Die schreckliche Wahrheit
A
ls ich aufwachte, dauerte es eine Minute, bis mir klar wurde, dass ich nicht in meinem eigenen Bett lag. Mein Kopf schmerzte, als ich mich aufsetzte. Schwarzer Satin bedeckte mich. Ich schien mich hoch oben zu befinden, als stünde das Bett auf einer Plattform. Ich sah mich um. Schwere, zugezogene Brokatvorhänge, die winzige Lichtstrahlen durch die Öffnungen warfen, umhüllten das riesige Himmelbett.
Ich saß für einen Moment da, zu verängstigt, um mich zu bewegen. Die Wirkung der Droge hatte nachgelassen. Jetzt war ich hellwach. Ich strich mit meinen Fingern über meine Hüfte. Sie war verbunden, aber ich verspürte keine Schmerzen. Ich entschied mich dazu, aufzustehen. Es gab nichts, wovor ich mich fürchten musste, oder? Draven hatte mir das Leben gerettet.
Vorsichtig zog ich die Vorhänge zurück. Dunkelheit umgab mich, durchdrungen vom Licht weniger Kerzen und dem Schein des Mondes, der durch die Glastüren gegenüber vom Bett strömte. Meine Augen hatten sich schon an das Licht gewöhnt. Das Bett stand tatsächlich auf einem erhöhten Teil des Fußbodens, so wie auch Dravens Tisch im Club.
Drei Stufen führten hoch zur Plattform. Ich schwang meine Beine über die Seite. Dann blieb ich kurz stehen, um
sicherzustellen, dass ich allein war, bevor ich mich in Bewegung setzte. Das Zimmer lag in Schatten und zeigte ein paar Möbel hier und da, aber ich konnte keine Details erkennen. Auf einem kleinen Tisch neben dem Bett leuchtete eine Kerze. Sie enthüllte nur einen kleinen Kreis um sie herum. Meine Beine fühlten sich wie ausgelaufene Eier an, und meine Muskeln schmerzten, als wäre ich kürzlich einen Marathon gelaufen.
Ich blickte noch mal über meine Schulter zu dem Bett. Es war ein riesiges, hölzernes Himmelbett mit Pfosten, die Baumstämmen glichen. Sie bestanden aus massiven Spindeln, die ein Holzdach hielten, das aussah, als wäre es von Da Vinci selbst geschnitzt worden. Luxuriöse Stoffe verzierten alle vier Seiten.
Ich drehte mich zu dem Tisch, auf dem ein Glas stand, gefüllt mit der gleichen Flüssigkeit, die Draven mir zu trinken gegeben hatte. Daneben lagen zwei Pillen und eine Notiz. Ich nahm das Papier in meine Hand und las die Worte, die aussahen, als ob sie von einem Kalligraphiekünstler geschrieben worden wären.
Keira, nimm die Pillen, wenn du aufwachst.
D
Das war alles. Ich entschied mich, die Pillen nicht anzurühren und erkundete stattdessen meine Umgebung. Das Zimmer war lang und in zwei Abschnitte geteilt. Der eine Teil wurde anscheinend als Wohnraum oder Büro genutzt, der andere war ganz klar ein Schlafgemach. Prachtvoll, mit alten antiken Möbeln, soweit ich mich entsinnen konnte. Doch meine Erinnerungen an gestern Nacht waren vage. Ich wusste nur, wie es sich angefühlt hatte, Draven nahe zu sein. Oder vielleicht war das nur das, woran sich mein Verstand klammerte.
Ich zog die Spange aus meinen Haaren. Die Wellen waren immer noch leicht feucht und rochen nach Waldfrüchten, dank Libbys teurem Shampoo. Ich blickte nach unten, doch anstatt blutbefleckter Hosen fand ich nur mein schwarzes Unterwäsche-
Set. Dies brachte schnell Farbe auf meine Wangen. Nicht nur, weil er mich in Unterwäsche gesehen, sondern mich offenbar auch ausgezogen hatte.
Zum Glück waren meine Handschuhe noch dran, aber ich fühlte mich noch immer viel zu entblößt.
Ich suchte die verbundene Stelle nach Blutflecken ab, doch es waren keine zu sehen, was mich zu der Frage führte: Was hatte Draven eigentlich gemacht? Ich erinnerte mich nur, dass er seine Hand darübergelegt hatte, aber nicht an irgendeine Betäubung oder Stiche. Wie hatte er die Blutung gestoppt?
Und dann schoss eine weitere Erinnerung in mir auf … Der Moment, in dem ich die Augenbinde abgenommen hatte. Draven hatte mich vor Halluzinationen gewarnt, aber was ich tatsächlich wahrgenommen hatte, sprengte all meine Erwartungen. Es war merkwürdig, Draven in einer Form zu sehen, die nicht seiner üblichen Perfektion entsprach, also führte ich es auf den Effekt der Droge zurück.
Es war ungewöhnlich still. Nur das Flackern des Kerzenlichts war zu hören. Jemand hatte meine Schuhe ausgezogen, aber die Socken angelassen, bevor ich ins Bett gelegt wurde. Mein Herz übersprang einen Schlag bei dem Gedanken, dass Draven derjenige war, der mich in sein Schlafzimmer getragen hatte …
In sein Bett.
Etwas Schwarzes, Gefaltetes befand sich am Fuße. Meine schwarze Hose, die offensichtlich gewaschen worden war, und dazu ein schwarzes T-Shirt, das eindeutig nicht meins war. Wahrscheinlich Sophias. So oder so, wenigstens musste ich Draven nicht in Unterwäsche gegenübertreten.
Meine Füße trugen mich leise über den Steinboden, rüber zu den Glastüren. Sie besaßen keinen Griff, und als ich meine Hand ausstreckte, um sie zu berühren, verschwanden sie in der Steinwand. Ich keuchte vor Schreck und blieb kurz stehen. Aber nach einem Moment krochen die Türen langsam zurück und
versperrten wieder den Eingang. Jetzt, da ich wusste, was mich erwartete, berührte ich noch einmal das Glas und trat hinaus auf einen weiteren geräumigen Balkon.
Mit seinen Marmorsäulen ähnelte er dem in der VIP-Lounge, jedoch mit dem Unterschied, dass sich dazwischen keine Marmorbalustraden befanden. Stattdessen schlängelte sich ein schmiedeeisernes Geländer im schwarz-goldfarbenen Design um ihn herum. Metallreben zwängten sich durch die Stäbe, verflochten mit schwarzen Rosen und krallenförmigen, schwarzen Dornen.
Auch hier befanden sich zwei große Bäume auf beiden Seiten der Türen, gepflanzt in massive japanische Töpfe, die bis zu meiner Hüfte reichten. Ich ließ meine Augen über das Areal schweifen und bemerkte eine Treppe an einer Seite. Offenbar führte sie zum Dach, da sie eine Spirale um einen Steinturm herum formte.
Ich wagte ein paar Schritte näher an den Rand. Der Vollmond erleuchtete die umliegende Aussicht auf den Wald. Als ich jedoch näher trat, wurde mir klar, dass ich mich in schwindelerregenden Höhen befand, direkt über einer Felswand. Das Tal unter mir öffnete sich wie ein Krater. Es dauerte nur einen Augenblick, bis mich meine Höhenangst überkam, und ich wich einen Schritt zurück.
Plötzlich erklang ein Geräusch hinter mir. Schnell versteckte ich mich hinter einem der Bäume. Mit angehaltenem Atem horchte ich auf. Eine Stimme drang aus dem Zimmer. Ich konnte kaum etwas sehen, als ich durch das Laub spähte, aber es handelte sich eindeutig um die Stimme eines Mannes. Jedoch nicht die von Draven.
»Wo ist das Mädchen?«, fragte er.
»Sie war gerade noch hier. Ich kann sie immer noch spüren, und die Türen öffnen sich nicht für sie. Sie kann nicht weit gekommen sein«, antwortete Sophia, aber sie klang
völlig anders als sonst. Ihr Ton war angespannt, als wäre sie aufgebracht. Ich neigte meinen Kopf leicht zur Seite und wünschte mir sofort, ich hätte es nicht getan. Ich war wie versteinert!
Sophias Gesicht hatte sich in etwas Monströses verwandelt. Ihre Haut sah aus, als bestünde sie aus hartem Wüstensand, der unter der heißen Sonne zersprungen war. Grau und leblos, wie ein Zombie. Ihre Augen waren milchig weiß, als hätte man sie bis zur völligen Blindheit ausgebrannt, aber eine schwarze Substanz sickerte aus den Rissen ihrer Augenlider. Ihr Mund war völlig verformt, wie von Messern an den Seiten aufgeschlitzt, und aus den Schnittstellen trat noch mehr schwarze Flüssigkeit.
Ich konnte nicht glauben, was ich da sah. Ich schlackerte am ganzen Körper und presste beide Hände auf meinen Mund, um nicht zu schreien. Schiere Angst überrannte mich, und meine Augen füllten sich mit Tränen. Ich zog meinen Kopf aus dem Sichtfeld, um mich vor dem Horror zu verstecken. Wie konnte etwas so Schönes zu dem werden, woraus Alpträume gemacht wurden? Ich verhielt mich still. Ich konnte sie noch im Zimmer hören.
»Mein Bruder muss informiert werden. Geh!«, stieß sie aus, und ich hörte, wie sich Türen schlossen. Ich wartete und wartete, aber es schien, als hätten sie das Zimmer verlassen. Ich spähte wieder durch den Baum, nur um sicherzugehen. Das Zimmer war leer. Noch immer krallte ich mich an den Baum wie an eine Rettungsleine.
Das konnte nicht sein. Ich wollte es einfach nicht glauben. Nicht Sophia. Vielleicht waren die Nebenwirkungen noch nicht ganz verflogen, und ich sah noch immer Dinge, die nicht existierten. Vielleicht … Aber tief in mir kannte ich die Wahrheit. Schließlich hatte ich diese Dinge mein ganzes Leben lang gesehen, und was ich in Sophia gesehen hatte, war dämonisch!
Meine Dämonen waren zurück.
Ich versuchte, meinen Mut zusammenzukratzen, als sich eine neue Angst in mir ausbreitete. Ihrer Ansicht nach war ich verschwunden und sie versuchten, mich zu finden. Das Letzte, was Sophia im typischen Draven-Stil befohlen hatte, war: ›Mein Bruder muss informiert werden‹. Mein Alptraum war also noch nicht zu Ende.
Draven würde mich bald finden. Was, wenn mein letzter Blick auf ihn nicht nur pure Halluzination gewesen war?! Oh Gott, das konnte alles nicht wahr sein! Sicherlich war ich keine Gefangene, oder? Das Ganze war ein großer Fehler gewesen. Wieder einmal hatte sich eine traumhafte Erfahrung mit Draven blitzschnell in ein Horrorszenario verwandelt. Ich war im Begriff, zurück in das Zimmer zu schleichen, als mir etwas sehr Gefährliches ins Auge fiel. Etwas, das den Alptraum nur noch realer machte.
Der Vogel war zurück. Er flog vorbei, majestätisch gleitend im Mondlicht, als wäre er Herrscher der Nacht. Und auch er hatte sich verändert, genau wie Sophia. Seine Federn hatten sich zu schwarzem Stein verfestigt und verliefen in scharfe Spitzen, wie eine Reihe von Dolchen. Sein Körper produzierte eine flammend rote Energie, die wie Lava durch seine Adern pulsierte und einen leuchtenden Strahl am Himmel hinterließ.
Mir entfuhr ein Schrei und ich duckte mich, als er über meinen Kopf hinwegfegte und mich nur um Zentimeter verfehlte. Er ging in den Sturzflug und landete auf einem kleineren Balkon unter mir, während er ein ohrenbetäubendes Kreischen ausstieß, das durch die Nacht hallte. Ich konnte meine Augen nicht von dem Vogel abwenden, als ob er mich in seinen Bann gezogen hätte. Ich wusste, was sein Schrei bedeutete.
Er hatte seinen Meister gerufen.
Und genau in diesem Moment tauchte Draven am Balkon auf. Er näherte sich dem Vogel, als wäre er sein Haustier. Ich versteckte mich wieder und beobachtete, wie Draven seine Hand
ausstreckte, um mit seinen Fingern über den harten Körper des Tieres zu streichen. Aber der Vogel hatte meine Aufmerksamkeit nicht länger, denn er war nicht der Einzige, der nicht mehr der zu sein schien, der er war.
Draven sah aus, als ob er von etwas besessen wäre, das unter seiner Haut kroch und in einem kraftvollen Violett leuchtete. Als ob seine Venen farbige Flüssigkeit in jedes Organ pumpten und seinen kompletten Körper übernahmen. Aber das war nicht das Auffälligste. Nein, denn das Erstaunlichste befand sich hinter ihm und folgte jeder seiner Bewegungen, als wäre es ein Teil seines Körpers.
Draven hatte tatsächlich Flügel.
Langsam rückte ich näher, um mehr von dem zu sehen, was ich mir nicht erklären konnte. Der gleiche säureartige Geschmack explodierte in meinem Mund, der sich immer über meine Zunge legte, wenn ich diese unmöglichen Dinge sah, aber das, was sich jetzt vor mir auftat, toppte alles. Erschreckend, furchteinflößend und unerträglich schmerzhaft.
Tränen rollten über meine Wangen. Ich konnte meinen grausamen Augen nicht trauen. Warum geschah das mit mir? Was hatte ich verbrochen, dass meine Träume immer auf die schrecklichste Weise zerschmettert wurden? Das war nicht die Realität! Das war ich, ich allein. Ich erschuf meinen eigenen Wahnsinn …
Draven und sein Haustier waren nicht mehr unter sich. Jemand, den ich nicht genau erkennen konnte, kam ihnen näher. Mein Versteck war nicht mehr lange sicher. Sie hatten ihm sicherlich von meinem Verschwinden erzählt. Die Person ging wieder, und Dravens Hand schoss wutentbrannt in die Höhe. Der Kopf des Vogels bewegte sich in meine Richtung, und Draven folgte seinem Blick. Das Tier hatte mich verraten. Sie hatten mich entdeckt, und mein erster Impuls war …
Lauf!
Ich rannte zur Treppe, die zum Dach führte. Der Himmel hatte sich geöffnet, und heftiger Regen strömte herab, der den Steinboden rutschig machte. Schnell war ich völlig durchnässt und bibberte vor Kälte. Ich wusste nicht, was hinter mir vorging, aber ich hatte nicht den Mut, nachzusehen.
Die Stufen schienen endlos lang und gaben mir kaum Halt entlang der nassen Steinmauer. Meine Haare hingen nass und schlaff herunter, klebten an meiner Taille. Endlich schaffte ich es nach oben. Das große Flachdach war von einer undurchdringlichen Steinmauer umgeben. Ich saß fest.
Der Mond war meine einzige Lichtquelle, aber die Wolken, die über den Himmel zogen, dämpften seine Leuchtkraft. Ich blinzelte panisch, in der Hoffnung, irgendeinen Fluchtweg zu finden. Nach einer halben Ewigkeit erblickte ich endlich eine Tür. Meine nassen Socken schlurften über den rutschigen Boden, als ich rannte. Dann hörte ich es. Das Flattern riesiger Flügel, die die Luft über mir aufwirbelten.
Ich schleuderte herum, um dem Mann ins Gesicht zu blicken, der sie kontrollierte. Draven befand sich in der Luft und schoss mit solcher Geschwindigkeit herab, dass meine Augen ihm kaum folgen konnten. Er landete hart auf einem Knie, dunkle Flügel weit aufgefächert, seine Hände in Fäuste geballt.
Die Erde erschütterte unter seiner Kraft, und sein Kopf zuckte nach oben zu meinem verängstigten Gesicht. Das Dach war unter dem Druck seiner Landung zersprungen und erschuf Risse wie Adern, die den Stein durchzogen. Mein Kopf bewegte sich, als ich versuchte, die Distanz zwischen mir und der Tür zu kalkulieren. Ich könnte es schaffen, aber Draven dachte wohl anders, als er seinen Kopf schüttelte und ein klares Nein vermittelte!
Ich blickte noch einmal in die lodernden Augen, die durch den Vorhang nassen schwarzen Haares sickerten, das einen Teil seines Gesichts bedeckte. Ich schluckte hart und zählte geistig
bis drei. Dann wirbelte ich herum und sprintete los, aber im selben Moment stand er plötzlich vor mir und blockierte meinen Weg. Keine Ahnung, wie er es so verdammt schnell zu mir geschafft hatte.
Sein Gesicht war so nah, dass sich seine violetten Augen in mich brannten. Das Licht, das aus seinem Körper strahlte, reflektierte das Wasser, das über meine Haut rann. Sein tropfendes Haar war so schwarz wie die stürmische Nacht um uns herum. Er strich es glatt nach hinten, was seine Gesichtszüge noch ernster erscheinen ließ. Er taxierte mich, als wollte er mich erwürgen, und der Anblick erfüllte mich mit purem Schrecken.
Bevor er sich bewegen konnte, duckte ich mich unter ihm hindurch. Meine schnelle Reaktion überraschte sogar mich selbst. Ich führte jeden Tropfen Energie, den ich übrig hatte, in meine Beine und lief schneller, als ich je zuvor gelaufen war. Die Tür kam näher. Ich konnte es schaffen. Ich musste es schaffen!
Ich schnappte den Griff, betete, dass die Tür nicht verschlossen war. Sie öffnete sich und mir entkam ein verfrühter Atemzug der Erleichterung. Plötzlich erschien Dravens Hand von hinten und schlug das Holz zurück in seinen Rahmen, sodass es unter der extremen Kraft erbebte.
»Oh nein, wag es ja nicht!«, fauchte er wütend. Ich starrte auf die Tür, zu verängstigt, in seine Augen zu sehen, als seine Stimme die Nacht mit einem entmutigenden Befehl erfüllte.
»Sieh mich an!«
Ich drehte mich mit hängendem Kopf um, um meine Tränen und mein entsetztes Gesicht zu verstecken. Aber das war ihm nicht genug.
»Keira, sieh mich an. Jetzt.«
Seine Stimme wurde weicher, aber es war immer noch klar, dass dies keine Bitte war.
Mein Kopf bewegte sich langsam nach oben, während sich mein Rücken gegen die Tür drückte. Meine Angst war einfach zu
groß. Ich wollte so viel Distanz zwischen uns legen, wie ich nur konnte. Ich war in Gefahr und vertraute meinem Instinkt.
»Was … Was bist … dd… du?«, stammelte ich. Ich wünschte, ich könnte meine Furcht durch Wut ersetzen. Seine Hand kam auf mich zu, und ich schrie:
»FASS MICH NICHT AN!«
Ich sprang zur Seite und versuchte, an ihm vorbeizukommen.
Ein lautes Rauschen wehte durch die Luft, als einer seiner Flügel plötzlich vor mir herabstürzte und meinen Weg mit einer Wand aus schwarzen Federn versperrte. Ich wirbelte herum, in der Hoffnung, über die andere Seite zu entkommen, doch diesmal schoss sein anderer Flügel vor meinen Körper. Schnell war ich wie in einen Kokon gewickelt. Mein Herz fühlte sich an, als würde es gleich aus meiner Brust springen.
»Beruhige dich. Und bitte, versuch das nicht noch einmal«,
knurrte er, frustriert über meine Gegenwehr. Mein Gesicht war nass, nicht nur vom Regen, sondern auch von den Tränen, die jetzt unaufhörlich mein Gesicht hinab liefen.
»Was willst du von mir?«, fragte ich tapfer.
»Ich wollte, dass du schläfst, bis die Nebeneffekte abklingen.« Sein ruhiger Ton verärgerte mich nur.
»NEBENEFFEKTE! Das kommt nicht von irgendwelchen Drogen. Das, was ich sehe, ist real!«, schrie ich und warf meine Hände in Richtung seines nackten Oberkörpers. Er trug nichts außer Hosen. Seine definierte Brust und sein Bauch zeigten die Muskeln eines Bodybuilders, die jedoch von Natur aus so gebaut zu sein schienen. Was auch immer Draven war, er war anders, und sein Körper zeigte diese Unterschiede in Hülle und Fülle. Seine Venen beherbergten die violette Energie, die unter seiner Haut brodelte. Mir wurde klar, dass ich falsch lag. Er war nicht besessen … das war
er. Die ganze Zeit über!
»Was bist du?«, wollte ich wissen.
»Das ist kompliziert, und du bist noch nicht bereit.«
»Kompliziert! Ist das dein Ernst? Du sagst mir, es ist kompliziert und stehst hier mit verdammten Flügeln auf deinem Rücken und violettem Blut, das durch deine Adern fließt! Und alles, was ich von dir bekomme, ist ein ›kompliziert‹!« Ich war so wutentbrannt, dass ich innerlich bebte. Seine Flügel hielten mich immer noch gefangen und schnitten das Mondlicht ab, was Draven zur einzigen Lichtquelle machte.
»Was willst du von mir?«, feuerte er zurück.
»Die Wahrheit
wäre schön!«
»Wie ich schon sagte, du bist nicht bereit.« Er schüttelte seinen Kopf. Das Licht unter seiner Haut pulsierte schneller, als würde es von seinen Emotionen angetrieben.
»Tja, irgendetwas musst du mir hier geben, denn ich lasse mir sicher nicht einreden, dass ich verrückt bin! Auf keinen Fall. Nicht dieses Mal, Draven!« Ich spuckte die Worte aus wie Gift.
»Ich fürchte, du lässt mir keine Wahl, Keira.« Er sprach meinen Namen, und zum ersten Mal wurde es mir so richtig bewusst … Ich war hier. Nicht ein Teil von mir. Nicht der Teil, der sich in meinen Träumen bewegte. Das war echt. Keine Krankheit, unter der ich litt. Kein Wahnsinn, der meinen Verstand verzehrte.
Das. War. Echt.
»Was … Was hast du mit mir vor?« Meine Stimme buchstabierte hörbar das Wort Panik.
»Ich würde dir nie wehtun, aber du musst verstehen … das
… das, was du gesehen hast, ist für uns beide ein Problem, das ich lösen muss, bevor es außer Kontrolle gerät. Und wenn ich das nicht tue, dann wird
es wehtun!« Seine Warnung war so klar wie das Wasser, das vom Himmel fiel. Also, das war‘s? Das sollte mein Ende sein? Blieb nur die Frage, wer würde dieses Ende über mich bringen? Die Hand des Mannes, in den ich mich verliebt hatte, oder die Hand des Dämons, der
mir gegenüberstand? Ich konnte mir nicht helfen, als ich vor Verzweiflung noch mehr in Tränen ausbrach.
Er lehnte sich zu mir und stemmte beide Hände gegen die Tür neben meinem Kopf. Sein Gesicht kam mir so nahe, dass ich die Wärme spüren konnte, die von der Energie unter seiner Haut ausstrahlte. Mein Körper sehnte sich immer noch nach ihm. Ich wollte ihn, und egal wie verängstigt ich war, die Sehnsucht erlosch nicht. Ich brauchte ihn.
»Schhh, weine nicht, meine Kleine.« Sein Mund bewegte sich auf meine Höhe. Die Worte huschten über meine zitternden Lippen. Dann fing er eine fallende Träne mit einem Kuss auf meine Haut auf. Sein Körper verzehrte jeden Zentimeter zwischen uns. Mit geschlossenen Augen atmete er tief ein, als ob er versuchte, meinen Duft einzufangen. Ein Stöhnen entkam ihm, und seine Augen brannten sich in meine mit solcher Intensität, dass es mir den Atem raubte.
»Keira, du verstehst einfach nicht, was du mir antust. ¡Por Dios y el Diablo como mi testigo, ella será mía!«, (»Bei Gott und dem Teufel als meine Zeugen, sie wird mir gehören!«, auf Spanisch) sprach er mit Leidenschaft. Ich versuchte, die Worte zu übersetzen, aber in diesem Moment war mein Gehirn nicht dazu fähig.
Er analysierte mich von Kopf bis Fuß, mit einem verzehrenden Blick, als ob er mich verschlingen wollte. Ich wollte nur seine Hände auf meiner nassen Haut spüren. Anstatt also zu versuchen, zu entkommen, tat ich etwas völlig Verrücktes. Meine Hände bewegten sich langsam nach oben, zuerst zu seinen breiten, starken Schultern, dann hinunter zu seinem enormen Bizeps, wo ich die rohe Kraft unter meinen Handflächen zu spüren bekam.
Ich biss auf meine Lippe, als er seine Augen schloss. Es hatte den Anschein, als müsste er seine komplette Konzentration sammeln, um nicht zu reagieren.
»Nur du, Keira«,
sagte er mit sehnsüchtiger Stimme. Seine geschlossenen Augen drückten sich noch mehr zusammen, als könnte er die Schmerzen nicht ertragen.
»Draven.« Er riss seine Augen auf, als er seinen Namen von meinen Lippen hörte, und die Intensität, die ich dort sah, verzehrte meine Seele. Dann schloss sich eine Hand um meine Wange, und er senkte seine Stirn zu meiner. Ich wusste nicht, was er war oder was er mir antun würde, aber ich sah diesen unglaublichen Moment als das, was er wirklich war.
Herzzerreißend schön.
Ein Geräusch hinter ihm durchbrach den Zauber und weckte mich aus meiner Trance. Ich senkte meine Hand. Es hörte sich an, als hätte uns der Vogel gefunden. Draven drehte sich langsam um, als könnte er ihn durch seine Flügel sehen.
»Es tut mir leid, Keira, aber es ist an der Zeit.« Das war also mein unvermeidliches Ende. Ich war noch nicht bereit, loszulassen, also wagte ich mich einen Schritt näher. Ich legte meine Arme um ihn und zog unsere Körper fest zusammen. Seine Reaktion war die, die ich mir erhofft hatte, als er seine starken Arme um mich schlang. Seine Flügel umhüllten uns bis zur Gänze, sodass ich nur sein Gesicht sehen konnte. Er blickte tief in meine Augen, bevor er sagte:
»Auf Wiedersehen, meine süße Keira. Bis unsere Zeit gekommen ist.«
Und bevor ich protestieren konnte, fanden seine Lippen meine, um mir einen zärtlichen Kuss zu schenken.
Sein Atem verschleierte meinen Verstand, machte mich schwindelig. Ich versuchte mich mit allem, was ich hatte, an diesem perfekten Moment festzuhalten, aber ich fiel in einen Abgrund der Dunkelheit. Er saugte mich ein, bis ich meinen Körper nicht mehr spüren konnte, bis ich Dravens Körper nicht mehr spüren konnte, und bis ich nur noch eines spüren konnte …
Meinen Tod.