisch, als sich mir ein irre großer Typ in den Weg stellte. Er war einer von Dravens Leibwächtern, aber dieser Kerl sah so aus, als ob er die anderen Leibwächter zum Frühstück verzehrte.
Ich hatte ihn schon zweimal gesehen. Einmal, als die Dravens hier angekommen waren und das andere Mal, als Draven mir am Parkplatz zu Hilfe geeilt war. Sein vernarbtes Gesicht war übersät von Kratern, seine Augen klein und dunkel, aber rot umrandet. Seine Hände hätten den Kopf einer Kuh zermalmen können. Er erinnerte mich an einen Wikinger. Mit verschränkten Armen versperrte er mir den Weg.
»Ragnar, lass sie durch!«, befahl Draven. Beklommen schlich ich an ihm vorbei.
Sobald ich den Tisch erreichte, versteinerte ich. Ich fühlte mich, als stünde ich vor einem König und seinem Gefolge. Seine Schwester schenkte mir ein Lächeln, was mir etwas Mut schenkte, aber nicht genug, um mich zu bewegen oder zu sprechen. Alle starrten mich an, als wäre ich ihre nächste Mahlzeit. Als hätte man mich mit tödlichen Kreaturen eingesperrt, die alle denselben Gedanken teilten …
Snack-Pause!
»Warum bist du zu spät gekommen?«, fragte Draven, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Die anderen hoben ihre Augenbrauen beim Klang seiner Worte. Sophia war dabei, etwas einzuwerfen, aber er hob seine Hand. Ihr Mund klappte zu, und sie drehte sich wieder nach vorn.
»Also, lass hören.« Emotionslos. Kaltherzig. Der Zorn, der langsam in mir brodelte, verdrängte einen Teil meiner Angst.
»Eine persönliche Angelegenheit.« Was keine Lüge war, aber meine bebende Stimme ließ das Gegenteil vermuten. Ich biss auf meine Lippe, bis Blut auf meine Zunge floss.
»Gut, wenn dem so ist, wirst du morgen die Zeit gutmachen, die du versäumt hast.« Sophia sah mich mit betrübten Augen an, aber mein Gesicht vermittelte die Botschaft, was ich davon hielt. Sie löste ihren Blick schnell. Die Art, wie er ›wirst du‹ betont hatte, war ein klarer Hinweis, dass es kein Entkommen gab.
»Von mir aus! Genau das, was ich wollte. Eine Schicht obendrauf. Ganz toll«, blaffte ich sarkastisch, und der Mann neben Sophia schoss mir einen missbilligenden Blick zu. Er wirkte sehr ernst, und die riesige Narbe auf einer Wange war nicht das Einzige, was zu seinem erschreckenden Aussehen beitrug.
Eine Seite seines Gesichts war bedeckt mit seltsamen Tattoos, die sich um die Narbe schlängelten. Nur das gesunde Gewebe war mit schwarzer Tinte versehen, was den Anschein erweckte, als würde ein Stück des Designs fehlen.
Abgesehen davon war er mit einem schönen Gesicht gesegnet und langen, platinblonden Haaren, die unter seiner schwarzen Kapuze lagen. Schneeweiß und furchteinflößend. Was ihn zum ersten Albino machte, den ich je gesehen hatte. Draven warf ihm einen düsteren Blick zu, und seine Augen wandten sich von mir ab. Dann sprach Draven wieder.
»Das ist alles.« Er nahm ein Shotglas in der Form einer Klaue, das irgendwie der Schwerkraft trotzte, indem es an einer winzigen, scharf geschliffenen Stelle stehen blieb. Er kippte es runter und stellte es auf das Tablett, das Layla ihm anbot. Wieder richtete sich die Klaue auf, fast schon schwebend, als Layla einen Abgang machte. Ragnar, der Riese, gab mir ein Zeichen, dass ich mich in Bewegung setzen sollte. Das musste man mir nicht zwei Mal sagen.
Den Rest der Nacht arbeitete ich umhüllt von einem roten Nebel voller Wut. Unfassbar. Und alles nur wegen zehn Minuten Verspätung. Jack hatte recht. Was für ein dummer, reicher, protziger Arsch! Was dachte er eigentlich, wer er war? Dieser Typ war mir unbegreiflich. In der einen Minute war er der erstaunlichste Mann auf Erden und in der nächsten das größte Arschloch, das mir wegen zehn verdammter Minuten die Hölle heiß machte! Lächerlich.
Am Ende meiner Schicht zog ich wieder meine alte Kleidung an, als wollte ich damit etwas beweisen. Okay, keine Ahnung, was das bezwecken sollte, aber seine Augen folgten mir dennoch. Unten traf ich Jack und den Rest der Bande. RJ wollte unbedingt die Punkrock-Band ›The Dizzy Bandits‹ sehen, die heute spielten.
»Hey, was ist los? Du siehst angespannt aus«, kommentierte Jack, als ich mich zur Bar stellte. Missbilligend blickte ich hoch auf die VIP-Lounge. Ich wusste, dass mich Draven von dort oben sehen konnte.
»Ja, angespannt ist untertrieben. Wohl eher angepisst.« Ich bestellte bei Mike eine Cola, bevor ich meine Meinung änderte.
»Ach, was soll’s? Ich nehme einen Tequila.«
»Hey, musst du nicht noch fahren?«
»Ja, aber einer wird nicht schaden. Und glaub mir, ich brauche das jetzt wirklich!« Ich kippte den Shot ohne Zitrone und Salz runter.
»Wow, hardcore, Baby!«, sagte er und kniff zärtlich in mein Kinn. Keine Ahnung, was über mich kam, denn als Nächstes tat ich etwas, was sogar mich schockierte. Ich stellte mich auf meine Zehenspitzen und küsste Jack auf die Wange, natürlich mit einem verstohlenen Blick nach oben.
»Okay, die Band ist Scheiße, aber es hat sich auf jeden Fall gelohnt, heute hierherzukommen. Womit habe ich den verdient?« Ein großes, ansteckendes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Weil du süß bist und mich aufgemuntert hast«, antwortete ich und bestellte eine Cola.
»Alles klar. Was ist passiert? Hat der Anführer der Vampire wieder auf großen Macker gemacht?«, fragte er, als wir zu den anderen zurück gingen.
»So in der Richtung, ja. Hey, tut mir echt leid, aber ich muss unser Date verschieben.«
»Was? Ach, verdammt! Aber gut zu sehen, dass dich das nervt. Was soll ich sagen? Ich quetsche den Kampfgeist aus den Mädchen heraus.« Er lachte, und Schuldgefühle bäumten sich in mir auf. Ich flüchtete auf die Toilette, um meine Gedanken zu sortieren.
Enttäuscht von mir selbst beäugte ich meine Reflexion im Spiegel. Ich hätte Jack nicht benutzen sollen, um mich an Draven zu rächen. Ich meine, wieso sollte es ihn überhaupt interessieren? Er hatte seine Gefühle für mich klipp und klar ausdrückt. Und wenn die letzten paar Wochen, in denen ich wie eine Aussätzige behandelt worden war, nicht ausreichten, dann mit Sicherheit die demütigende Folter des heutigen Abends.
Damit hatte er meinem Herzen vierzig Peitschenhiebe verpasst, und ich hasste es, dass ich immer noch dieselben Gefühle für ihn hegte. Ich war ein Magnet für die schlimmste Art von Männern. Sie gruben ihre Krallen in mich und ließen mich nicht mehr los. Nur Draven saugte mich immer wieder ein, um mich dann auszuspucken, wann auch immer ihm danach war.
Ich spritzte kaltes Wasser in mein Gesicht und rieb mir den Nacken. Was für eine Närrin ich war. Hier war Jack, der dachte, ich wäre verärgert wegen unseres geplatzten Dates, wenn es mich eigentlich erleichterte. Nirgendwo wäre ich lieber als im Club. Der einzige Grund für meine Wut war Draven. Seine Kälte, seine Respektlosigkeit und Missachtung der Gefühle anderer waren entsetzlich und inakzeptabel!
Ich blieb länger, als ich es mir vorgenommen hatte, aber wäre ich früher gegangen, hätte ich mich nur in meinem Zimmer eingesperrt, um über ›Lord Draven‹ zu schmoren. Erst als die Band zu Ende gespielt und RJ mit jedem Mitglied einschließlich des Tontechnikers geflirtet hatte, verabschiedete ich mich und machte mich auf den Weg zu meinem Auto.
Es war eines der wenigen, die noch auf dem dunklen Parkplatz standen und meinen Truck unheimlicher wirken ließen. Ich fummelte in meiner Tasche auf der Suche nach meinen Schlüsseln. Sobald ich sie in meinen Fingern hielt, fielen sie mir aus der Hand und auf den nassen Boden. Ich beugte mich herab und tastete den Boden ab. Dann spürte ich kaltes Metall und krallte sie mir. Als ich mich wieder aufrichtete und einen Blick durch die Scheiben warf, fiel mir zu meinem Unbehagen auf, dass ich nicht allein war.
Der Vogel hatte es sich auf dem Dach des nächstgelegenen Autos gemütlich gemacht und starrte mich an. Seine Augen leuchteten violett, und seine Flügel fächerten auf, als ob er sich für den Abflug bereit machte. Mit einem ohrenbetäubend hohen Kreischen beugte er seinen Kopf, sodass sein messerscharfer Schnabel im Mondlicht aufblitzte. Der Laut ließ mich aufjaulen, und die Schlüssel fielen mir ein weiteres Mal aus der Hand.
Verdammt! In Windeseile ging ich in die Knie und hob sie vom Kiesboden, bevor ich wieder hochschoss und sie in das Schloss rammte. Ich wagte einen Blick durch die Scheiben, um sicherzustellen, dass der Vogel nicht näher gekrochen kam, aber er war verschwunden. Klar wartete ich nicht, bis er wieder auftauchte, sprang in mein Auto, schlug die Tür zu und startete den Motor, bevor ich mich vom Acker machte.
Als ich die Einfahrt hochfuhr, waren alle Lichter aus. Frank und Libby waren schon im Bett. Ich verweilte für eine Minute im Auto. Ich hatte immer noch nicht den Mumm, mich in Bewegung zu setzen. Der Vogel war das Einzige, von dem ich wusste, dass er nicht nur ein Hirngespinst war. Jack hatte ihn auch gesehen. Ich trommelte mit der Hand auf das Lenkrad, während ich versuchte, den Mut aufzubringen, die Strecke bis zur Haustür zurückzulegen. Ich meine, es war nur ein Vogel. Was war schon dabei?
Okay, es war der gruseligste, größte, dämonisch aussehende Vogel auf dem Planeten, der mir die Kehle mit einem Hieb herausreißen könnte. Aber hey, sonst war er ganz süß! Ich zählte bis drei und schoss aus dem Auto, ohne es abzuschließen. Ich schob die Eingangstür auf und schlug sie zu, bevor ich realisierte, dass ich eigentlich leise sein sollte. Ich spitzte meine Ohren, aber oben tat sich nichts. Sie hatten wohl nichts gehört.
Ich wollte nur, dass diese Nacht endlich ein Ende fand. Ich schnappte mir eine Flasche Whisky aus dem Schnapsschrank und schenkte mir ein Glas ein, bevor ich mir Eis aus der Küche holte. Ich brauchte nur einen Drink, um meine Nerven zu beruhigen. Meine Schlaftabletten waren alle, und da ich noch immer keinen Termin mit einem Therapeuten vereinbart hatte, musste Alkohol her.
Ich nahm meinen Drink mit nach oben und ließ das Fensterrollo herunter. Der Vogel war irgendwo da draußen und hatte eine Tendenz, mich heimzusuchen, also hielt ich es für das Beste, mich zu verstecken. Ich wusste, die Chancen standen schlecht, jetzt Schlaf zu finden, also nahm ich den Drink mit zu meinem Schreibtisch und fischte meine Zeichenmappe heraus, in der ich meine geheimen Dämonen gefangen hielt. Ich riss eine Seite heraus und begann zu skizzieren.
Am nächsten Morgen wachte ich mit Dravens Gesicht vor mir auf. Ich konnte mich nicht daran erinnern, ihn auf dem Papier verewigt zu haben und war schockiert, als ich seine perfekten Gesichtszüge anstarrte, die sich in einen Gedächtnisschacht in meinem Gehirn eingebrannt hatten. Tiefe Augen, eine starke Kieferlinie, Bartstoppel und schulterlange Haare, zurückgekämmt von seinem Gesicht. Jedes Detail befand sich auf dem Blatt, als hätte ich ein Foto kopiert.
Beim Anblick allein bekam ich Gänsehaut. Ich steckte es schnell in meine Schublade, um seinem kalten Blick zu entkommen. Ich hatte ihn genauso gezeichnet, wie er mich letzte Nacht angesehen hatte. Die Erinnerung ließ mich meine Augen schließen, bevor ich sie zurück in die weit entfernten Ecken meines Geistes schob, neben all die anderen schlechten Sachen, die dort lagerten.
Ich erschien zu früh am College, da RJ wegen ihres Hangovers heute blaumachte. Ich schlug die Zeit in der Bibliothek tot und machte mich auf die Suche nach Literatur zu Amerikanischer Geschichte – dem einzigen Thema, bei dem ich im Dunkeln tappte. Als ich die Fachabteilung fand, blieb mir gerade noch Zeit, ein Buch zu holen, bevor mein erster Kurs anstand.
Im Geschichtsunterricht entschuldigte sich Sophia für die ›schlechte Laune‹ ihres Bruders. Ich erwiderte ein halbherziges ›Schon okay‹.
»Manchmal verstehe ich Doms Argumentation nicht, aber er mag die Dinge so, wie er sie mag. Macht das Sinn?«
Ich nickte. Was ich eigentlich sagen wollte war, ›Nein, es macht überhaupt keinen Sinn, aber hey, kryptisches Gequassel liegt wohl in der Familie.‹
Stattdessen blieb ich bei: »Mach dir keinen Kopf.«
Sie verlor kein weiteres Wort mehr über ihren Bruder.
Bevor wir nach Ende der Stunde getrennte Wege gingen, meinte sie, ich könnte auch erst um acht Uhr beginnen statt um sieben, aber ich wollte nicht noch Öl ins Feuer schütten. Sieben wäre in Ordnung, meinte ich. Er würde von mir nicht die Genugtuung für ein weiteres Kräftemessen bekommen.
Zurück zu Hause erinnerte mich Libby daran, dass Frank und sie zu Franks Eltern zum Essen eingeladen waren und die Nacht dort verbringen würden. Zum ersten Mal würde ich das Haus für mich alleine haben. Die Idee ließ mich nicht gerade vor Aufregung in die Luft springen. Freddy Krueger kam mir in den Sinn.
Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass dies wieder eine dieser Nächte werden würde, und die Furcht ergoss sich über mich wie klebriger Teer. Mit diesen Gedanken sprang ich unter die Dusche, aber auch Libbys Honig-Milch-Duschgel wusch meine Sorgen nicht weg. Ich trocknete meine Haare und steckte sie hoch.
Nachdem ich mich abgetrocknet hatte, zog ich schwarze Unterwäsche, ein schwarzes Unterhemd und ein Paar lange Handschuhe mit Daumenloch an. Es folgte ein schwarzes Shirt, das um die Taille gewickelt und mit Hilfe von Schnallen hinten festgehalten wurde. Das Material schmiegte sich an meine Haut und betonte meine Kurven. Zuletzt warf ich eine schwarz-violette Krawatte um meinen Hals, die mir RJ gegeben hatte. Wieso sollte ich mich nicht auch einmal am Wochenende etwas aufbrezeln? Ich trug sogar ein wenig Mascara auf, die ich mir von Libby geliehen hatte. Als ich sie darum gebeten hatte, war sie so schockiert wie Frank.
»Heute Abend etwas Besonderes vor?«, fragte sie, als sie mir drei verschiedene Tuschen in die Hand drückte. Es schien ihr zu gefallen, dass ich mir wieder einmal die Mühe machte, mich in Schale zu werfen.
»Nein, aber die meisten Kellnerinnen hübschen sich am Wochenende auf, und ich will nicht andauernd herausstechen.«
»Nun, du siehst toll aus, wirklich klasse mit der Krawatte.« Sie wartete ungeduldig, bis ich eine Wimperntusche aus ihrer Hand pflückte.
»Ich brauche nur eine.«
»Ja, aber was willst du betonen – Länge, Volumen oder Schwung?«
»Was?«
»Hier, nimm die. Du hast schon Länge und Volumen, du Glückskeks!« Sie händigte mir die Tusche mit dem blauen Verschluss, die mit den Worten ›extra Schwung‹ und ›wasserfest‹ bedruckt war. Wasserfest? Kam mir nur recht. Wenn man bedachte, was mir alles im VIP widerfuhr, standen Tränen auf der Tagesordnung. Tja, egal was heute alles schiefgehen würde, zumindest müsste ich nicht im Panda-Look herumlaufen.
»Danke. Und du bist dir sicher, das ist nicht zu viel des Guten?«
Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Kazzy, du siehst großartig aus. Und sieh dir diese Haut an … makellos.« Sie lachte, aber das Kompliment ging an mir vorüber.
Ich trug die Tusche auf, was meine Wimpern nur noch schwärzer machte und sie leicht nach oben kringelte. Ich untersuchte mich kurz im Spiegel und zog meine kürzeren Haarsträhnen nach vorn.
Ich fühlte mich anders.
Ich fühlte mich entblößt.