34
Jacks Vergangenheit
E ine Gestalt näherte sich dem Wagen, bereit, meine Tür zu öffnen. Ich sah zurück zu Malphas, der mit einem Klick meine Tür entriegelte. Ich schrak zusammen. Wieso hatte man mich überhaupt eingesperrt?
»Nun, damit ist unser Abend wohl zu Ende. Ich freue mich auf unser nächstes Treffen. Wenn der Mond richtig steht, natürlich.« Damit öffnete sich die Tür, um mich aus der Limousine zu locken. Ich hatte keine Ahnung, was er mit dem Mond meinte. Eigentlich war ich nur froh, dieser schaurigen Erfahrung zu entkommen. Als ich aus der Limo stieg, sagte er etwas, mit einer Stimme, die so verstörend war, dass es mir kalt über den Rücken lief.
»Bis bald … Keira.« Die Tür schlug zu, und mein Mund klappte auf als ich realisierte, wer vor mir stand. Die Limo machte sich aus dem Staub, aber plötzlich wünschte ich mir, sie würde mich mitnehmen. Ich stellte das Offensichtliche fest.
»Vincent Draven.«
»Keira, steig bitte in den Wagen.« Er streckte seinen Arm in Richtung des gigantischen schwarzen Rolls Royce hinter sich aus. Er wirkte wie ein tödlicher Panther in der finsteren Nacht, und der Mann, der die Tür offenhielt, war genauso abschreckend.
»Was machst du hier?«, fragte ich, verärgert über meine gegenwärtige Situation. Hoffentlich wartete sein Bruder nicht im Auto.
»In den Wagen, wenn ich bitten darf«, wiederholte er, also gab ich auf und stieg ein. Ich rutschte über das cremefarbene Leder auf die andere Seite, um Platz für Vincent zu machen. Da saß ich nun wie ein Kind, das etwas verbrochen hatte, und verschränkte meine Arme unter meiner Brust.
Vincent war unglaublich gutaussehend, mit dichten Locken aus blondem Haar und den erstaunlichsten Augen. Sein Gesicht war weicher als das von Draven, aber trotzdem wollte ich ihn nicht zum Feind haben. Leider hatte es den Anschein, als wäre ich auf einem guten Weg dorthin.
»Also, was hast du hier zu suchen?«
»Ich bin auf Anweisung meines Bruders hier. Dein Benehmen hat ihn sehr verärgert«, sagte er, ohne mich anzusehen, aber meine Wut verdoppelte sich.
»Ist mir egal. Das kann er nicht machen. Ich kann auf mich selbst aufpassen!« Ich war kurz davor, mit meinen Füßen zu stampfen, aber froh, dass ich mich noch rechtzeitig zurückhalten konnte. Hätte wohl doch eher komisch als ernstzunehmend ausgesehen.
»Offensichtlich nicht. Ich verstehe nicht, warum du alles so kompliziert machst.« Seine ruhige Stimme wühlte mich nur noch mehr auf.
»Ich mache es kompliziert? Ich hätte es nach Hause geschafft ohne all das Theater.«
»Du kennst diesen Mann nicht so wie wir. Du weißt nicht, wozu er fähig ist oder für wen er arbeitet. Es war nicht sicher für dich.« Ein weiterer Schauer rollte mir über die Wirbelsäule. Gott, ich war so dumm gewesen. Wieso war ich zu einem völlig Fremden ins Auto gestiegen? Ich ließ meinen Kopf nach vorne schnellen.
»Und hier bin ich sicher?«
»Ja, Keira. Mein Bruder versucht, dich zu beschützen. Wieso kannst du das noch immer nicht verstehen?«
»Wieso sollte es ihn überhaupt scheren?«, murmelte ich zum Fenster und strich mit einem Finger am Glas entlang.
»Das musst du mit ihm klären. Er will dich morgen sehen.« Der Gedanke, wie das wohl ausgehen würde, hinterließ einen bitteren Geschmack auf meinem Gaumen. Wir fuhren meine Schotterstraße hoch. Jacks Auto parkte vor dem Haus. Er saß auf den Verandastufen, wo er offensichtlich auf mich wartete. Vincent bemerkte ihn und sagte seelenruhig:
»Dieser Junge sollte nicht hier sein. Wenn du meinen Bruder nicht noch mehr verärgern willst, als du es ohnehin schon getan hast, solltest du zusehen, dass du ihn loswirst.« Egal wie ernst er aussah, ich konnte dem Drang nicht widerstehen, in die Defensive zu gehen. Mehr Forderungen und Befehle konnte ich einfach nicht ertragen.
»Ist mir schnuppe! Und warum spielt das überhaupt eine Rolle? Er hat heute allen klargemacht, dass ich ihm nichts bedeute, also warum sollte ich tun, was er sagt?«
Ich sprang aus dem Auto und schlug die Tür zu, aber das Fenster wurde runtergekurbelt, bevor Vincent sagte:
»Vergiss nicht, Keira, morgen … Oh, und ich würde ihn nicht warten lassen.« Seine Stimme blieb noch immer so kontrolliert und ruhig, dass es mich frustrierte.
»Von mir aus!« Damit stapfte ich zu Jack, der natürlich alles gesehen hatte. Ich marschierte die Treppen hoch und ließ meinen Ärger mit einem lauten »ARRGGHH!« raus. Jack glotzte mich an, als wäre ich übergeschnappt, und ehrlich gesagt stand ich auch kurz davor.
»Hey, geht es dir gut? Wer war das?« Er kam zu mir und legte seine Arme um mich. Seine Besorgnis beruhigte mich ein wenig. Das Auto hatte bereits gewendet und fuhr davon, aber Vincent beobachtete mich immer noch durch das offene Fenster.
»Ja, jetzt schon. Hör zu, tut mir wirklich leid, was passiert ist. Geht es dir gut?« Ich neigte meinen Kopf nach hinten, um sein Gesicht zu sehen.
»Ja, alles in Ordnung. Sie haben wohl den falschen Kerl erwischt, aber ich habe mir eigentlich mehr Sorgen um dich gemacht und wie du nach Hause kommst. Dann meinte RJ, sie habe dich in eine Limo steigen sehen, also bin ich geradewegs hierhergefahren.«
Ich erzählte ihm, was geschehen war. Natürlich ließ ich ein paar Teile aus, da ich nicht noch mehr Probleme verursachen wollte. Er erzählte mir, wie er auf der Suche nach mir die Gegend abgefahren war, bis RJ ihn anrief. An diesem Punkt setzte er ein Grinsen auf.
»Mir hat noch nie jemand den Rücken gestärkt, aber Baby, ich bin wahrhaft beeindruckt von dir. RJ hat gesagt, du warst nicht aufzuhalten.« Lachend legte er seinen Arm um meine Schultern, als wir uns auf die oberste Stufe der Veranda setzten. Dann kam mir etwas in den Sinn. Warum hatte Draven ihn überhaupt rausgeworfen? Wenn nicht meinetwegen, dann hatte es wahrscheinlich mit Jacks Vergangenheit zu tun. Es war an der Zeit, die Wahrheit zu erfahren.
»Jack, ich hasse es, dich das zu fragen, aber ich muss es wissen … Was ist passiert, dass du sie so sehr hasst?«
Er ließ seinen Arm fallen. Seine harten Gesichtszüge entspannten sich, als er mir in die Augen blickte.
»Es geschah vor zwei Jahren. Im Sommer, bevor ich mein erstes Studienjahr begann.« Er hielt kurz inne und platzierte seine Ellbogen auf seinen Knien. Er schaute hinaus in den umliegenden Wald, als ob seine Geschichte dort draußen vergraben wäre.
»Ich traf ein Mädchen. Sie war so verdammt schön und unglaublich intelligent. Ich mag Mädchen, mit denen man sich unterhalten kann, mit denen man lachen kann. Mädchen, die was im Köpfchen haben.« Er warf mir einen Blick zu, als ob er versuchte, meine Reaktion zu eruieren. Ich lächelte, also fuhr er fort.
»Sie betrat das Airtime, der Laden im Einkaufzentrum, in dem ich arbeite.« Ich nickte. Er hatte ihn schon mal erwähnt.
»Zwischen uns sprühten sofort die Funken, und ich fragte sie nach einem Date. Erstaunlicherweise sagte sie Ja!«
»Ich kann verstehen, warum.« Ich stupste ihn an und er grinste, aber seine Augen blieben traurig.
»Kurz gesagt, wir gingen aus und waren den ganzen Sommer unzertrennlich. Sie lebte bei ihrer Tante und begann zur gleichen Zeit wie ich mit dem College. Es war perfekt. Wir hatten eine so enge Verbindung, dass mein Körper buchstäblich schmerzte, wenn sie nicht in meiner Nähe war.« Oh, keiner konnte das besser nachvollziehen als ich. Genauso fühlte ich mich, wenn ich Draven nahe war. Nur, dass ich jetzt den Drang verspürte, ihn so lange zu ohrfeigen, bis er zu Sinnen kam.
»Was ist mit ihr passiert?«, fragte ich leise.
»Wir gingen zum ersten Mal in den Club, in der Nacht, in der die Dravens ihren großen Auftritt hatten. Natürlich war ich damals genauso wie die anderen. Du weißt schon, völlig durch den Wind von all dem Klatsch. Ich wollte sie unbedingt sehen.« Er rieb seinen Hinterkopf. Es fiel ihm offensichtlich schwer, darüber zu reden, und ich fühlte mich schlecht, dass ich ihn dazu drängte.
»Wir warteten alle wie Idioten, aber sie verhielt sich irgendwie seltsam, fast schon rastlos. Genauso, wie du dich in dieser Nacht verhalten hast. Das brachte so viele Erinnerungen zurück, dass ich mir sicher war, das Gleiche würde wieder passieren, und den Gedanken konnte ich nicht ertragen. Also habe ich die Fliege gemacht, erinnerst du dich?«
»Ja, ich erinnere mich.« Wie konnte ich das jemals vergessen? Mein Leben war seit jener Nacht nicht mehr dasselbe. Nicht, dass es davor besser gewesen wäre.
»Du erinnerst mich so sehr an sie, dass es mir manchmal Angst einjagt … Tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen.« Seine Worte beleidigten mich nicht im Geringsten, also beschwichtigte ich ihn.
»Es ist völlig in Ordnung. Wirklich, es macht mir nichts aus.«
Er lächelte.
»Abgesehen von den Haaren natürlich, aber deine Schwester Libby hat ähnliche. Sie war ein Rotschopf.«
Er hielt kurz inne, um tief durchzuatmen.
»Nun, Dominic Draven tat so, als wäre er der Meister des Universums, blickte auf jeden herab, der unter ihm stand. Er ging an demselben Tisch vorbei und sah sie genauso an, wie er dich angesehen hat. Aber im Gegensatz zu dir schaute sie nicht weg.« Ich zitterte, als ich diese Nacht noch einmal in meinen Gedanken abspielte. Ich konnte mir nur allzu gut vorstellen, wie sie sich gefühlt hatte.
»Sie verhielt sich seltsam danach, doch bevor ich sie fragen konnte, was los war, küsste sie mich mit mehr Leidenschaft als je zuvor. Dann verabschiedete sie sich und meinte, sie müsse gehen. Sie zeigte zur Damentoilette. Ich nickte, ließ ihre Hand los, dachte, es würde nur Minuten dauern.« Er blickte auf seine Hände, als ob er sich danach sehnte, ihre wieder in seinen zu halten. Als würde er dafür töten.
»Aber sie kam nie zurück. Ich suchte überall, mit Ausnahme von dem Ort, wo sie mich nicht hinauf ließen. Ich wurde aus derselben Tür geworfen wie heute Abend.«
»Das ist schrecklich. Was ist mit ihr passiert?« Was auch immer ich im Sinn hatte, Jacks nächste Worte verblüfften mich.
»Draven hat sie geschnappt!«
»WAS?«, stieß ich aus. »Was meinst du, er hat sie geschnappt?«
»Genau das. Er hat sie mir weggenommen. Ich habe die ganze Nacht auf sie gewartet, aber sie ist nie wieder aufgetaucht. Als ich mit ein paar Freunden sprach, meinten sie, sie hätten gesehen, wie zwei Männer sie nach oben geführt hätten. Ich habe sie nie wiedergesehen …«
Jetzt war die schreckliche Wahrheit ans Licht gekommen. Seine Trauer machte schnell Platz für unerbitterlichen Hass.
»Was, glaubst du, ist mir ihr passiert?«
»Ich habe so meinen Verdacht, aber tief in meinem Inneren kenne ich die Wahrheit.« Er schluckte hart, bevor er das Undenkbare aussprach.
»Ich glaube, sie … Sie ist tot!« Ich keuchte und mein Kiefer klappte vor Schock auf.
»Nicht nur das. Ich glaube, dass Draven sie getötet hat!«
»Was? Auf keinen Fall!«
Jack drehte sich zu mir.
»Es tut mir leid, Keira, aber denk doch mal nach. Sie wurde nie wieder gesehen. NIE WIEDER! Ihre Tante zog am nächsten Tag aus. Am nächsten Tag, verdammt!« Er schoss in die Höhe und lief die Veranda auf und ab. »Ich habe die Polizei angerufen, aber sie sagten, sie könnten nichts tun, weil sie volljährig war. Aber überleg mal, wem die Polizei gehört – den Dravens natürlich.« Er listete alle Punkte auf, indem er sie an seinen Fingern abzählte.
»Ich bin in das Haus ihrer Tante eingebrochen, nachdem sie es verlassen hatte, aber da war nichts. Nicht einmal ein Hinweis darauf, dass jemals jemand dort gelebt hatte.« Ich konnte gut nachvollziehen, wie er sich fühlte. Ich selbst fand mich immer wieder mit seltsamen Dingen konfrontiert, die keinen Sinn ergaben.
»Das ist merkwürdig, da stimme ich dir zu. Aber komm schon, Jack. Glaubst du ernsthaft, es war Mord?«
»Glaub was du willst, aber sie hat mich geliebt und wäre nie gegangen, ohne etwas zu sagen. Das hätte sie einfach nicht getan.« Sein Leid verschlang nun völlig sein Herz.
»Das tut mir so leid, Jack. Das ist wirklich furchtbar. Ich weiß nicht, wie du … Ich meine, wie schaffst du es …?« Ich geriet ins Stottern, doch er verstand, was ich ausdrücken wollte.
»Du meinst, wie schaffe ich es, einen Fuß in den Club zu setzen?«
Ich nickte. Er setzte sich wieder zu mir und legte seine Hand auf mein Knie.
»Weil ich mich frage, ob die Möglichkeit besteht, dass ich falsch lag. Ob ich sie vielleicht eines Tages wiedersehe.« Mein Herz schmolz für ihn. Ich nahm seine Hand und verschränkte unsere Finger ineinander.
»Deshalb geriet ich heute Abend in Panik. Ich dachte, es würde wieder passieren, und ich könnte es nicht ertragen, dich auch zu verlieren.« Seine andere Hand streichelte meinen Handrücken und malte mit dem Daumen kleine Kreise auf meiner Haut.
»Also, war das er in der Limo oder einer seiner Lakaien?«, fragte er bitter.
»Eigentlich war es sein Bruder.« Als ich seinen Gesichtsausdruck sah, fügte ich hinzu: »Ja, ich weiß, ich war genauso überrascht. Tut mir leid, dass das unser Date ruiniert hat. Aber hey, bis dahin hatte ich echt Spaß.«
Sein Gesicht erhellte sich mit Hoffnung.
»Ich auch. Vielleicht gehen wir nächstes Mal einfach ins Kino oder so.«
»Ist wahrscheinlich besser, ja«, sagte ich lachend. Er grinste, und die Bewegung brachte die künstliche Farbe auf seinem Gesicht zum Bröckeln. Ich schnappte mir ein Stück, zog es ab und warf es ihm zu.
Er lachte und fing an, meine Seiten zu kitzeln, was in einem peinlichen Grunzen meinerseits endete. Meine Hände flogen zu meinem Mund, aber es war zu spät. Jack zeigte auf mich und lachte spöttisch.
»Also das ist das Niedlichste, was ich je gehört habe.« Er zog meine Hände von meinem Gesicht und hielt sie in seinen.
»Ja, kam ja auch nicht von dir!« Meine Wangen glühten.
»Hey, du beißt dir auf die Lippe«, meinte er, und mein Herz sank, weil mich seine Worte an Draven erinnerten. Er kommentierte gerne darüber, wie oft ich mir in die Lippe biss, und irgendwie fühlte es sich falsch an, dass Jack das Gleiche tat. Als wäre das ein Ding zwischen Draven und mir und niemandem sonst. Das brachte mich zurück zu Vincents Warnung. Vielleicht war das die ganze Zeit über der Grund gewesen. Vielleicht wollte er verhindern, dass ich es herausfand. Dass ich Jacks Vergangenheit auf die Schliche kam.
Ich stand auf. Jack sah enttäuscht aus.
»Habe ich etwas Falsches gesagt? Du weißt, ich finde diese Grunzer echt süß, ja?«
Ich konnte nicht anders, als ihm ein Lächeln zu schenken. Er war einfach so charmant und liebenswert, dass ich ihm eine feste Umarmung geben wollte. Aber das war nicht genug, und ich konnte mir nicht länger etwas vormachen. Es fühlte sich einfach nicht so an wie mit Draven, egal wie sehr ich es versuchte.
»Nein, hast du nicht. Ehrlich gesagt bin ich so müde, dass ich im Stehen einschlafen könnte.« Zumindest war das nicht gelogen. Seine Schultern entspannten sich, sichtlich erleichtert, was meine Schuldgefühle nur verdoppelte.
»Tja, dann solltest du besser ins Bett gehen, Schönheitskönigin. Wie wäre es mit einem Kuss für den Märchenprinzen?« Er verbeugte sich und nahm einen imaginären Hut ab.
»Nun, wenn du mir sagst, wo ich einen finden kann?«, stichelte ich mit einem Grinser. Er legte seine Hände auf sein Herz und tat so, als hätte ich ihm gerade eine Kugel in die Brust gejagt. Dann fiel er zu Boden, und ich lief zu ihm rüber. Ich schüttelte ihn, aber er bewegte sich nicht.
»Jack! Hör auf mit dem Blödsinn, Jack!« Aber er hob nur seine Hand und zeigte mit geschlossenen Augen auf seinen Mund. Ich lachte.
»Ach, um Himmels Willen.« Dann beugte ich mich über ihn und küsste ihn leicht auf die Lippen, aber er setzte sich auf, während er mein Gesicht fest in seinen Händen hielt. Nachdem der Kuss zu Ende war, fragte ich ihn:
»Also, macht mich das jetzt zum Prinzen und dich zu Dornröschen?« Wir lachten. Er gab mir einen schnellen Kuss auf die Wange, bevor er mir auf die Beine half.
»Wenn du willst? Aber ich warne dich – ich bin nicht für den Abwasch verantwortlich.«
Nachdem wir uns mit einem letzten Kuss verabschiedet hatten, wartete ich, bis Jack in sein Auto gestiegen war und wegfuhr. Ich war dabei, hineinzugehen, als mir etwas ins Auge stach. Aus den Bäumen vor mir starrte mich ein Paar glühender, violetter Augen an. Der Vogel war zurück, doch bevor er sich in Bewegung setzen konnte, rannte ich ins Haus und schlug die Tür hinter mir zu.
Am nächsten Tag stand ich früh auf. Ich hatte die ganze Nacht kaum ein Auge zugemacht. Zu viel war gestern passiert. Eine Achterbahn an unerwarteten Ereignissen. Das musste ich erst einmal verarbeiten. Da gab es den Part der Nacht mit Jack, und ich musste zugeben, es wurde zunehmend schwieriger, seinem Charme nicht zu verfallen.
Aber dann wurde ich wieder in das mir fremde Leben der Dravens gezerrt und in seine Welt gestoßen. Bevor ich wusste, wie mir geschah, saß ich im Wagen eines verrückten Mannes, nur um Minuten später von Vincent selbst nach Hause eskortiert zu werden. Und dann warf er mir auch noch an den Kopf, dass sein Bruder mich heute sehen wollte und ich ›dem Jungen‹ besser eine Abfuhr erteilte. Alles in allem also eine typische Keira-Nacht mit wenig Schlaf.
Als mich Libby natürlich fragte, wie meine Nacht verlaufen war, hatte ich ihr die wilden Abenteuer erspart und lediglich gesagt, dass wir uns alle gut amüsiert hatten. Ich stellte mich unter die Dusche, in der Hoffnung, etwas Entspannung zu finden, bevor ich mich den Hürden des heutigen Tages stellte. Mein Treffen mit Draven würde wahrscheinlich nicht gut ausgehen. Bei all der Wut, die sich gestern in mir angestaut hatte, konnte ich in seiner Gegenwart sicher nicht meinen Mund halten, was angesichts Dravens Temperament nicht die beste Taktik war.
Ich stieg aus der Dusche und warf einen Blick in den Spiegel. Ich sah wieder aus wie immer, abgesehen von den Pandaaugen. Ich hatte mein Gesicht vor dem Schlafengehen ganze drei Mal geschrubbt, aber egal, wie viel Seife ich benutzt hatte, meine Augen waren immer noch schwarz umrandet.
Die Entspannung, die mir meine Dusche geschenkt hatte, dauerte an, bis Libby in mein Zimmer kam und mich über einen Anruf informierte. Anscheinend wurde von mir verlangt, dass ich schon früher bei Draven zu erscheinen hatte. Aber ich musste mein Gesicht vor Libby wahren und durfte keine Panik zeigen, bevor sie noch Wind von der ganzen Sache bekam.
»Ich dachte, du arbeitest samstags nicht?«, meinte sie.
»Ja, aber wir müssen noch jede Menge aufräumen. Gestern Nacht war die Hölle los.« Nickend akzeptierte sie meine Antwort und wuselte wieder nach unten.
Ich musste heute nicht arbeiten. Man schickte mich nur dorthin, damit Draven mir wieder einen seiner Vorträge halten konnte. Einen, der anscheinend nicht bis morgen warten konnte.
Leicht entmutigt schlüpfte ich in meine Jeans, bevor ich mir ein graues T-Shirt überzog sowie ein paar graue Handschuhe und einen kastanienfarbenen Kapuzenpullover. Nachdem ich meine Haare zur üblichen Frisur zusammengesteckt hatte, packte ich meine Tasche und machte mich auf den Weg.
Zu meinem Alptraum-Date mit Draven.