A
ls ich wieder zu Bewusstsein kam, öffneten sich langsam meine Augen. Ein verschwommenes weißes Licht erschien in meinem Augenwinkel. Ich blinzelte. Meine Umgebung wurde klarer, und das Erste, wovon ich Notiz nahm, war ein Fenstersitz mit schief liegenden Kissen.
Wie vom Blitz getroffen, schoss ich in die Senkrechte. Wie kam es, dass ich in meinem Zimmer war? Ich sprang auf und rannte auf wackeligen Beinen zum Spiegel. Meine Kleidung war völlig intakt – kein zerrissenes T-Shirt, keine blutigen Hosen und, noch seltsamer, keine Verbände. Ich suchte verzweifelt nach einer Narbe oder einem Kratzer, irgendetwas, das auf letzte Nacht zurückzuführen wäre, aber ich fand nichts. Ich hob meine Hand und drehte sie um, wieder und wieder. Keine blutigen Schnitte. Als wäre nie etwas passiert.
»Nein! Das … Das kann nicht sein!« Ungläubig schüttelte ich meinen Kopf. Das konnte einfach nicht passieren! Es war absolut unmöglich, dass letzte Nacht nur ein Traum gewesen war. Nicht dieses Mal! Ich fand sogar ein paar Hinweise, die meine Theorie bestätigten. Okay, keine handfesten Beweise, aber sie waren da. Mein schwarzes Unterhemd und meine Krawatte fehlten. Meine Haare waren noch feucht und wellig
vom Regen. Und vor allem konnte ich immer noch Draven auf meiner Haut riechen.
Nein, das war kein Traum gewesen!
Widerwillig nahm ich eine Dusche, trocknete mich ab und zog mich an. Mir blieben noch eineinhalb Stunden bis zu meiner nächsten Schicht. Gott, ich war am Verhungern. Ich hätte ein verdammtes Pferd und seinen Reiter verschlingen können! Ich lief nach unten in die Küche, auf der Suche nach Libby oder Frank, als mir einfiel, dass sie noch nicht zurück waren. Was zu der Frage führte, wer mich nach Hause gebracht hatte und wie? Ich eilte zum Fenster. Mein Mund klappte auf. Mein Auto stand genauso da, wie ich es gestern geparkt hatte.
Nachdem ich die Küchenschränke nach allem durchwühlt hatte, was ich in meine Finger bekommen konnte, blieb mir gerade noch genug Zeit, um mich für die Arbeit fertig zu machen. Und diesmal war ich entschlossen, mir Draven zu schnappen und die Wahrheit ans Licht zu bringen!
Mein Körper und mein Geist hatten ihr Limit erreicht. Auch ich konnte nur eine begrenzte Anzahl an Emotionen ertragen. Und je öfter ich letzte Nacht in meinen Gedanken durchspielte, desto mehr schrumpften meine Zweifel. Ich hatte mir das nicht nur eingebildet. Er musste mich hierher zurückgebracht haben in dem Versuch, alles zu vertuschen. In der Hoffnung, dass ich es einfach auf einen Traum zurückführen würde. Nun, dieses Mal würde er damit nicht davonkommen. Ich hatte das Recht, die Wahrheit zu erfahren.
Und ich würde verdammt noch mal nicht gehen, bis er mir eine Erklärung geliefert hatte, und nicht nur eine für letzte Nacht. Nein, nach allem, was ich gesehen hatte, war ich jetzt der
absoluten Überzeugung, dass nichts davon nur Träume gewesen waren. Etwas ging hier vor, und ich musste herausfinden, was.
Sobald ich in den Club stürmte, überkam mich das seltsame Gefühl, dass ich nicht mehr erwünscht war. Als ob die Anziehung, die der Ort einst über mich hatte, umgekehrt worden wäre und ich mich rasch in Unsicherheit wiegte. Es war eigenartig, den Club auf diese Weise zu sehen, wie eine verlassene alte Stadt im Wilden Westen, die ihren Sheriff verloren hatte. Keine Sicherheitskräfte standen an den Türen, und es war ungeheuerlich still.
Ich atmete tief ein und machte mich auf den Weg zur Haupttreppe, während ich versuchte, nicht von meinem Zorn abzulassen. Ich würde mich nicht von ihm einschüchtern lassen, nicht dieses Mal!
Oben war fast alles leer. Nur eine Kellnerin, Rue, war hier, und gerade einmal fünf Tische waren besetzt. Dravens Tisch gehörte nicht dazu. Ich huschte hinüber zu Karmun, der wie immer hinter der Bar arbeitete. Als er von mir Notiz nahm, hätte ich schwören können, dass er für den Bruchteil einer Sekunde nervös wurde. Aber schnell schenkte er mir ein Lächeln, das freundlicher war als sonst.
»Hey Keira, ich glaube, du wirst heute hauptsächlich unten gebraucht«, sagte er, während er die Theke mit einem nassen Lappen abwischte.
»Karmun, hast du gesehen, was letzte Nacht passiert ist?«, platzte ich stattdessen heraus. Er wirkte, als wäre ihm unbehaglich und gab mir die gelassene Antwort:
»Hmm … Tut mir leid, Keira, ich darf nicht darüber sprechen.« Er kam mir also wieder mit der Geheimnistuerei-Nummer? Heute nicht, Freundchen.
»Und warum nicht? In Anbetracht der Tatsache, dass es um mich geht, habe ich das Recht, es zu erfahren!« Er hielt seine Hände defensiv in die Höhe, und ich seufzte.
»Okay, gut. Ich möchte mit Draven ein Wort wechseln!« Keine Ahnung, woher all der Mut plötzlich kam. Blieb nur zu hoffen, dass er auch andauerte.
»Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?«
»Es ist eine verdammt gute Idee. Nur so bekomme ich endlich die Antworten, die ich suche«, knurrte ich mit erhobenem Kopf.
»Wie du willst … Ich werde es ihm ausrichten. Wieso wartest du nicht einstweilen auf dem Balkon?« Er war sichtlich schockiert darüber, dass ich nach Draven persönlich verlangt hatte. Hatte sich wohl noch niemand je zuvor getraut. Ich nickte und stapfte wütend nach draußen. Und wieso gab es hier überhaupt so viele Balkone? Alles schien sich auf ihnen abzuspielen.
Die kühle Luft zwickte an meiner Haut, und ich zog den Reißverschluss meiner Jacke bis zum Hals hoch. Sie hatte eine große Kapuze und einen hohen Kragen, der als Schal fungierte. Der Gedanke an einen Schal brachte mich wieder zurück zur letzten Nacht, zu dem Moment, bevor alles dunkler und surrealer wurde. So schwelgte ich in meinen Gedanken, und als Draven endlich auftauchte, war ich nicht ganz so vorbereitet wie erhofft.
»Keira, du wolltest mich sehen?« Sein Ton war hart und emotionslos. Mein Puls schnellte wie üblich nach oben. Er hielt Abstand von mir. Nicht wie sonst, wo er normalerweise meinen gesamten persönlichen Raum einnahm. Heute würden die Dinge wohl anders laufen, so viel sagte mir sein Gesicht.
Er trug schwarze Hosen mit einer schwarzen Jacke. Darunter befand sich ein simples graues T-Shirt, das wieder einmal seinen Waschbrettbauch zeigte, den ich gestern Abend genau unter die Lupe nehmen konnte. Dieser lässige Look spiegelte jedoch nicht seine Stimmung wider.
»Ja. Ich wollte mit dir über letzte Nacht sprechen.« Er wirkte nicht im Geringsten beunruhigt. Sicherlich tat er nur so, oder?
»Ah ja, nun, ein unglücklicher Unfall. Ich bin froh zu sehen, dass es dir nach deinem Sturz besser geht.« Da war er wieder. Der irritierende ›Ich bin dein Boss‹-Ton.
»Welcher Sturz?« Ich schüttelte meinen Kopf und spürte, wie die Wärme in meine Wangen kroch.
»Du erinnerst dich wohl nicht daran. Verständlich. Du warst völlig weggetreten. Ich entschuldige mich für das, was geschehen ist. Sei versichert, dass ich keine Kämpfe in meinem Club toleriere. Aber nun, das passiert, wenn Drogen im Spiel sind. Vertrau mir, ich habe alles geregelt.« Ihm vertrauen?
Wie könnte ich diesem Mann, der jetzt vor mir stand, jemals vertrauen? Ich kannte ihn nicht einmal! Er war kalt, und das bittere Nachbeben fror mein Herz ein. Das war nicht Draven. Das war nicht mein Draven! Der Zorn war zurück, baute sich in mir auf wie ein Feuerwerkskörper kurz vor der Explosion.
»Das ist Bullshit! Lüg mich nicht an!« Ich zitterte am ganzen Körper, schäumte nur so vor Wut.
»Wie bitte?« Er klang schockiert und auch sehr sauer, aber das ging mir am Arsch vorbei.
»Das ist nicht das, was passiert ist. Verdammt noch mal, ich bin nicht gestürzt!« Sein eisiges Herz spiegelte sich in seinem Ausdruck wider. Er sah mich an als wäre ich unbedeutend. Als wäre ich ein Niemand.
Nun, das würde ich mir nicht gefallen lassen!
»Und was glaubst du, was genau passiert ist?« Er verschränkte seine Arme und machte seine Skepsis damit umso deutlicher. Also tat ich es. Ich tat, wofür ich hergekommen war, und ich würde jetzt keinen Rückzieher machen. Diesen Kampf würde ich nicht verlieren.
»Wenn du es so spielen willst, schön! Wir beide wissen, was letzte Nacht passiert ist, und wenn du mir vormachen willst,
dass es wieder nur ein ›Schlag auf meinen Kopf‹ war, dann bitte, tu dir keinen Zwang an! Aber ich werde dir das niemals, und ich wiederhole, niemals
, glauben. Und egal, was du tust, um mich zu manipulieren … Ich sage dir jetzt und hier, es wird nicht funktionieren!« Tränen brannten in meinen Augen, aber diesmal verrieten sie mich nicht und blieben fest in meinen Augenwinkeln hängen.
Seine schwarzen Augen enthielten keinen Funken der Leidenschaft, die er mir gestern Nacht so frei geschenkt hatte.
Plötzlich öffneten sich die Türen, und die schöne Rothaarige, die immer an seinem Tisch saß, schlenderte heraus. Sie blieb neben ihm stehen. Etwas an ihr war anders. Etwas, was ich zuvor noch nicht gesehen hatte. Aber was auch immer ich erwartet hatte, was als Nächstes geschah, zermalmte mein Herz und damit jede Hoffnung, die ich mir in meiner Dummheit jemals zu hegen erlaubt hatte.
Sie rieb ihren Körper an ihm, und er umarmte sie in gegenseitiger Zuneigung. Dann warf sie mir einen Blick zu, als bestünde ich aus unsichtbarer Materie.
»Oh, du musst Keira sein, die Kellnerin, die gestern in den Kampf verwickelt wurde. Wie geht es deinem Kopf?« Ihre Stimme beherbergte dieselbe Schönheit, die sie ausstrahlte. Ich musste jeden Atemzug in meinem Körper nutzen, um ihr zu antworten, ohne meinen Tränen freien Lauf zu lassen.
»Gut, danke.« Aus welchem Grund auch immer, vielleicht Ekel, wandte Draven sein Gesicht von mir ab.
»Schön zu hören. Tut mir leid, dass ich euch unterbrochen habe, Dominic. Ich komme später wieder, damit wir die Hochzeit besprechen können.« Nach diesen grausamen Worten war ich mir sicher, dass man das Zerbersten meines Herzens hören konnte. Ich wollte wegsehen. Zum Teufel, ich wollte weglaufen und nie wieder zurückblicken, aber ich war gefangen wie ein
Vogel in einem Glaskäfig. Vom Licht geblendet, ohne Hoffnung, einen Weg aus diesem Alptraum zu finden.
Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und küsste ihn. Das reichte aus, um meine Tränen zu entfesseln. Sie hinterließen eine salzige Straße, der schnell weitere folgten. Ich wandte meinen Blick ab, um sie abzuwischen.
Mir fiel nicht auf, dass sie ging. Alles in meinem Verstand war plötzlich unscharf, verzerrt von Selbstmitleid. Ich wollte darin ertrinken.
»Entschuldige, das war unhöflich. Ich habe dich meiner Verlobten noch nicht vorgestellt. Das war Celina«, sagte er, während er immer noch an seiner irritierenden Gemütsruhe festhielt. Ich hingegen hatte meine verloren. Ich konnte nicht sprechen. Hatte Angst, was aus mir heraussprudeln würde. Zu wissen, dass er verlobt war und so ein perfektes Geschöpf heiraten würde, war schon schlimm genug, aber seine nächsten Worte versetzten mir den Todesstoß.
»Wie es scheint, wurden gewisse Zuwendungen meinerseits missverstanden. Vielleicht habe ich auch einen Teil dazu beigetragen. Eine junge, hyperaktive Fantasie vermag manchmal die Wahrheit zu verdrehen. Angesichts deiner Gefühle halte ich es für das Beste, wenn du nicht mehr hier in der VIP-Lounge arbeitest.« Und mit dem Ende dieses Satzes versiegelte er mein Schicksal in einer Grube des Elends. Er konnte die Tränen sehen, und doch zeigte er mehr Hochmut und Unverfrorenheit als je zuvor. Wir waren Lichtjahre voneinander entfernt, und ich hatte meine Zeit damit verschwendet zu versuchen, die Distanz zu überqueren.
»Richtig … Du hast recht, ganz klar … Was für ein dummes Missverständnis!«
»Ich denke, du arbeitest hart und …«
»Stopp, tu das nicht!«
»Keira, ich …« Obwohl er diesmal einen weicheren Ton anschlug, drang er nicht mehr zu mir durch. Also unterbrach ich ihn mit meiner endgültigen Entscheidung.
»Ich kündige.« Ich hörte ihn seufzen und etwas murmeln, das mir entging.
»Es gibt keinen Grund, gleich das Handtuch zu werfen.«
»Oh, ich denke, es gibt mehr als genug Gründe dafür. Denkst du nicht?«, feuerte ich zurück, und seine Stirn legte sich in Falten.
»Nein, das denke ich nicht. Nicht wenn man bedenkt, wie sehr das meine Schwester kränken wird.«
»Sophia.«
Ich hatte gar nicht daran gedacht, was ich ihr damit antun würde. Egal, was ich letzte Nacht in ihr gesehen hatte. Alles, woran ich denken konnte, war die Freundschaft, die wir geschlossen hatten. Eine Freundschaft, die ich nicht verlieren wollte.
»Sie hält viel von dir und hat dich gut behandelt. Bist du wirklich bereit, dich für ihre Güte mit einer Kündigung zu bedanken, nur wegen unerwiderter Gefühle?« Seine Worte durchbohrten mein Herz wie ein Pfeil, und er sah mich zusammenzucken, als er noch einmal Salz in meine Wunde streute.
»Hör auf!
Ich will das nicht hören.« Nach allem, was zwischen uns geschehen war, konnte ich seine Lügen nicht mehr ertragen.
»Gut. Ich werde unten arbeiten, Sophia zuliebe. Aber nur, bis ich das Auto abbezahlt habe.«
»Keira, das ist nicht notwendig.«
Mit erhobener Hand fauchte ich giftig: »Oh, das ist es, denn ich will nichts
von dir!«
Dieses Mal war er derjenige, der zusammenzuckte, aber ich war noch nicht fertig.
»Keine Sorge, ich werde nie wieder so dumm sein, einen Fuß hier oben hinzusetzen oder irgendeine meiner jungen hyperaktiven Fantasien
dir gegenüber zu zeigen. Das kann ich dir versprechen!« Das war‘s. Meine letzte Chance, mein Gesicht zu wahren. Die kleinste Emotion regte sich in seinen seelenlosen Augen, aber ich wandte meinen Blick ab. Wenn ich auch nur einen Funken von etwas sehen würde, das mir Hoffnung schenkte, würde ich nicht aufhören, um ihn zu kämpfen. Und das war eindeutig ein Kampf, den ich nicht gewinnen konnte.
Ich stolzierte an ihm vorbei zur Tür, aber etwas brachte mich kurz davor zum Stillstand. Ich drehte mich zu seinem Rücken. Qualvoll unterdrückte ich das Schluchzen, das ich mir für später aufhob, wenn ich diese verdammte Hölle hinter mir gelassen hatte!
»Oh, und herzlichen Glückwunsch … Mein Lord!«,
brachte ich gerade noch heraus, bevor meine Stimme versagte.
»Keira, warte! Ich wollte nur …«, begann er, aber ich wartete nicht darauf, den Rest zu hören. Schon im gleichen Raum mit ihm zu sein, glich einer Höllenqual. Ich flüchtete und raste die Treppe hinunter, raus aus dem Gebäude und über den Parkplatz, so schnell, wie mich meine Beine trugen.
Als ich zu meinem Truck kam, sank ich an der Karosserie entlang auf den Boden und weinte, bis jeder Teil von mir schmerzte. Ich bekam nicht mit, wie ich in mein Auto stieg oder es schaffte, den Motor zu starten. Ich konnte kaum die Straße vor mir sehen, aber irgendwie, als hätte etwas meine Kontrolle übernommen, steuerte ich meinen Wagen. Ich konnte nicht einmal fühlen, dass ich mich bewegte. Mein Körper war taub. Eigentlich hätte ich unkontrolliert zittern sollen, aber meine Gliedmaßen machten weiter, bis ich mein Zuhause erreichte.
In der Einfahrt angekommen, stellte meine Hand den Motor ab, und das war‘s. Ich war wieder ich selbst, und es schmerzte überall. Mein Körper kippte nach vorne. Ich schluchzte so stark,
dass es mir den Atem raubte. Ich schnappte nach Luft, aber das erwies sich als schier unmöglich, da die Tränen nicht aufhören wollten zu fließen.
Keine Ahnung, wie lange ich dasaß, aber der Schmerz nahm kein Ende. Irgendwann erkannte ich, dass schon Stunden vergangen waren. Es war bereits dunkel geworden. Zum Glück waren Libby und Frank noch nicht zurück. Endlich fand ich die nötige Kraft, um es zum Haus zu schaffen. Zwei Nachrichten warteten auf dem Anrufbeantworter, und ich drückte widerwillig auf Play.
»Hey Kazzy. Hoffe, du hast Spaß allein zu Hause, denn Frank und ich bleiben noch eine Nacht hier. Kommen morgen gegen Mittag wieder zurück. Hab dich lieb!« Libbys fröhliche Stimme erfüllte den Raum, und noch mehr Tränen rollten aus meinen müden, wunden Augen. Spaß? Wohl kaum. Die zweite Nachricht machte alles zehn Mal schlimmer, als Jerry meine neuen Schichten bestätigte. Wie Draven ihm mitgeteilt hatte, würde er mir ein paar Tage frei geben. Ich müsste erst wieder mittwochs in der Arbeit erscheinen. Das ließ mich wie ein Häufchen Elend auf meine Knie fallen, und ich weinte so bitterlich, dass ich wohl vor Erschöpfung in Ohnmacht fiel.
Ich kam erst wieder zu mir, als die Morgenröte anbrach. Also schleppte ich meinen gebrochenen Körper in mein Schlafzimmer, ließ mich in mein Bett fallen und schlug die Decke über meinen Kopf. Ich wollte nie wieder Tageslicht sehen. Ich wollte in meinem sicheren kleinen Kokon bleiben, wo mir niemand mehr wehtun konnte.
Wie konnte ich es nur so weit kommen lassen? Wie konnte ich es mir erlauben, solche Dinge zu glauben? Draven hatte mich nie gewollt. Er hatte sich nie um mich geschert, und all die Nächte, in denen es den Anschein hatte, als täte er es doch, waren eine einzige, schreckliche Lüge, die ich selbst erschaffen
hatte. Ich hatte Dinge gesehen, die nicht da waren. Dinge, die nicht existierten.
Mein Verstand hatte mich wieder einmal getäuscht.
Ich war völlig ausgelaugt, aber ich hatte kein Auge zumachen können, also kletterte ich gequält aus dem Bett. Ich wünschte, ich könnte einfach in mein Auto steigen und fahren, bis ich das Ende erreichte. Das Ende meines Schmerzes. Ich hatte mich geirrt. Hierher zu kommen, war ein Fehler gewesen. Wie dumm von mir zu glauben, dass ich jemals den Hauch einer Chance hätte, hierher zu gehören! Ich gehörte nirgendwohin. Alles, was ich auf meinem Weg hinterließ, war völlige Zerstörung. Ich war Gift!
Am Ende rief ich RJ an, um ihr zu sagen, dass es mir nicht gutginge und dass ich vielleicht später zu ihr in den Geschichtsunterricht stoßen würde. Sie fragte natürlich, was mir fehlte. Mit meiner krächzenden Stimme kam ich mit einer Grippe-Entschuldigung davon. Ein Blick in den Spiegel zeigte, dass meine Stimme nicht der einzige Beweis dafür war. Meine Haut hatte keine Farbe mehr, nur rote Flecken, die meine Augen umkreisten als hätte ich einen Kampf verloren. Was in jeder Hinsicht der Fall war. Kein Weiß war in ihnen zu sehen, nur blutunterlaufene Linien. Meine Nase schmerzte vom ständigen Reiben, und die Haut um sie herum schuppte sich. Meine Lippen waren an einigen Stellen gerissen und blutig von den Zähnen, die ich permanent in sie gebohrt hatte.
Letzten Endes verzichtete ich darauf, im Unterricht zu erscheinen. Sophia gegenüberzutreten, konnte ich nicht ertragen. Die Wunde, die Draven mir zugefügt hatte, war noch zu frisch. Schließlich raffte ich mich auf, doch ohne einen Blick auf
die Uhr zu werfen wusste ich nicht, wie lange ich nur dagesessen hatte, um mich in meinem Selbstmitleid zu suhlen.
Sobald ich angezogen war, wurde mein Kopf etwas klarer. Ich musste etwas tun, sonst würde ich das niemals verkraften. Schließlich hatte ich schon Schlimmeres überstanden, nicht wahr? Fühlte sich nur nicht so an. Ich trug die Narben meiner Vergangenheit an meinem Äußeren, aber Draven hatte auch seine in mir hinterlassen. Tief in meinem Innersten.
Also, was war schlimmer? Ich kannte die Antwort auf diese Frage.
Ich zog den alten Pullover meines Vaters an und packte zwei Dinge, bevor ich das Haus verließ: meine Autoschlüssel und das Bild von Draven, das ich gezeichnet hatte.
Ich stieg ins Auto und fuhr schneller, als es die Geschwindigkeitsbegrenzung erlaubte. Das Brummen des Motors dämpfte meine dunklen Gedanken ein wenig. Jack hatte mir von einem Ort erzählt, und ich fuhr in diese Richtung. Zum Glück war er weit von Afterlife entfernt. Dieser Name … War es das, was er bedeutete? Dass Draven mein Herz und meine Seele stehlen würde und es mein Jenseits sein sollte?
Ich vergoss keine Tränen mehr. Ich hatte keine mehr übrig. Er hatte mir alles genommen. Alles, was mir blieb, war zu versuchen, wieder zu der Person zu werden, die ich vor unserer Begegnung gewesen war. Ich musste wiedergeboren werden, und es gab nur eine Möglichkeit, das zu erreichen. Es würde hart werden. Viel härter als beim letzten Mal …
Nach einer Reihe von Schildern, die mich vor den Klippen warnten, fand ich eine unbefestigte Straße. Für einen Moment dachte ich an Jack und fragte mich, wie alles ausgegangen wäre, wenn ich ihn zuerst gesehen hätte. Wenn er der Mann meiner Träume gewesen wäre.
Die Straße kam nach einem großen Halbkreis zu einem Ende, wo in der Regel die Autos parkten. Ich stellte den Motor ab
und stieg aus. Der kalte Wind peitschte in mein Gesicht, als ich erkannte, wie hoch oben ich war. Die Kälte war gut. Sie machte die Dinge klarer und verankerte mein Ziel fest in meinem Kopf. So sehr mich auch der Hang nach unten verängstigte, schritt ich zum Klippenrand. Was hatte ich schließlich noch zu befürchten? Alle meine Ängste hatten sich bewahrheitet. Man hatte mich benutzt und weggeworfen, aber dieses Mal würde ich alles ändern.
Die Bäume schwankten im Wald. Der perfekte Ort, um meiner Besessenheit ein Ende zu setzen.
Ich zog das Bild von Draven aus meiner Jeanstasche und setzte mich mit den Beinen überkreuzt ganz nah an den Rand. Ich erlaubte mir einen langen Blick auf die Zeichnung. Das war meine Wiedergeburt. Ich würde jedes Stück von ihm loswerden, einschließlich aller Gedanken, die sich um ihn drehten.
Ich besaß die mentale Fähigkeit, die Dämonen aus meinem Geist zu verjagen, indem ich sie auf ein Blatt Papier brachte und ein für alle Mal aus meinem Leben verbannte. Aber ich hatte die Bilder immer behalten und eigentlich nie wirklich verstanden, warum. Das brachte mich zum Nachdenken. Der einzige Weg, ihn aus meinem Kopf zu bekommen, war, ihn aus meinem Gedächtnis zu entfernen.
Ich küsste meine Hand und legte sie sanft auf sein Gesicht. Bevor ich es mir noch mal anders überlegen konnte, begann ich, es mit feuriger Leidenschaft zu zerreißen, bis ich nur noch winzige Fetzen in meinen Händen hielt. Dann wartete ich. Ich schloss meine Augen und hielt ganz still, während ich versuchte, die Luft um mich herum zu fühlen. Vielleicht würde es nichts bringen. Vielleicht doch. Selbst wenn es nur ein klein wenig half, könnte es ausreichen, den schrecklichsten Schmerz, den ich je zu spüren bekommen hatte, zu betäuben. Also wartete ich geduldig auf den richtigen Moment, um ihn für immer loszulassen.
Dann kam er über mich. Der Wind blies meine Haare um meinen Kopf. Ich hob meine Hände, öffnete sie und spürte, wie der Schmerz mit den Papierfetzen verflog. Sie wehten nach oben, hoch in den Himmel, wo sie hingehörten … wo er
hingehörte.
Ich beobachtete, wie sie in den grünen Abgrund des Waldes flogen und wartete, bis kein Stück Papier mehr in Sichtweite war.
Jetzt konnte ich weitermachen. Jetzt konnte ich mich endlich …
Verabschieden.