Gegen meinen Willen festgehalten
»
K
onntest du den Anruf nachverfolgen?«
»Nein, er war nicht lange genug in der Leitung. Keine Sorge, Dom, wir finden ihn. Sie ist jetzt in Sicherheit. Denkst du, sie wird sich wehren?«
»Zweifellos.«
Diese letzte Stimme, die gesprochen hatte, war Dominic Dravens, und die andere eindeutig die seines Bruders Vincent. Ich hielt meine Augen geschlossen und wartete.
»Was wirst du mit dem Mädchen tun, wenn sie nicht kooperiert?«, fragte Vincent seinen Bruder. Mir stockte der Atem.
»Sie wird gehorchen. Sie ist stur, ja, aber was das betrifft, kann sie kontrolliert werden«, sagte Draven zu meiner Bestürzung. Ich war kurz davor, aufzuspringen und ihm eine zu verpassen. Wie konnte er es wagen?
Ich hatte keine Ahnung, was sie vorhatten, aber ich würde sicher nicht hierbleiben, um es herauszufinden. Bei der ersten Chance, die sich mir bot, würde ich so was von abhauen! Natürlich musste ich zuerst meinen Weg aus dieser Festung finden.
Ich musste hier raus. So schnell wie möglich.
Dann hörte ich, wie sich eine Tür öffnete. Das war meine Chance.
»Mein Lord, das solltet Ihr Euch ansehen«, sprach eine andere Stimme, die mir unbekannt war. Schritte näherten sich, bis sie direkt neben mir stoppten. Die Hitze und der sinnestrübende Duft sagten mir, dass es Draven war. Gleichmäßig atmete ich weiter, als befände ich mich noch im Tiefschlaf. Er lehnte sich zu mir, und ich spürte, wie sich seine Hand zu meinem Gesicht bewegte. Zwei seiner Finger berührten meine Wange. Ich blieb ganz still. Hoffentlich konnte ich ihn täuschen. Endlich löste er seine Hand von mir und entfernte sich.
»In Ordnung, zeig es mir.«
Ich vernahm das Geräusch von mehreren Leuten, die das Zimmer verließen, bevor sich die Tür schloss. Das war mein Hinweis. Vorsichtig öffnete ich meine Augen. Ich war allein. Wahrscheinlich würden sie bald zurückkommen, also blieb mir nicht viel Zeit. Das Zimmer, in dem ich mich befand, war mir fremd. Es war lang und voller großer Stühle und luxuriöser Sofas. Ein Kamin ragte in der Mitte in die Höhe, der so riesig war, dass man leicht einen Elefanten hineinzwängen hätte können. Zwei Statuen in der Form von geflügelten Engeln thronten neben dem Kamin. Sie reichten bis zur halben Höhe der Wand, größer als ein durchschnittlicher Mann und gemacht aus hellem Marmor, so wie der Rest des Interieurs.
Tatsächlich spiegelte sich überall Marmor. Die Zierleisten an der Decke, Stühle, Tische, Kerzenständer – sogar die Figuren von geflügelten Dämonen präsentierten sich auf ihren eigenen Podesten. Ich bemerkte eine Tür auf der anderen Seite des Raums, also sprang ich auf, rannte auf sie zu und öffnete sie leicht. Dann lief ich zurück zu einem der hohen Fenster, umrahmt von dicken roten und goldbestickten Vorhängen, die
bis zum Boden hingen. Schnell versteckte ich mich hinter dem dicken Stoff. Das war meine beste Chance, zu entkommen.
Kurze Zeit später nahm ich wieder Schritte wahr und das Öffnen einer Tür. Ich zählte drei verschiedene Stimmen, und es dauerte nicht lange, bis Draven mein Verschwinden bemerkte. Ich biss auf meine Lippe, als er einen Tobsuchtsanfall erlitt.
»Sie kann nicht weit gekommen sein. Ich kann sie noch fühlen. FINDET SIE!«, donnerte er.
»Ja, mein Lord«, murmelte eine leise Stimme, bevor die Person den Raum verließ.
»Wenn du sie findest, bring sie sofort zu mir!« Dravens Befehl war wohl auf seinen Bruder gerichtet, und ich erschauderte bei dem Gedanken, noch einmal gefasst zu werden.
»Natürlich, Dom. Keine Sorge, wir werden sie finden«, beschwichtigte ihn Vincent, bevor auch er verschwand. Sobald sich ein drittes Mal die Tür schloss, spähte ich durch den Vorhang, nur um auf Nummer sicher zu gehen. Ich wagte mich ins Zimmer vor. Es gab drei Türen – eine in der Mitte, eine links, eine rechts. Ich entschied mich für die, von der ich glaubte, dass keiner sie benutzt hatte.
Vorsichtig öffnete ich sie. Der Raum, der sich vor mir auftat, schien eine Art Lagerraum zu sein, voll bepackt mit Truhen und Kisten. Stapel von Zeitungen türmten sich in die Höhe, und einige Möbel waren mit großen weißen Laken bedeckt. Es war dunkler hier. Ein kleiner Türspalt war meine einzige Lichtquelle, doch der Strahl reichte aus, um mich an den Wänden entlang tasten zu können.
Nun, eines war sicher: Ich konnte mich hier nicht für immer verstecken. Sie würden mich bald finden. Ich tappte an den Wänden entlang, bis ich eine weitere Tür fand. Bingo! Vorsichtig trat ich näher. Ich legte meine Finger um den Griff und rüttelte. Sie war verschlossen. Verdammt!
Was sollte ich tun? Auf einmal hörte ich ein Geräusch, als ob jemand gerade das Schloss aufgesperrt hätte. Ich erstarrte, wartete darauf, entdeckt zu werden, aber nichts geschah. Die Tür bewegte sich nicht, auch nicht der Griff, also versuchte ich es noch einmal. Es funktionierte!
Wieder überprüfte ich die Lage. Ich betrat einen Flur, der sich oberhalb einer Treppe befand. Ein Blick über das Geländer zeigte mir, dass ich mich weiter oben befand als gedacht. Die Treppe verlief so weit nach unten, dass ich das Ende nicht sehen konnte. An diesem Punkt geriet ich in Panik. Wie könnte ich jemals meinen Weg aus diesem Steinlabyrinth finden? Was, wenn mich die nächste Tür direkt zu Draven führte?
Meine Gedanken begannen zu wirbeln, bis es mich schwindlig machte, und ich wich ängstlich zurück. Ich lehnte mich an die Wand und hielt mich an den Steinblöcken fest, die aus ihr herausragten. Was sollte ich nur tun? Wie sollte ich jemals hier rauskommen? Und auch, wenn ich es schaffte, was dann? Vom einen Horrorszenario direkt in das nächste laufen?
Egal, mir blieb keine Wahl. Ich konnte nicht hier kauern und warten, bis sie mich in die Finger bekamen.
Also tapste ich weiter den dunklen Flur entlang. Nur ein paar Kerzen, die in Halterungen an der Wand hingen, leuchteten mir den Weg. Stimmen ertönten. Ich bewegte mich nicht und versuchte, meine Atmung zu verlangsamen. Die Stimmen wurden leiser und verhallten in der Ferne, bis sie völlig verstummten. Ich wagte mich weiter vor und erreichte wieder eine Tür. Gerade, als ich dabei war, sie zu öffnen, ergriff eine Hand meine Schulter. Erschrocken keuchte ich auf.
»Schhh, ich bin‘s nur!« Sophia stand mir gegenüber, mit einer antiken Öllampe in der Hand, die an einer Messingstange hing.
»Sophia?«,
fragte ich ungläubig, als müsste ich noch mal sichergehen, dass sie es war.
»Ja, jetzt komm mit mir.« Sie nahm meinen Arm und zog mich zurück in die andere Richtung.
»Wohin gehen wir?« Irgendwie traute ich ihr nicht ganz.
»Ich bring dich hier raus, aber du musst leise sein. Folge mir.« Sie ließ meinen Arm los, und ich tappte hinter ihr her, bis sie vor einem großen Wandteppich anhielt, der an goldenen Haken hing. Ich warf ihr einen konfusen Blick zu, als sie sich zu mir drehte, um mir die Lampe zu reichen.
»Nimm das«, sagte sie, bevor sie ihre Hände über das gewebte Material schweben ließ, ohne es zu berühren. Es schien, als folgte sie irgendwelchen Mustern, aber bevor ich fragen konnte, was sie da tat, ertönte das Geräusch von aneinander reibenden Steinen. Als sie den Wandteppich zurückzog, enthüllte sie einen Geheimgang in der Wand. Sie nahm mir die Lampe wieder aus der Hand und deutete mir an, ihr zu folgen.
»Wie hast du das gemacht?!«, fragte ich erstaunt, als sie mich durch einen engen Tunnel führte.
»Was gemacht?« Sie blieb gelassen, als ob das, was sie gerade getan hatte, etwas völlig Normales wäre. Die Wände waren nass und der Boden rutschig. Ein paar Male verlor ich beinahe den Halt, aber Sophia packte meinen Arm und stabilisierte mich.
»Vorsicht!« Mir wurde plötzlich bewusst, wie stark Sophia für so eine kleine, zierliche Gestalt war.
»Wie weit noch?« Meine Beine wurden langsam schwer nach der langen Wanderung.
»Hier sind wir schon. Nur noch durch diese Tür«, war ihre monotone Antwort. Ohne sie zu berühren, öffnete sich die Tür. Ich blinzelte, als mir das grelle Licht eines Flurs in die Augen schien. Sie ging weiter, aber jetzt, wo ich sie klar sehen konnte, stieg in mir die Skepsis. Irgendwie verhielt sie sich merkwürdig. Offensichtlich war sie in Eile. Ich konnte kaum mit ihr Schritt halten.
Sie war schon fast bei der gegenüberliegenden Tür angekommen, als ich sie endlich einholte. Ich stoppte sie mit meiner Hand auf ihrer Schulter, und sie drehte sich um. Ihre Mimik wirkte erschreckend wütend, doch ihre Züge besänftigten sich, als sie mich ansah.
»Sophia, was ist los?«, fragte ich vorsichtig.
»Nichts. Ich will dich nur hier rausholen, das ist alles.« Dennoch traute ich ihren Worten nicht, also fragte ich:
»Warum hilfst du mir überhaupt?«
»Weil ich nicht immer mit den Entscheidungen meines Bruders einverstanden bin«, sagte sie und öffnete die Tür. Dummerweise schritt ich hindurch.
Sophia betrat hinter mir den Raum, doch ich konnte meine Augen nicht von dem Mann abwenden, der mir gegenüberstand.
»Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht auf seiner Seite stehe, Keira«,
flüsterte mir Sophia zu, bevor sie ihren Bruder auf die Wange küsste.
»Danke, Sophia. Gute Arbeit«, sagte Draven, bevor seine Schwester das Zimmer verließ. Sobald sich die Tür geschlossen hatte, rannte ich darauf zu, doch sie machte ein verriegelndes Klicken. Ich war mit Draven eingesperrt. Meine Faust schlug auf das Holz, womit ich ihm klar signalisierte, was ich davon hielt, hier gefangen zu sein.
»Das wird nicht helfen«, ertönte eine sanfte, tiefe Stimme hinter mir. Eine, die ich langsam anfing zu verabscheuen. Draven war nicht mehr der, den ich kannte. Er war jetzt mein Jäger und ich seine Gefangene.
»Was dann?!«, schrie ich, als ich herumwirbelte.
»Kooperation wäre ein guter Anfang«, sagte er sarkastisch.
»Du meinst Unterwerfung
. Blind deinen Befehlen zu gehorchen, geht es darum?« Ein Achselzucken war alles, was ich als Antwort erhielt.
»Ich würde das sogar in Erwägung ziehen, wenn nicht alles nur auf deinen Bedingungen basieren würde!«, zischte ich.
»Wenn es allein nach dir ginge, würdest du nicht weit kommen. Schon gar nicht mit dem, was du im Sinn hast«, sagte er kühl. Ich hingegen kochte vor Wut.
»Und was zum Teufel soll das bedeuten?!«
»Ich glaube, du weißt, was das bedeutet. Du bist offensichtlich nicht fähig, für deine eigene Sicherheit zu sorgen.« Er rieb seinen Nacken, als wäre das alles sehr frustrierend für ihn.
»Was, und hier bin ich sicher, mit dir?
Wohl kaum!« Meine Haut wurde heißer mit jedem Wort, das aus seinem perfekten Mund kam. Er stieß einen kurzen Lacher aus und sagte:
»Und habe ich dir je wehgetan?«
»Noch nicht, aber du hältst mich hier gegen meinen Willen fest.«
»Nun, wenn du es mir nicht immer so schwer machen würdest, wären die Dinge vielleicht anders verlaufen, aber ich behalte dich nur zu deiner eigenen Sicherheit hier.« Er verlor langsam seine Gemütsruhe. Ich entschied mich diesmal, einen anderen Weg einzuschlagen. Ihm die Hölle heiß zu machen, würde nur wieder in einen Schrei-Wettbewerb ausarten, und ich konnte sein hitziges Temperament gerade wirklich nicht gebrauchen.
»Hör zu, ich muss gehen. Du verstehst nicht, wie wichtig das ist. Bitte lass mich gehen«, flehte ich noch einmal den Mann an, der einen Willen aus Stahl besaß.
»Ich verstehe mehr, als du glaubst … Catherine.«
Damit ließ er den Namen fallen, den ich so lange nicht gehört hatte, dass er mir schon fremd war, obwohl er mir gehörte. Mein Mund klappte auf. Unglaublich, dass es so weit gekommen war.
Er schritt zu seinem Schreibtisch, und ich hatte endlich die Gelegenheit, meine Umgebung wahrzunehmen. Ich kannte
dieses Zimmer. Dasselbe, in das man mich gebracht hatte, als Layla mir die Klinge in die Rippen gerammt hatte. Die Nacht, die Draven versucht hatte, auf einen Traum abzuschieben. Aber das bestätigte es nur – all das war tatsächlich passiert! Am anderen Ende stand das Bett auf der erhöhten Plattform. Das Bett, in dem ich in dieser Nacht aufgewacht war. Auch die Couch war hier, auf der ich fast verblutet wäre.
Tief in mir hatte ich nicht daran gezweifelt, dass alles real gewesen war. Ich wollte ihn dafür erwürgen, mir einreden zu wollen, ich hätte meinen Verstand verloren. Aber jetzt gab es wichtigere Dinge zu klären. Für den Anfang: Wie hatte er meinen richtigen Namen erfahren? Und was wusste er?
Währenddessen hatte Draven eine Akte aus einer Schreibtischlade geholt. Ich wusste bereits, was sie enthielt und wandte vor Abscheu meinen Blick ab.
»Ich will nicht darüber sprechen«, sagte ich, während sich die Emotionen in mir aufbäumten.
»Du meinst, du willst nicht über deine Vergangenheit sprechen«, zischte er, als er die Akte auf den Schreibtisch schleuderte, sodass der Inhalt heraus schwappte. Mein Leben gedruckt auf Papier lag über das polierte Holz verstreut. Mein Magen produzierte Säure, die ich hinunterzuschlucken versuchte. Zorn begann, meine Scham zu ersetzen. Welches Recht hatte er, mir das anzutun?
»Meine Vergangenheit geht dich nichts an. Wie kannst du es wagen, mich zu verurteilen? Glaubst du, nur weil du meinen richtigen Namen herausgefunden hast, dass das irgendetwas beweist? Du weißt gar nichts!«, rief ich mit zittrigen Händen.
»Sei nicht so naiv, Catherine. Ich verurteile dich nicht, verdammt. Ich versuche dich zu beschützen. Wenn du es nur zulassen würdest …«, sagte er in dem Versuch, mich zu beruhigen, aber dafür war es zu spät.
»Wovor beschützen?«
»Vor dem hier!« Er zeigte auf die Akte, die sich wie eine Collage meines Lebens auf dem Boden ausbreitete.
»Danke, aber ich brauche deine Hilfe nicht. Ich wurde schon einmal allein damit fertig und werde es auch wieder tun.« Aber er blickte nur auf meine Ärmel und versetzte mir den ultimativen Hieb.
»Das nennst du damit fertigwerden?«
Ich blickte ebenfalls nach unten auf meine Arme, bedeckt von mehreren Schichten Kleidung. Ich war so wütend, dass Tränen meine Augen füllten. Ich wollte ihn anschreien, aber stattdessen sammelte ich mich ein wenig und sagte kontrolliert:
»Du denkst, du weißt alles, nur weil du eine verdammte Akte mit Beweisfotos und Laborergebnissen gelesen hast, aber du weißt nichts darüber, wie ich damit fertiggeworden bin. Du wirfst einen Blick auf mich und kommst zu der gleichen Schlussfolgerung wie alle anderen. Schließlich warst du es, der gesagt hat, Übermut sei die Mutter, aus der alle Fehler geboren werden.« Am Ende dieser kleinen Rede konnte ich die Wasserperlen, die meinen Augen entfliehen wollten, nicht mehr stoppen.
»Dann erzähl es mir.« Seine Stimme füllte sich mit Mitgefühl.
»Was?«, fragte ich schluchzend.
»Nun, du sagst, ich verstehe es nicht. Du sagst, ich kenne nicht die ganze Geschichte, und das ist wahr.« Er nahm die Akte und fuhr fort: »Ich habe das hier unzählige Male gelesen. Es gibt keine Aussage von dir. Wieso erzählst du mir nicht, was passiert ist?«
»NEIN!«, rief ich kopfschüttelnd, als ob das diesen neuen Alptraum auslöschen könnte. Ich wollte das Geschehene nicht noch einmal durchleben. Er kam mir ein paar Schritte näher und stoppte einen halben Meter vor mir. Er neigte seinen Kopf, um mein Gesicht zu sehen, aber ich hielt meinen gesenkt.
»Alles was ich will, ist, zu gehen. Ich muss hier raus.«
»Nun gut, das ist der Deal … Wenn du mir erzählst, was wirklich passiert ist, lasse ich dich gehen.« Meine Herzfrequenz schoss ein paar Stufen nach oben.
»Das würdest du tun?«, fragte ich wachsam.
»Ich gebe dir mein Wort. Wenn du am Ende immer noch gehen willst, dann erlaube ich es, aber …«
»Aber?«
»Die Geschichte muss mich zufriedenstellen.« Er legte seine Hand unter mein Kinn und hob mein Gesicht. Meine Haut kribbelte unter seinen Fingerspitzen. Ich verachtete mich selbst. Wie konnte ich noch immer so für ihn fühlen? Ich biss wieder auf meine Unterlippe und er lächelte bei dem Anblick, bevor er losließ und einen Schritt zurückwich.
Mein Körper kühlte augenblicklich ab, als er sich distanzierte, und ich wollte beinahe schon zu ihm zurücklaufen, nur um seine Wärme zu spüren. Was ging da bloß in meinem Kopf vor? NEIN! Er war der Feind. Ich war hier nicht sicher. Er war gefährlich!
Andererseits … Er hatte mich nicht verletzt und immer wieder betont, dass er mich beschützen wolle. Gott, das war alles so verwirrend. Von der einen Seite zerrte mich die Logik, von der anderen die Hoffnung. Gerade jetzt, wo ich unbedingt einen Beschützer brauchte.
Er vergrößerte den Abstand zwischen uns und deutete mir an, Platz zu nehmen. Ich setzte mich hin. Bei der Geschichte, die ich offenbaren musste, wusste ich nicht, ob meine Beine der Aufgabe gewachsen waren, mich aufrecht zu halten.
»Was weißt du bereits?«, fragte ich ihn. Ich wollte nicht mehr erzählen als notwendig.
Er seufzte, bevor er mir antwortete.
»Ich weiß, dass dein echter Name Catherine Keiran Williams ist. Du bist 23 Jahre alt und wurdest am 7. Tag des 7.
Monats 1987 in Liverpool geboren. Als du sieben Jahre alt warst, widerfuhr dir etwas sehr Ungewöhnliches, und du fingst an, unerklärliche Dinge zu sehen. Du hast gelernt, es zu kontrollieren und ein halbwegs normales Leben gelebt, bis du im Alter von 21 nach Southampton gezogen bist, um aufs College zu gehen. Dort wurdest du Opfer einer Entführung.« Mir verschlug es die Sprache.
Mein Leben in Kurzfassung. Das, wovor ich über zwei Jahre lang davongelaufen war. Und das war die Nacht, in der ich schließlich gegen eine Ziegelwand rannte, die mich daran hinderte, weiterzulaufen. Ich wollte vor Schmerzen brüllen, und er wusste es.
Er war die einzige Person auf der Welt, vor der ich dieses Geheimnis hüten wollte. Jetzt begann meine Scheinwelt um mich herum zu zerbröckeln und ließ mich in den Trümmern meiner schrecklichen Vergangenheit zurück.
Also nahm ich einen tiefen Atemzug und tat das, was ich niemals tun wollte …
Ich hörte auf, davonzulaufen.