32
Die Realität begreifen
N ach diesem Tag fühlte ich mich ein wenig besser. Der Schmerz verschwand nie völlig. Stattdessen blieb ein dumpfes Pochen. Alles andere in mir war taub, aber ich lebte mein Leben weiter. Sophia kehrte nicht mehr in den Geschichtskurs zurück. Ich wusste nicht einmal, ob sie krank war oder das College hingeschmissen hatte, aber es schien mir mehr als nur Zufall zu sein.
Offensichtlich durfte niemand darüber sprechen. Der Einzige, der nett zu mir war, war Jerry. Aber auch das, schätzte ich, war inszeniert. Ich durchlief meine Schichten wie eine Maschine, nicht weil ich es wollte, sondern weil ich es musste. Aber je mehr ich arbeitete, desto weniger schmerzte es, im Club zu sein. Dann fingen sogar die anderen wieder an, mit mir zu reden, und Mike und ich wurden wieder Freunde. Wir flirteten sogar gelegentlich miteinander. Endlich entspannte sich die Lage. Und ich mich auch.
Nichts passierte. Auch keine Träume mehr von ihm. Sie hatten natürlich nicht aufgehört. Nein, sie hatten nur eine dunklere Wendung genommen. Nachdem ich vier Mal mitten in der Nacht schreiend aufgewacht war, entschied ich mich, einen Therapeuten aufzusuchen.
Ich vereinbarte einen Termin mit einem Doktor Goff. Die pfirsichfarbenen Wände in seinem Warteraum waren mit hässlichen Bildern von Sommerblumen in Töpfen geschmückt und einem kleinen Mädchen, das glücklich mit seinem Hund spielte. Sie strahlten nicht gerade eine beruhigende Wirkung aus. Seit diese schrecklichen Alpträume angefangen hatten, schien ich eine düstere Haltung zum Leben eingenommen zu haben, und ich versuchte verzweifelt, dem zu entkommen. Ich fand in nichts mehr Spaß oder etwas Gutes, und das jagte mir allmählich Angst ein.
Der einzige Frieden, den ich fand, war am Rande der Klippenwand. Dort saß ich stundenlang, genoss die Aussicht und zerbrach mir den Kopf darüber, an welchem Punkt in meinem Leben etwas schiefgelaufen war. Ja, nicht die gesündeste Denkweise, aber wenn dein Herz zerrissen und dein Körper zerbrochen sind, ist es schwer, an der ›Alles passiert aus einem Grund‹-Logik festzuhalten.
Die Frau an der Rezeption spähte über ihre dicke Brille und sagte mit quietschender Stimme meinen Namen.
»Du kannst jetzt hinein.«
Ich betrat das Zimmer, das mit seiner Inneneinrichtung verzweifelt versuchte, einen heimeligen Charme zu versprühen. Ein kläglicher Versuch, dich zu beschwichtigen und nicht an die Gründe zu denken, die dich überhaupt hierhergeführt hatten. Ein kleiner Sessel stand neben einer großen Couch. Regale dekorierten die Wände, gefüllt mit Selbsthilfebüchern und ein paar Familienfotos.
Doktor Goff war ein Mann mittleren Alters mit einem Vollbart, der hier und da graue und rote Flecken aufwies. Mit seiner kleinen Brille sah er aus wie jeder andere Durchschnitts-Therapeut. Als ob, sobald sie Erwachsene waren, Leute auf sie zukämen mit dem Satz ›Weißt du, du siehst irgendwie aus wie ein Therapeut oder ein Arzt‹, und sie antworteten ›Okay, dann werde ich das auch‹.
Er saß an einem Schreibtisch, der mit einem Laptop und viel Papierkram überfüllt war, und deutete mir an, Platz zu nehmen. Für eine professionelle Person wirkte er nicht sehr organisiert.
»Miss Johnson, ich freue mich, Sie kennenzulernen. Entschuldigen Sie die lange Wartezeit, aber ich hatte einige Schwierigkeiten, Ihre Krankenakte ausfindig zu machen. Woher sagten Sie, kommen Sie?« Er streichelte seinen buschigen Bart.
»Das ist der Deal, Doc. Ich will nicht, dass jemand meine Vergangenheit kennt. Ich habe sie hinter mir gelassen und will, dass sie auch dort bleibt. Ich bin nicht hierhergekommen, um meine alten Probleme aufzurollen«, sagte ich in Eile und räumte damit gleich alles aus dem Weg, was ich zuvor geprobt hatte. Therapeuten besaßen ein Talent, unbemerkt Informationen aus einem zu quetschen. Wenn ich nicht von Anfang an die Grundregeln festsetzte, dann könnte ich schnell ins Fettnäpfchen treten.
»Warum sind Sie dann hier?«, war seine ruhige Frage.
»Ich bin hier, weil ich nicht schlafen kann. Und wenn ich schlafe, wache ich um Hilfe schreiend von meinen Alpträumen auf.«
»Von wem?«
»Pardon?«
»Sie sagten, Sie schreien um Hilfe, woraus sich die Frage ergibt, von wem Sie sich Hilfe erhoffen?« Die Frage erschien mir eigenartig. Eine, auf die er keine wahrheitsgetreue Antwort bekommen würde.
»Von meiner Schwester, oder vielleicht auch von jemand anderem.«
Er hob eine Augenbraue, als ob er mir nicht glaubte, ging aber nicht näher darauf ein.
»Warum erzählen Sie mir nicht von diesem Traum?«
»Gut, also, ich bin in einem Club und dabei, meine Schicht zu beginnen, denn Sie müssen wissen, ich arbeite dort …«
Seine Augen wurden sehr dunkel und intensiv, was mich irgendwie dazu brachte, die Geschichte hinauszuzögern.
»Fahren Sie fort. Was passiert in diesem Club?«, drängte er.
»Ich gehe in das Hinterzimmer, um meine Sachen abzulegen. Da hängt dieser vergoldete Spiegel.« Ich zögerte wieder, aber er deutete mir mit gehobener Hand an, die Geschichte weiterzuerzählen.
»Ich schaue in den Spiegel und sehe stattdessen jemand anderen, der zurück starrt.«
»Wen?«, fragte er, und ich wiederholte die Frage.
»Wen?
»Ja, von wem werden Sie angestarrt?«
»Nur irgendein Typ, aber zurück zu …«
Er stoppte mich wieder.
»Nur irgendein Typ? Jemand, den Sie kennen? Oder vielleicht jemand, mit dem oder für den Sie arbeiten?« Er traf damit genau ins Schwarze, und ich erstarrte.
»Mein Boss … Jedenfalls … Ich drehe mich um und sehe, das Zimmer ist leer und die Tür geschlossen. Also drehe ich mich zurück zum Spiegel und sehe wieder nur mich. Nur dass etwas anders ist. Irgendwie falsch. Ich sehe nicht so aus wie sonst. Ich trage meine Haare offen, was ich nie tue, und ich trage auch andere Kleidung.«
»Erkennen Sie Ihr Alter Ego aus einer anderen Zeit?«, fragte er mit einem prüfenden Blick über seine Brille, als ob er ganz genau meine Reaktion sehen wollte. Ich fragte mich, ob er wusste, dass ich ihm eine Lüge auftischte, als ich antwortete:
»Nein.«
»Gut, dann fahren Sie bitte fort.« Er kritzelte Notizen in ein rotes, ledergebundenes Buch.
»Also, das Mädchen … Ich meine, ich … Sie starrt mich hasserfüllt an, und ihr Anblick jagt mir unheimliche Angst ein. Ich wende mich ab, aber dann höre ich ein Klopfen auf dem Glas, also schaue ich zurück und finde eine Scherbe in ihrer Hand.« Ich erschauderte bei dem Gedanken an das quälende Bild in meinem Kopf.
»Ich verstehe. Und handelt es sich bei dieser Scherbe um ein Stück von dem Spiegel, in den Sie blicken?«
Ich nickte.
»Ja, ein langes Stück. Dick, wo sie es hält, und es läuft zusammen in eine scharfe Spitze, die sie auf mich richtet. Ich schreie: ›Was willst du?‹ Dann formt sie das Wort ›STIRB‹. Ihr Arm schießt aus dem Spiegel und zerschlitzt meine Arme, bis ich wieder überall blutverschmiert bin. Dann wache ich auf.« Natürlich wusste ich, was der Traum zu bedeuten hatte, das musste mir kein Arzt erklären. Alles, was ich brauchte, waren die Pillen.
»Ah.« Sein Blick fiel auf meine bedeckten Arme.
»Schon öfter Selbstmordversuche unternommen?«, warf er unverblümt in den Raum, und ich hustete. Nicht zu fassen! Sollten Ärzte nicht etwas feinfühliger mit solchen Fällen umgehen?
»Nein!«, rief ich aufgebracht.
»Entschuldigung, hat Sie das verstört?«
»Eher überrumpelt.«
»Tut mir leid, aber ich musste etwas tiefer graben. Da mir keine Aufzeichnungen über Ihre medizinische Vergangenheit vorliegen, tappe ich hier im Dunkeln. Also, Sie sagten, Sie waren wieder mit Blut verschmiert … Worauf beziehen Sie sich hier?« Ah, deshalb hatte er nachgehakt. Ich war in das verdammte Fettnäpfchen getreten.
»Auf nichts, war nur so dahergesagt.«
»Verstehe. Also, Sie meinten, Sie können nicht schlafen. Ist in letzter Zeit etwas Traumatisches oder extrem Emotionales vorgefallen?« Seine Augen blickten tief in mich hinein, als ob sie versuchten, die Lügen aus meinen Aussagen herauszukratzen.
»Nein, ich habe viel um die Ohren mit College und so. Außerdem arbeite ich nachts, also vielleicht bin ich etwas ausgebrannt, aber ich brauche unbedingt Schlaf.« Ich rieb meine müden Augen, um noch eins draufzusetzen.
»Okay, Sie arbeiten also nachts. In dem Club aus Ihren Träumen?«
»Ja, aber das hat damit nichts zu tun.« Ich ging in die Defensive und er wusste es, also drängte er weiter.
»Sie erwähnten auch Ihren Boss. Hegen Sie Gefühle für ihn?« Oh, komm schon! Jetzt wollte er mich über mein nicht existentes Sexleben ausquetschen.
»Er ist mein Boss«, sagte ich feststellend, als ob das alles erklärte.
»Und dennoch kann die eine oder andere Sache zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer passieren.«
»Ja, ich weiß, aber es ist nichts passiert.« Ich war so nahe dran, einzuknicken, dass ich die Tränen spüren konnte, die zum ersten Mal seit Wochen auf meine Drüsen drückten.
»Hmm … Da bin ich mir nicht so sicher. Sie sagen, dass nichts passiert ist, aber sobald ich es erwähne, wirken Sie bestürzt. Ich bin hier, um Ihnen zuzuhören, Keira, also geben Sie mir eine Chance.« Und hier war es. Die Art, wie er meinen Namen sagte. Es erinnerte mich so sehr an Draven, dass ich hätte schwören können, dem Mann selbst gegenüberzusitzen. Eine Träne rollte meine Wange hinunter, und ich sprach die Worte, die ich ihm nicht sagen wollte.
»Gut, Sie wollen die Wahrheit? Ich habe mich in meinen Boss verknallt, und ich war so dumm zu glauben, er würde meine Gefühle erwidern, aber da lag ich falsch. Jetzt versuche ich mein Bestes, darüber hinwegzukommen.« Ich wischte mir die Tränen mit dem Taschentuch ab, das er mir reichte.
»Ich verstehe … In diesem Fall verschreibe ich Ihnen Benzodiazepine, die Ihnen helfen, sich zu entspannen, aber die sind nur für einen kurzen Zeitraum gedacht. Sie sollen davon nicht abhängig werden. Und ich will, dass Sie mich einmal die Woche für vier weitere Sitzungen besuchen, dann sehen wir weiter«, sagte er in einem seltsam betrübten Ton.
Erleichtert, dass die Sitzung zu Ende war, stand ich auf. Er händigte mir das Rezept aus und schüttelte meine Hand. Als seine Haut mit meiner in Berührung kam, breitete sich ein eigenartiges Gefühl in mir aus. Etwas Vertrautes, an das ich mich nicht erinnern konnte.
Eines war klar – ich würde ihn kein zweites Mal besuchen. Er war zu gut darin, meine Träume zu analysieren. Nicht lange, und ich würde ihm die ganze Geschichte meiner traurigen, zermürbenden Vergangenheit erzählen. Therapeuten waren der Überzeugung, die direkte Auseinandersetzung mit unseren Ängsten wäre die einzige Möglichkeit, ein Problem zu lösen. Tja, ich hatte das bereits getan, und ich war nicht bereit, es noch mal zu durchleben.
Libby hatte Frank endlich von der Schwangerschaft erzählt, nachdem der Ultraschall bestätigte, was sie bereits gewusst hatte. Frank war vor Freude fast an die Decke gesprungen und hatte es allen erzählt, die er kannte. Und auch ein paar, die er nicht kannte. Ich war dabei gewesen, als Libby unserer Mutter die Nachricht überbracht hatte. Sie hatte so viel geweint, dass mein Vater letzten Endes das Gespräch weiterführen musste.
Aus diesem Grund hatte ich Libby und Frank das Ereignis im Club und meinen Besuch beim Arzt verheimlicht. Sie glaubten, dass ich noch immer in der VIP-Lounge arbeitete und hatten keine Veränderung an mir bemerkt. Und so sollte es auch bleiben. Es schien zu funktionieren. Manchmal sind Menschen so absorbiert von ihrem eigenen Glück, dass Ihnen die Wahrheit verborgen bleibt. Es ist nicht so, dass sie es nicht verstehen würden, aber ich konnte diese Blicke nicht ertragen.
Natürlich konnte ich es nicht vor allen verheimlichen. Jack und RJ sahen mich regelmäßig im Club, also hatte ich ihnen eine Lüge aufgetischt. Ich hatte Ihnen erzählt, dass mich der VIP nicht mehr brauchte, da das Mädchen, für das ich eingesprungen war, wieder zurück sei. Genau genommen war das keine Lüge. Sie brauchten mich tatsächlich nicht mehr. Er brauchte mich nicht mehr.
Jack war großartig gewesen, ein wahrer Freund, während RJ das Thema bei jeder Gelegenheit zur Sprache brachte. Dankenswerterweise griff Jack eines Abends ein, nachdem meine Schicht zu Ende war.
»RJ, lass es gut sein. Siehst du nicht, dass sie nicht mehr darüber reden will?«, verteidigte er mich.
»Tut mir leid, ich verstehe es einfach nicht!«
»Was für eine Überraschung!«, blaffte Jack sarkastisch. RJ fischte einen Eiswürfel aus ihrem Glas und warf ihn in seine Richtung. Leider verfehlte sie ihn und traf stattdessen ein unschuldiges Mädchen, das hinter ihm vorbeiging. Sie drehte sich um, um den Täter zu suchen, und RJ zeigte schnell auf Jack, der sich nichts anmerken ließ. Sobald das Mädchen Jacks schönes Brad Pitt-Gesicht sah, lächelte sie, als wäre es eine gute Flirttaktik, einen Eiswürfel zu werfen. Ich lachte. Ich meine, okay, das ist süß, wenn du zehn bist.
»Hey, kleiner Bruder. Wieso fragst du sie nicht, ob sie dich zum Halloween Event begleitet?«, fragte RJ, ohne ihre Stimme zu senken. Das Halloween Event fand hier im Club statt, und viele Bands würden gegeneinander antreten. Eine große Nacht, die jährlich stattfand und in der Goth-Szene sehr beliebt war.
»Nein, danke, ich passe.« Sie waren sich so was von gar nicht ähnlich, dass ich manchmal vergaß, dass sie verwandt waren. In dieser Nacht verließ ich den Club früher, und Jack begleitete mich zu meinem Auto. Ich fühlte mich so wohl bei ihm, dass ständiges Flirten zwischen uns auf der Tagesordnung stand.
Folglich fand ich nichts Ungewöhnliches daran, als er seinen Arm um mich legte, während wir den Club verließen. Ich hatte meine ›Keine Dates‹-Regel klargemacht, und Jack hatte mich auch nicht mehr gefragt. Also schätzte ich, dass er es geschnallt hatte. Er drehte sich zu mir um, bevor ich in mein Auto stieg.
»Keira, ich wollte dich etwas fragen. Aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass bei dieser VIP-Sache mehr dahintersteckt, als du zugibst, und es geht mich auch nichts an.« Mir wurde schnell klar, dass er mir die Lüge wohl nicht abgekauft hatte. War Jack der Einzige, der mich wirklich kannte?
»Ist okay, wenn du nicht darüber sprechen willst. Glaub mir, ich kann nachvollziehen, wie sich das anfühlt … Mehr als du dir vorstellen kannst.« Trauer schimmerte in seinen Augen. Gefühle, die tiefer gingen, als mir vielleicht bewusst war.
»Jack, du weißt, wenn du jemanden zum Reden brauchst, ich bin hier, okay? Ich bin ein besserer Zuhörer als ein Sprecher.« Wir lachten beide bei dem Versuch, die Stimmung aufrechtzuerhalten.
»Ich weiß. Du bist eine gute Freundin, aber …« Er fand irgendwie die Worte nicht, von denen ich wusste, dass er sie aussprechen wollte. Daher überraschte ich mich selbst, als mir die nächste Frage herausplatzte.
»Jack, willst du mich zum Halloween Event begleiten?« Seine Augen weiteten sich in Erstaunen, als ob das das Letzte wäre, was er erwartet hatte.
»Du willst, dass ich mit dir gehe?«, fragte er, um sicherzustellen, dass er mich nicht missverstanden hatte.
»Ja, aber hey, kein Problem, wenn du mit jemand anderem gehst«, fügte ich schnell hinzu, für den Fall, dass ich etwas missverstanden hatte.
»Gott, nein. Ich wollte dich die ganze Zeit über fragen, aber es schien nie der richtige Zeitpunkt zu sein.« Ein großes, ansteckendes Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus.
»Aber hey, musst du nicht arbeiten?«
»Nein, ich habe mir die Nacht freigenommen, also bin ich ein freier Vogel.« Und das stimmte ausnahmsweise. Aus irgendeinem Grund hatte mir der gruselige Gary mitgeteilt, dass ich nicht gebraucht werde, und das in einer Nacht, wo wohl doppelt so viel los sein würde als sonst. Das war mir schleierhaft, aber ich beschwerte mich nicht.
»Also, willst du mein freier Vogel sein für diese Nacht?«, neckte Jack und schwenkte wieder über zu seinen Flirtsprüchen. Ich grinste ihn an.
»Ja, Jack, sehr gerne.« Im Gegenzug erhielt ich ein wunderschönes Lächeln von ihm.
Nachdem wir eine Uhrzeit für das Date am Samstag vereinbart hatten, rollte ich meinen Wagen mit gemischten Gefühlen vom Parkplatz. War es eine gute Idee, mit Jack auf ein Date zu gehen? Klar mochte ich ihn, wer denn nicht? Aber irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich mir etwas vormachte. Ich war definitiv noch nicht über Draven hinweg. Andererseits – würde ich das jemals sein?
Das bedeutete nicht, dass ich als Nonne leben musste! Ich musste wieder nach vorn blicken, vor allem jetzt, wo ich endlich wieder Schlaf fand und aus meinem Zombie-Zustand erwacht war.
Als ich nach Hause kam, war ich davon überzeugt, richtig gehandelt zu haben. Ich musste mein Leben leben und durfte nicht davor zurückschrecken. Ab jetzt würde ich jede Gelegenheit ergreifen, und morgen Nacht würde ich gleich damit anfangen. Und eines war sicher: Ich würde mich auch dementsprechend in Schale werfen! Ich wollte Jack umhauen. Oder es zumindest versuchen.
Libby war noch wach, als ich heimkam. Gut. Ich brauchte nämlich ihre Hilfe, und ich wusste, sie würde mir diesen Gefallen nicht ausschlagen.
»Hey Libs, ich muss dich um einen riesigen Gefallen bitten.« Sie sah sich gerade mit Frank einen Actionfilm an und hob ihren Kopf von seiner Schulter.
»Klar, was brauchst du?«
»Na ja, bitte mach jetzt kein Drama, aber ich habe morgen Abend ein Date und brauche ein Kostüm.« Sobald ich das Zauberwort ›Date‹ fallen ließ, war sie hellwach. Sogar Frank wandte seine Augen von Van Dammes Kickboxing ab, um mich zu beäugen.
»Ja, auf jeden Fall, aber ich muss es wissen … Mit wem?«, fragte sie, als sie aufstand.
»Jack.«
»Hast du ihn nicht bisher immer abblitzen lassen?«
»Ja, aber diesmal hab ich ihn gefragt.«
Sie warf Frank einen ungläubigen Blick zu.
»Okay, ähm … Als was willst du dich verkleiden?« Sie folgte mir in die Küche.
»Keine Ahnung. Etwas, das in die Goth-Richtung geht.« Sie klatschte in die Hände, und ich drehte mich erschrocken zu ihr um.
»Ist das gut?«, fragte ich und konnte fast die Zahnräder sehen, die in ihrem Kopf klickten.
»Oh ja, ich habe genau das richtige Outfit, aber ich denke, ich muss ein paar Änderungen vornehmen.«
»Wieso, an was hast du gedacht?«, fragte ich skeptisch. Hoffentlich würde ich das morgen nicht bereuen.
»Ich habe dieses alte Kostüm, das ich letztes Jahr getragen habe, als Frank und ich auf dieser Mittelalterparty waren. Ein schwarz-violettes Kleid mit Korsett.« Okay, ich bereute es jetzt schon!
»Oh nein, kein Korsett!«
»Ach, komm schon, du wirst toll aussehen. Außerdem, wenn du dich immer so anziehst wie sonst, hätte Halloween keinen Sinn.«
»Und was ist der Sinn von Halloween genau?« Ich verschränkte meine Arme.
»Es ist die einzige Nacht, in der du jemand anderes sein kannst. Dann bist nicht du diejenige, die sich aufputzt, sondern dein Halloween-Ich.«
»Das ergibt überhaupt keinen Sinn, das weißt du, oder?« Sie schüttelte den Kopf.
»Was glaubst du, werden die anderen tragen? Du hasst es, herauszustechen, oder? Und ich kann dir garantieren, wenn du dich nicht sexy anziehst, wirst du die Einzige sein … Somit sticht Kazzy heraus.« Ergab irgendwie Sinn, wenn sie es so formulierte. Also gab ich nach. Sie durfte mit mir anstellen, was sie wollte. Was, wie ich herausfand, auch Make-up und Haare inkludierte. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass ich im Begriff war, einen kolossalen Fehler zu begehen, aber sie war so begeistert von der Idee, dass ich ihr nicht die Laune verderben wollte.
Am nächsten Tag war Libby schon übermotiviert, bevor ich überhaupt aufgewacht war. Sie weckte mich früher auf, als mir lieb war und brachte mir Tee. Danach befahl sie mir, unter die Dusche zu hüpfen. Als ich anfing zu meckern und meinte, dass ich hungrig sei, drückte sie mir die Seife in die Hand, sagte: »Hier, iss das« und schlug die Tür zu. Kurz danach hörte ich ein Klopfen an der Tür und stellte das Wasser noch mal ab.
»Was?«, schrie ich durch das Badezimmer.
»Benutz das Zeug, das ich dir in die Dusche gestellt habe!«, rief Libby zurück.
»Okay!« Ich drehte das Wasser wieder auf und verwendete alle Lieblingsprodukte von Libby, die nach Passionsfrucht dufteten und meinen Körper wie eine Creme bedeckten. Als ich aus der Dusche stieg, war ich von Kopf bis Fuß weich wie ein Babypopo.
Libby föhnte meine Haare, während ich frühstückte. Dann betrat Frank die Küche und wühlte im Kühlschrank.
»Habt ihr Spaß, Ladys?« Ich wollte mich umdrehen, um etwas Sarkastisches zu entgegnen, aber Libby zog fest an meinen Haaren.
»Au! Gott, Libs, bitte steig nicht ins Beauty-Business ein, okay?«
»Und warum nicht?«, fragte sie, Hände auf den Hüften.
»Weil ich nicht will, dass du verklagt wirst.«
»Ach, sei still!« Sobald meine Haare trocken waren, drehte sie sie in riesige Lockenwickler, bis ich aussah, als könnte ich einen Radiosender empfangen.
»Wofür sind die? Ich trage meine Haare nicht offen.«
»Ich weiß, aber wenn ich sie hochstecke, will ich lockige Enden. Vertraust du mir nicht?«
Die Antwort in meinem Kopf war nicht die, die sie erhielt.
»Natürlich, aber …«
»Kein ›aber‹. Überlass das dem Profi, bitte«, maulte sie und fuchtelte mit dem Kamm, als wäre er ihr Zauberstab.
Nachdem sie mit meinen Haaren fertig war, durfte ich die Folterkammer verlassen, während sie an meinem Kostüm arbeitete. Sie hatte bereits meine Maße genommen, die ihren sehr ähnlich waren. Zum Glück hatten wir auch die gleiche Schuhgröße und ich konnte mir von ihr ein Paar ausleihen.
Ehrlich gesagt war mein Tag eher unproduktiv, da es sich als äußerst schwierig erwies, sich mit dem schweren Zeug auf meinem Kopf irgendeiner Beschäftigung zu widmen. Nachdem sich Libby meine Nägel und Augenbrauen vorgeknöpft hatte, war ich bereit für das Make-up. Libby liebte ganz klar jede Minute davon, und ich fühlte mich wie eine lebensgroße Puppe. Sie verbrachte eine halbe Ewigkeit damit, mich zu schminken. Mein Gesicht begann schon zu jucken vom langen Stillhalten.
»Wann holt dich Jacky Boy ab?«, fragte sie, als sie meine blassen Wangen puderte.
»So um acht. Warum?«, war meine etwas besorgte Gegenfrage.
»Nur damit ich weiß, wie viel Zeit mir noch bleibt.«
»Libs, es ist erst sechs.«
»Ja, aber ich muss noch deine Haare machen und dir das Kleid anziehen.« Ich hatte das Kleid noch nicht gesehen, da sie mich damit überraschen wollte. Ich kannte aber ihr Motiv. Sie wollte warten, bis es für mich zu spät war, einen Rückzieher zu machen. Sie ließ mich auch kein einziges Mal in den Spiegel sehen. Sie hatte nichts ausgelassen, von der Wimpernzange für den extra Schwung bis hin zur Haarspange, die farblich zum Kleid passte.
Als endlich alles erledigt war, blieb mir gerade noch Zeit, in das Kleid zu schlüpfen. Jack war schon da und saß unten bei Frank, um sich mit ihm ein Spiel anzusehen. Noch ein kurzer Blick in den Spiegel, und mir verschlug es die Sprache. Ich war total von den Socken. Libby sah mich mit Tränen in den Augen an, ihre Hände auf dem Mund, als sie auf meine Reaktion wartete. Ich konnte nicht glauben, dass das tatsächlich ich war.
Ich sah verdammt heiß aus!
Ein enganliegendes Korsett aus einem schwarz-violetten Samtmaterial brachte meine Kurven genau an den richtigen Stellen zum Vorschein. Es war hinten mit einem dicken violetten Band verschnürt, das sich über meinen ganzen Rücken zog und meine Pobacken berührte. Der Rock war im selben Design gehalten und verdrehte sich vorne bei einem Bein, wo ein großer Schlitz meinen Oberschenkel entblößte.
Der Rest hing in Schichten knapp bis zum Boden, wobei einige Stellen mit einem netzartigen Material versehen waren. Er bewegte sich fließend, als ich mich vor dem Spiegel drehte. Ein Bein war komplett zu sehen, während das andere unter den vielen schwarzen Schichten versteckt blieb.
Aber das war nicht das, was mir die größten Sorgen bereitete. Nein, es war das steife Stabkorsett, das den Blick auf meine Oberweite lenkte, die ich normalerweise nicht betonte. Ich wurde auch in kniehohe, schwarze Lederstiefel gezwängt, doch die hohen Absätze waren überraschenderweise nicht so unangenehm wie ich befürchtet hatte.
Meine Handschuhe waren schon an Ort und Stelle. Sie passten mit ihrem violetten Samt zum Outfit und reichten bis weit über meine Ellbogen, was mir nur recht war.
Nachdem ich meine Augen von dem Kleid abgewandt hatte, inspizierte ich mein Gesicht. War das wirklich ich? Ich war immer noch blass, aber ein Hauch von Rot blitzte auf meinen Wangen.
Ein langer Lidstrich zierte meine smoky geschminkten Augen, der sich in den äußeren Augenwinkeln leicht nach oben wölbte. Lange, geschwungene Wimpern umrahmten sie. So lang, dass die Spitzen meine Augenlider kitzelten.
Ich leckte meine Lippen, aber die dunkelrote Farbe blieb bestehen und gab ihnen mehr Volumen. Ich drehte meinen Kopf, um meine Haare zu begutachten. Sie waren hochgesteckt und eingedreht, mit ein paar Locken, die bis zu meinem Hals herabhingen. Die kürzeren Strähnen wanden sich um die Form meines Gesichts.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, flüsterte ich, und Libby grinste.
»Du musst nichts sagen. Und deine Zeit ist ohnehin um.«
Jetzt stand der schwere Teil an. Jetzt musste ich Menschen gegenübertreten. Und obwohl ich mir selbst geschworen hatte, es nicht zu tun, rutschte der eine Gedanke in meinen Geist und blieb darin stecken …
Würde mich Draven sehen?