L
ibby musterte mich ein letztes Mal und fummelte an meinem Rock. Dann fiel ihr etwas ein und sie huschte davon, bevor sie mit einem roten Lippenkonturenstift zurückkam.
»Wozu ist das?«, fragte ich, als sie sich zu meinem Hals neigte.
»Wenn dich jemand fragt, was du bist, kannst du sagen: ›Ein Opfer‹. Siehst du?« Sie drehte mich noch einmal vor dem Spiegel und zeigte auf zwei rote Punkte an meinem Hals, die sie dorthin gemalt hatte. Großartig! Das bombardierte mich nur mit Bildern von einem gewissen dunklen Jemand, der mich festhielt, um mir in den Hals zu beißen.
Ich schnappte mir meine schwarze Jacke und machte sie bis obenhin zu.
»Was tust du da?«, protestierte Libby.
»Ich will nicht, dass Frank mich so sieht. Keine Sorge, ich nehme sie im Club ab«, sagte ich, als sie schmollte.
»Danke, Libs. Sieht echt klasse aus.« Und schon bald lächelte sie wieder. Ich verstaute meine Geldbörse in meiner Jackentasche, und Libby schob auch gleich einen roten Lipgloss hinein.
»Nur für den Fall«, sagte sie und machte Kusslaute, als wäre sie fünf. Ich konnte es nicht unterlassen, mit den Augen zu rollen.
Als ich mich auf den Weg nach unten machte, flatterten die ersten Schmetterlinge in meinem Bauch. Nein, eher riesige Käfer. Jack und Frank saßen im Wohnzimmer und diskutierten angeregt über das Spiel. Als Libby sich hinter ihnen räusperte, drehten sie sich beide um. Jacks Mund klappte auf, und Frank starrte mich an, als wäre ich eine Fremde. Niemand sagte etwas, und das machte Libby ungeduldig.
»Also, was sagt ihr?«
Jack war der Erste, der Worte fand.
»Oh, wow, du siehst … Ich meine, du siehst toll aus, großartig … Einfach wow.« Ich wurde zehn Töne röter. Frank dagegen stupste ihn an und flüsterte:
»Ganz locker, Junge … Ganz locker.«
Ich grinste.
»Okay, sollen wir dann los?« Mit feuerroten Wangen wieselte ich zur Tür.
»Ja, Kazzy, du siehst fantastisch aus. Gute Arbeit, Libs. Hey, viel Spaß heute Abend!«, rief Frank uns hinterher.
Ich war voller gemischter Emotionen, aber Verlegenheit war definitiv der große Gewinner. Erst als wir ins Auto stiegen, bemerkte ich, was Jack anhatte. Er trug eine lange schwarze Lederjacke, zerrissene Jeans und ein zerrissenes T-Shirt, beträufelt mit künstlichem Blut. Weißes Make-up bedeckte sein Gesicht, und seine Augen waren schwarz ummalt, was ihm das gewisse sexy Extra verlieh.
»Tolles Kostüm, aber du wirst mir einen Hinweis geben müssen.« Ich deutete mit meiner Hand auf ihn.
»Ha, na ja, ich bin ganz klar ein Rocker-Zombie-Opfer.«
»Ahhh, ja, jetzt wo du es sagst … Muss dich wohl ganze fünf Minuten gekostet haben, dich so in Schale zu werfen«, witzelte ich.
»Tja, wir können nicht alle solche Naturschönheiten sein wie du. Manche müssen sich etwas mehr ins Zeug legen. Außerdem war das das Einzige, was ich in einer Stunde hinkriegen konnte.« Ich errötete beim ersten Teil, lachte aber über den zweiten.
»Du hast also heute gearbeitet?«
»Ja, aber ich habe in der Mittagspause noch etwas Kunstblut gekauft.« Er zeigte auf sein zerrissenes T-Shirt, das Teile seiner Haut freilegte. Es überraschte mich nicht, dass ein klar definierter Six-Pack hervorragte. Dennoch brachte mich der Anblick etwas aus der Fassung. Hoffentlich bemerkte er mein Schlucken nicht.
Kurz danach reihten wir uns in der Schlange ein. Ganz klar würde es heute zum Bersten voll sein. Ich sah viele Goths, aber auch einige in richtigen Kostümen, wie die üblichen Teufel, Hexen, schwarze Katzen und jede Menge Zombies.
»Oh, sieh mal, Jack. Nur ein paar hundert Leute haben deine Idee kopiert.« Er lachte. Wir betraten den Club. Ich wusste, es war an der Zeit, meine Jacke auszuziehen, aber ich war so nervös, dass ich mich fest an meinen Kragen klammerte. Jedenfalls war ich erleichtert, dass Libby recht hatte. Alle waren verkleidet. Ich würde keinesfalls herausstechen. Niemand würde mich bemerken. Natürlich richteten sich meine Augen wieder einmal nach oben zur VIP-Lounge. Eine große schwarze Gestalt stand am Rande des Balkons. Auch wenn ich ihn nicht sehen konnte, wusste ich, dass er es war. Das war genug, um mir den Mut zu verleihen, die Jacke abzulegen, die meinen Körper verbarg.
Aber sobald ich das tat, bereute ich es, denn jetzt starrten mich alle an, einschließlich Jack. Noch seltsamer war, dass die
Lichter oben flackerten, als ob ihnen der Saft ausgegangen wäre. Was ging hier vor?
»Oh mein Gott, Keira, du siehst … Du bist wirklich … Wow.« Auch wenn er stotterte, fand ich Jacks Worte süß.
»Danke, Jack. Komm, lass uns was trinken.« Ich hakte mich bei ihm unter, als wir uns einen Weg durch die Menge bahnten. Bei der Bar holte ich mein Geld heraus, als Jack sagte:
»Süße, die erste Runde geht auf mich.« Damit winkte er Mike zu, der mich gar nicht erkannt hatte.
»Keira, bist das du? Kaum zu glauben. Du siehst toll aus.« Jack verdrehte seine Augen über Mikes Versuch, mir ein Kompliment machen. Witzig, denn er hatte es nicht besser hinbekommen. Klar, ich fühlte mich geehrt, aber wenn das so weiterginge, würden meine Wangen bald in Flammen aufgehen. Ein paar Drinks mussten her, um mir etwas flüssigen Mut einzuflößen.
»Was darf‘s sein?«
»Für mich eine Cola und für die Dame einen Tequila und ein Corona, bitte«, sagte Jack. Er kannte mich wirklich gut. Ich kippte den Shot runter, nagte an der Limette und spülte mit einem großen Schluck Bier nach. Ich spürte, wie ich mich langsam entspannte.
»Du bist nicht halb Mexikanerin, oder?«, fragte mich Jack mit einem Blick auf meine beiden Lieblingsgetränke. Ich pikte ihn in seine Rippen und kicherte.
»Also, sag schon, als was gehst du heute? Nicht, dass ich mich beklage.«
Grinsend neigte ich meinen Kopf zur Seite und zeigte ihm die roten Punkte.
»Ist das nicht offensichtlich? Ich bin ein Goth-Vampir-Opfer!«
Er lachte und schüttelte den Kopf, als wir weitergingen, aber ich könnte schwören, dass ich ein ›Verdammt heiß‹ von ihm wahrgenommen hatte.
Wir fanden den Rest der Bande. RJ kam auf uns zugerannt, als böse Fee verkleidet. Sie trug ein zerrissenes Tutu mit einem pinken Netztop, das nicht viel der Fantasie überließ. Ein Paar demolierte Flügel, die zu den Pelzstiefeln passten, leuchteten ebenfalls in grellem Pink.
»Kazzy, bist du das? Du siehst fantastisch aus! Wer hätte gedacht, dass du so eine heiße Braut bist?« Sie grinste von einem Ohr zum anderen, als sie mich umarmte.
»Komm schon, lass uns tanzen.« Damit zerrte sie mich weg von Jack, der etwas betrübt wirkte. Wir zwängten uns zur Mitte der Tanzfläche, wo wir Lanie und ihre ältere Schwester Katie fanden. Beide waren als Alice im Wunderland verkleidet – eine als die gute, die andere als die böse. Auch sie überhäuften mich mit Komplimenten über mein Outfit. Das erste Mal seit langer Zeit wuchs in mir ein gesundes Selbstbewusstsein, und es fühlte sich verdammt gut an.
Wir tanzten mit ein paar Pausen hier und da, in denen wir Shots an der Bar kippten, gefolgt von mehr Bier. Zum Glück vertrug ich jede Menge Alkohol. Wenn man Jahre in einer Bar gearbeitet hatte, entwickelte man eine gewisse Resistenz, zumal in England das Limit bei einem Alter von 18 Jahren lag und nicht 21. Aber ich kannte meine Grenzen und hielt mich daran. Das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren – und noch wichtiger, die Kontrolle über meine Visionen – gefiel mir nicht.
Der Band-Wettkampf machte echt Spaß. Nach jedem Gig wurde das Publikum aufgerufen, abzustimmen und am lautesten für die Band zu schreien, die als Favorit galt. Die Band, die gewann, hieß The Stone Crows, und sie spielten zum Abschluss noch ein Set. Dazu gehörte eines ihrer populärsten Lieder, ›Blood in the Midnight Alley‹
. Sobald sie zu spielen anfingen,
brach die Hölle los. Niemand blieb auf seinen Stühlen sitzen. Die Menge riss mich mit, und schnell verlor ich mich in der Musik.
Der Alkohol zeigte bereits seine Wirkung. Allmählich verlor ich meine Hemmungen, und als Jack seinen Körper näher an meinen rückte, scheute ich mich nicht davor. Dann stand der letzte Song der Band an, eine Ballade namens ›Ever after and over the beyond‹
. Jack legte seine Arme um meine Taille für einen langsamen Tanz. Mein Herz schlug schneller, und als ich erkannte, wie er auf mich herabstarrte, wusste ich, was als Nächstes geschehen würde.
»Keira, ich mag dich wirklich. Ich habe noch nie zuvor jemanden wie dich getroffen«, sagte er, als sein Gesicht sich meinem näherte, während ich mich noch immer nicht entscheiden konnte, was ich tun sollte. Ich wollte es, aber es fühlte sich falsch an. Draven tauchte in meinem Kopf auf, schnell gefolgt von der Erinnerung, wie er seine Verlobte küsste. Mit diesem Bild, das meine Entscheidung trübte, ließ ich es geschehen. Jack legte seine Lippen auf meine, und ich küsste ihn zurück. Seine Hände fanden mein Gesicht, während sich meine um seinen Rücken schlangen. Das brachte ihn dazu, mich näher an sich heranzuziehen und mich noch härter zu küssen.
Und dann geschah es. Alle Lichter gingen auf einmal aus, als wäre bei jeder einzelnen eine Sicherung durchgebrannt. Ein krachender, klirrender Lärm hallte von oben herab, als hätte jemand Tische gegen die Wand geschmettert, und ich erschrak in Jacks Armen. Er riss sein Gesicht von meinem los und rief: »Was zur Hölle war das?!«
Aber ich zog ihn zurück für einen weiteren Kuss. Keine Ahnung, was da oben vor sich ging, aber in diesem Moment war es mir egal. Die VIP-Lounge ging mich nichts mehr an.
Die Lichter flackerten auf, bevor sie wieder angingen, und auch die Band spielte weiter. Unser Kuss endete, und Jack strahlte mich an. Trotzdem plagten mich Gewissensbisse.
Ich fühlte mich schuldig für etwas, wofür ich mich nicht schuldig fühlen sollte. Deshalb entschuldigte ich mich kurz und flüchtete auf die Damentoilette, bevor Jack noch von meinem zerknirschten Gesichtsausdruck Notiz nehmen konnte.
Dort angekommen, versuchte ich mich zu sammeln. Ich musste mich zusammenreißen. Ich durfte das nicht vergeigen. Jack war ein wirklich großartiger Kerl. Er war unkompliziert. Noch nie hatte ich mich bei jemandem so wohl gefühlt. Das konnte ich doch nicht einfach ignorieren, oder? Ich starrte mich im Spiegel eine halbe Ewigkeit an. Erst als ein anderes Mädchen hereinplatzte, zog es mich aus meiner Trance.
»Hey, schönes Kleid!«, sagte sie. Ich lächelte halbherzig zurück.
»Aber eine Sache … Bitte nimm es mir nicht übel, aber wenn ich deine Haare hätte, würde ich sie nie zusammenbinden. Viel zu schön, um sie zu verstecken.«
Ich dankte dem Mädchen, wartete, bis sie die Toilette verlassen hatte und studierte mich weiter im Spiegel. War der Kuss ein Fehler gewesen? Ich wusste es nicht, und der Alkohol, der durch meinen Körper pumpte, erschwerte es mir, klar zu denken. Ach, scheiß drauf!
Ich tupfte mir etwas Lipgloss auf die Lippen, justierte meine Handschuhe und zog meine Haarspange heraus. Eine Masse goldener Locken sprang über meinen Rücken und fiel bis zu meiner Taille. Nach einem letzten Blick in den Spiegel machte ich mich auf den Weg zurück zu Jack.
Viele Augen folgten mir, als ich mich durch die Menge arbeitete. Ich hörte sogar ein Mädchen ›Mann, schau dir diese Haare an‹ flüstern. Was soll’s?
Dann wollte ich mich eben eine Nacht lang gut fühlen. Also warum nagte dieser leichte Schmerz an meinen Gedanken, als ob ich den falschen Weg eingeschlagen hätte?
Als ich es schließlich zurück zur Gruppe schaffte, fiel mir auf, dass jemand fehlte.
»Wo ist Jack?«, fragte ich RJ, die gerade mit einem Kerl flirtete, der als Zombie-Bunny verkleidet war.
»Hmm, ich weiß nicht. War er nicht bei dir?«
»Ja, aber ich war auf der Toilette, und jetzt ist er verschwunden.« RJ flüsterte etwas zu ihrem Bunny und kam zu mir, um mir bei der Suche zu helfen. Wir begannen bei der Bar, wo ich Mike fragte, ob er meine Begleitung gesehen habe.
»Ja, da gab es wohl ein Problem. Er wurde soeben von den Türstehern nach draußen eskortiert.«
»Was?«, rief ich schockiert, aber Mike hielt seine Hände hoch.
»Hey, erschieß nicht den Boten!«
»Tut mir leid, Mike.«
»Vielleicht wurde er in eine Prügelei verwickelt?«, grübelte RJ besorgt.
»Keine Ahnung, aber ich werde es herausfinden.« Wieso hatte ich das dumpfe Gefühl, dass dieser Kuss etwas damit zu tun hatte?
»Wie?«, fragte sie mich, als sie mir zum Eingang folgte. Ich antwortete ihr nicht, als ich mir einen Weg durch die Menschenmenge bahnte und auf die beiden Männer zusteuerte, die mir hoffentlich eine Antwort geben konnten.
»Cameron, Jo, wie läuft‘s? Oh, und warum habt ihr mein Date rausgeworfen?« Ich stemmte meine Hände auf die Hüften. Sie warfen sich einen wissenden Blick zu.
»Hör zu, wir haben nur unsere Befehle befolgt, okay?»
»Nein, nicht okay. Ich will wissen, warum.« Wie eine Hitzewelle rollte die Wut über meine Haut.
»Uns wurde gesagt, er war dabei, Drogen zu verkaufen, also haben wir unseren Job gemacht«, sagte Jo in einem strengen Ton. RJ starrte mich verblüfft an. Ich musste wohl ausgesehen
haben wie ein Chihuahua, der sich gegen einen Bullmastiff stellte.
»Was? Das ist lächerlich. Ich war die ganze Nacht bei ihm!«
»Wie könnt ihr es wagen? Mein Bruder nimmt keine Drogen, geschweige denn verkauft er welche!«, schoss RJ hinterher.
Beide versuchten, uns zu beruhigen.
»Hey, wir tun nur, was uns gesagt wird. Wenn ihr euch beschweren wollt, geht damit zum Management!« Cameron bezog sich natürlich auf Draven und war daher nicht auf meine nächsten Worte gefasst.
»Oh, keine Sorge, das werde ich verdammt noch mal tun!« Und damit stürmte ich zurück in den Club, dicht gefolgt von RJ.
»Äh, warte, Kaz … Kazzy, mach mal halblang. Tu jetzt bitte nichts Unüberlegtes. Du kannst nicht einfach dort hoch flitzen und Forderungen stellen. Mich kotzt das auch an, aber komm schon. Das macht die Sache nicht besser!«, flehte sie. Nein, auf keinen Fall würde ich ihn damit davonkommen lassen. Ich hechtete auf die Türen zu, die nach oben führten, und drehte mich noch einmal zu RJ um.
»Da gibt es nichts zu überlegen. Das geht einfach zu weit. Mir scheißegal, wer er ist! Aber du bleibst besser hier, denn das wird nicht schön werden«, schnaubte ich vor Wut.
»Darum musst du mich nicht zwei Mal bitten! Wie auch immer, ich werde es auf Jacks Handy versuchen und sehen, wo er steckt.« Sie kehrte zurück zum Tisch, wo noch unsere Jacken und Taschen lagen. Ich hingegen marschierte geradewegs auf die beiden massiven Kerle zu, die bei der Tür Wache standen, und verkündete voller Zuversicht: »Draven will mich sehen.«
Sie warfen sich gegenseitig einen Blick zu, also fuhr ich fort:
»Ihr könnt ihn fragen, wenn ihr wollt, aber wie ihr sicherlich wisst, ist er nicht gerade für seine Geduld bekannt.«
Das reichte aus, um zu bekommen, was ich erzielen wollte, und sie traten zur Seite, um mir Durchlass zu gewähren. Drinnen
nahm ich mir einen Moment, um darüber nachzudenken, was mein nächster Schritt sein sollte. Wollte ich wirklich schnurstracks auf seinen Tisch zugehen und ihn zur Rede stellen?
»Scheiße, ja. Genau das!«, sagte ich mir laut. Ich würde für Jack die Hand ins Feuer legen. Diese Anschuldigung war nicht fair.
Der flüssige Mut in Form von Alkohol half mir, durch die Türen zu schreiten und direkt auf seinen Tisch zuzustürmen. Ich nahm kaum von etwas anderem Notiz. Mein Blut kochte, so wutentbrannt war ich. Schließlich erreichte ich seinen Tisch und blieb qualmend vor ihm stehen.
Oh, und er wusste ganz genau, weshalb ich hier war. Draven war ein Meister darin, ein Pokerface aufzusetzen, aber ich erhaschte die tiefliegende Überraschung in seinen dunklen, furchterregenden Augen. Und das brachte das Fass zum Überlaufen. Sein Anblick allein ließ meine Körpertemperatur in die Höhe schießen. Ich steuerte auf ihn zu, aber der Riese Ragnar stellte sich mir in den Weg. Doch auch das dämpfte meine Entschlossenheit nicht. Nein, wenn überhaupt hatte es den gegenteiligen Effekt. Mit verschränkten Armen blickte ich zu ihm hoch.
»Entschuldigen Sie, bitte!«, zischte ich durch meine Zähne, obwohl mir eigentlich ›Geh mir aus dem Weg, du Ochse!‹ auf der Zunge lag.
Er rührte sich nicht, richtete aber seinen Blick auf Draven, als würde er auf seinen Befehl warten. Wie ein Hund bei seinem Herrchen. Ich wandte meinen erzürnten Blick immer noch nicht von Draven ab. Ich stand einfach da in der Erwartung, dass man mich gleich nach unten eskortieren würde und fragte mich, ob mich das völlig zum Ausrasten bringen würde. Draven wollte sicher ein weiteres öffentliches Spektakel vermeiden. Aber was er als Nächstes tat, überraschte mich.
»Lass sie durch.« Sein Hund zog sich zurück. Ich fuhr frustriert mit einer Hand durch meine Haare, als ich vorbeiging und hätte schwören können, dass er mich anknurrte. Draven und der Rest der Gang kamen in volle Sicht. Ich versuchte, meinen Herzschlag zu kontrollieren, als die Nervosität stieg. Kein Rückzieher jetzt.
Draven war ganz in Schwarz gekleidet, was seine erschreckende Schönheit nur stärker hervorhob. Die anderen am Tisch hatten sich auch schick gemacht, was mich vermuten ließ, dass sie etwas im kleinen Kreise feierten. Ich scannte schnell den Tisch. Ein Mann war anwesend, den ich noch nie zuvor gesehen hatte.
Lange, glatte, weiße Haare, die fast wie Eis aussahen, wuchsen auf seinem Kopf. In der Mitte seines langen Gesichts saß eine dünne gerade Nase, die mich an den Schnabel einer Krähe erinnerte. Er sah älter aus als Draven, auch älter als alle anderen am Tisch. Das verlieh ihm eine gewisse Aura von Weisheit. Er trug einen ungewöhnlichen Anzug, der aussah wie eine Robe mit einer langen Kapuze hinten und einen Umhang, der auf einer Seite nach vorn geschwungen war.
Er könnte ein König sein oder zumindest jemand sehr Wichtiges. Seine eigenen Leibwächter, die genauso düster aussahen wie Dravens Männer, standen hinter ihm. Sie wirkten alarmiert, als ich mich näherte. Ohne sich zu ihnen umzudrehen, hielt er eine lange weiße Hand hoch, als hätte er ihr Unbehagen gespürt. Etwas war eigenartig an ihm. Irgendetwas zog mich an, aber ich wusste nicht, was.
Schließlich erreichte ich den Tisch. Alle gafften mich an wie der Eindringling, der ich war. Sophias Augen waren die einzig freundlichen, aber ich war fest entschlossen, dass mich das nicht aus der Fassung bringen würde.
»Du hast etwas zu sagen?« Dravens Stimme war die erste, die durch die Stille peitschte. Ich nahm einen tiefen Anzug und
sprach mit der kräftigsten Stimme, die ich zusammenkratzen konnte.
»Ja. Ich würde gerne wissen, warum du mein Date unter falschen Anschuldigungen hinausgeworfen hast.« Der blasse Mann zu meiner Linken nahm mich neugierig in Augenschein und grinste, offenbar höchst amüsiert.
»Nun, ich glaube, das kann ich dir auch beantworten, meine Liebe«, sagte er mit einer sehr heiseren Stimme. Irgendwie hatte es den Anschein, dass ihn diese unerwartete Wendung erfreute. Ich wandte mich ihm zu, was Draven sichtlich nicht gefiel.
»Mit einer Schönheit wie deiner bist du eher eines Königs würdig als eines jämmerlichen Dieners. Würdest du mir nicht zustimmen, Dominic?«, fügte er süffisant hinzu. Ich war überrascht, dass er ihn beim Vornamen nannte, als wollte er klarstellen, dass sie sich ebenbürtig waren. Tatsächlich realisierte ich erst jetzt, dass auch ich die förmliche Anrede abgelegt hatte und Draven seit dem Vorfall mit Layla mit Du ansprach.
»Keira ist nur eine Kellnerin, die unten für mich arbeitet«, sagte Draven eiskalt und verdrehte damit noch einmal den Pfeil, den er mir ins Herz geschossen hatte. Die Dreistigkeit dieses Mannes war einfach nicht zu fassen!
»Tatsächlich, nur eine Kellnerin? Okay, wenn du das sagst … Meine Liebe, ich freue mich sehr, deine Bekanntschaft zu machen. Ein seltenes Wesen, in der Tat«, sagte der Mann, als er aufstand, meine Hand nahm und sie an seine Lippen hob. Dravens Augen füllten sich mit Zorn, also ließ ich die Geste zu. Etwas Rache konnte nicht schaden.
»Malphas!«,
fauchte Draven. Ich vermutete, das war sein Name. Malphas jedoch blieb gelassen. Seine Augen trafen meine über der Hand, die er immer noch in einem eisigen Griff hielt.
»Nur eine Kellnerin also …« Er grinste und ließ meine Hand los.
»Keira, ich denke, es ist Zeit für dich, nach Hause zu gehen«, sagte Draven, während er mich anstarrte als wäre ich nichts weiter außer Dreck unter seinen Fingernägeln.
»Das war der Plan, aber leider hat jemand zu Unrecht mein Date aus dem Club geworfen und mich deshalb ohne Mitfahrgelegenheit hier zurückgelassen. Ich befinde mich also in einer misslichen Lage, wie du siehst!«, schnaubte ich aufgebracht und mit verschränkten Armen zurück.
»Nun, ich denke, ich habe genug gesehen, um meine Neugier zu befriedigen. Mein Lord, ich werde jetzt Abschied nehmen. Aber meine Liebe, bitte erlaube mir, dich nach Hause zu fahren. Es wäre mir eine große Freude«, bot mir Malphas mit einer tiefen, krächzenden Stimme an.
»Vielen Dank, das wäre sehr nett.« Ich blickte dabei zu Draven, der aussah, als wollte er mich von einem seiner Balkone werfen.
»Das wird nicht nötig sein. Zagan, bring Miss Johnson nach Hause. Auf der Stelle!«,
befahl er einem der Männer. Genauer gesagt, dem Mann mit der Kapuzenjacke, der Narbe und den Tattoos auf seinem Gesicht. Er leistete dem Befehl Folge und schoss von seinem Stuhl hoch, hielt jedoch inne, als Malphas‘ Männer nähertraten. Ich verstand nicht, was da vor sich ging, aber Dravens Stimme donnerte durch den Raum.
»Malphas,
du willst mich NICHT provozieren!« Eine klare Warnung, was Malphas dazu bewegte, seine Männer mit erhobener Hand wieder zügeln.
»Natürlich nicht.« Malphas wandte sich zu mir.
»Es war schön, dich kennenzulernen, meine liebe Keira.« Er trat ganz nah an mein Ohr und flüsterte, sodass nur ich es hören konnte:
»Ich werde an der Vorderseite des Gebäudes warten, um dich nach Hause zu fahren.«
Dann küsste er meine Wange, als ob er wollte, dass jeder Zeuge davon war.
Aber ich sprang zurück, als Dravens Faust auf den Steintisch donnerte, mit solcher Wucht, dass er nicht nur vibrierte, sondern sich auch Risse unter dem hammerartigen Schlag auftaten. Er brüllte los, was alle vor Schreck den Atem anhalten ließ, mich inklusive.
»GENUG! Keira, geh und warte auf mich auf dem Balkon. Keine Widerrede, Mädchen!«,
bellte er, als ich mich nicht schnell genug in Bewegung setzte. Seine schwarzen Augen flackerten wieder violett auf. Er fixierte Malphas mit einem stählernen Blick, als stünde er kurz davor, ihm die Kehle herauszureißen. Diesen Befehl konnte ich nicht ignorieren. Ich drehte mich um, aber nicht, bevor ich Malphas gerade noch sagen hörte:
»Keine Sorge, mein Lord. Ich werde dem Mädchen kein Haar krümmen. Nicht nach dem, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Schließlich ist sie …« Seine Stimme verstummte, als ich mich auf den Weg zum Balkon machte. Aber dann legte sich ein Schalter in mir um, als die kalten Worte in meinem Kopf widerhallten. ›Nur eine Kellnerin‹. ›Keine Widerrede, Mädchen‹.
Als würde mein Name einen faulen Nachgeschmack auf seiner Zunge hinterlassen.
Das ließ mich meine Entscheidung treffen, und jetzt, wo ich Dravens bösem Blick für einen kurzen Moment entkommen war, konnte ich klar denken. Verdammt noch mal, Draven war mein Boss und mehr nicht. Er konnte mich nicht einfach so herumkommandieren, also warum sollte ich ihm gehorchen? Nur, damit er mir wieder einen Vortrag auf dem Balkon halten konnte? Nein, nicht dieses Mal! Ich war ein eigenständiger Mensch und hatte das Recht zu tun, was ich wollte. Und wenn ihm das gegen den Strich ging, dann musste er mich wohl entlassen, oder besser noch – ich würde kündigen!
Mit diesem Entschluss wartete ich, bis ich außer Sichtweite war, bevor ich zur Treppe rannte und wie ein olympischer
Marathonläufer nach unten stürmte. Kaum unten angekommen, schnappte ich mir meine Jacke und verabschiedete mich schnell von den anderen, ohne auf ihre Reaktion zu warten. Ich raste auf die Vordertüren zu, zu panisch, um einen Blick hinter mich zu werfen. Ich hatte es getan. Ich hatte Dravens Befehl missachtet. Und ich würde dafür bezahlen, so viel stand fest.
Draußen schlug mir die kalte Luft ins Gesicht, und ich schlüpfte schnell in meine Jacke. Es dauerte nicht lange, bis mir klar wurde, dass das, was ich vorhatte, eine wirklich dumme Idee war. Eine gefährliche obendrein. Aber bevor ich es mir anders überlegen konnte, stoppte eine schwarze Limousine vor mir und öffnete die Tür. Wohlwissend, dass ich einen kolossalen Fehler machte, nahm ich einen tiefen Atemzug und stieg ins Auto. Malphas taxierte mich neugierig, als ich mich hinsetzte und versuchte, mich zu sammeln. Ich hatte noch kein Wort gesprochen, doch die Limousine bog auf die Hauptstraße, in Richtung meines Hauses.
»Ich muss zugeben, ich bewundere deine Tatkraft. Es gibt nicht viele, die einem Mann wie Dominic Draven die Stirn bieten, aber vielleicht macht es das nur reizvoller für ihn«, grübelte er und streichelte sein glattes weißes Kinn. Im Inneren war es sehr dunkel. Nur ein paar kleine blaue LEDs leuchteten, die seine fahle Haut reflektierte.
»Ich kann Ihnen versichern, dass die Beziehung zwischen mir und Mr Draven rein geschäftlich ist«, antwortete ich.
»Das bezweifle ich zutiefst«, sagte er, als er einen Schalter betätigte. Eine Minibar kam zum Vorschein. Er machte sich einen Drink und bot mir einen an. Ich lehnte dankend ab.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Du siehst dich wirklich nicht so, wie es andere deiner Art tun, oder?«, war seine Gegenfrage. Keine Ahnung, was er mit ›meiner Art‹ meinte.
»Alles, was ich weiß, ist, wie Draven mich behandelt. Und wie er schon sagte, ich bin nur eine Kellnerin.« Ich versuchte, nicht allzu gekränkt zu wirken, aber er lächelte süffisant.
»Habe ich etwas nicht mitbekommen?«, fragte ich ihn.
»Er hat dich ganz klar in seiner Hand, und du ihn in deiner. So viel ist sicher.« Er wirbelte die goldene Flüssigkeit in seinem Brandyglas herum, bevor er einen Schluck nahm.
»Sie irren sich, ich habe ihn nicht in der Hand. Sie haben es selbst gesehen, ich bin nur eine Unannehmlichkeit.«
»Bis zu einem gewissen Grad hast du recht, aber nicht so, wie du denkst. Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Ein Mann, der versucht zu beschützen, was großen Wert für ihn hat. Und das, meine Liebe, bist du.« Er schwenkte sein Glas zu mir.
»Nun, ich denke, seiner zukünftigen Ehefrau würde es nicht gefallen, das zu hören.«
Sein Gesicht veränderte sich, als ich diese Neuigkeit überbrachte, und er brach in Gelächter aus.
»Hmm, interessant. Nun, eines muss ich ihm lassen. Er weiß ganz genau, die Bedürfnisse anderer vor seine eigenen zu stellen. Ha, was für ein Heiliger!« Ich hatte keine Ahnung, was er so witzig fand.
»Nun, sie waren schneller, als ich dachte, und ich denke, das bestätigt meine Theorie«, sagte er, als er einen anderen Schalter betätigte, der den schwarzen Bildschirm zwischen uns und dem Fahrer nach unten fuhr.
»Du fährst besser rechts ran, bevor das noch … außer Kontrolle gerät.
Ich habe meinen Standpunkt klargemacht und sie ihren«, instruierte er den Fahrer, der dem Befehl Folge leistete und am Straßenrand anhielt.
»Was ist los? Wieso halten wir an?«, fragte ich panisch.
»Ärgere dich nicht, Liebes, aber sag mir doch bitte eins: Wenn du wirklich glaubst, dass Dominic keine Gefühle für dich
hegt, warum schickt er dann einen Wagen, um uns zu folgen und dich aus diesem Auto zu schaffen?«
Entsetzt wirbelte ich herum. Die Scheinwerfer hinter uns bestätigten meine Befürchtung.
Draven war hier.