Die Narben meiner Vergangenheit
»
A
lle in meiner Familie nannten mich immer Keira oder Kazzy, da mein Vater davon überzeugt war, dass ich als Junge geboren werden würde. Mein zweiter Vorname ist Keiran, denn so hätten sie mich getauft. Keiran war mein Großvater. Erst als ich aufs College ging, ließ ich ihn fallen und nahm den Namen Catherine an, quasi als Neuanfang.« Ich wünschte, ich hätte an dieser Stelle aufhören können, aber ich wusste, dass ich nicht hier rauskommen würde, solange ich die Geschichte nicht zu Ende gebracht hatte. Aber Dravens nächste Worte überraschten mich.
»Mir gefällt der Name Keira und seine Bedeutung.«
»Seine Bedeutung?«, fragte ich, da ich ehrlich gesagt keinen Schimmer hatte. Er schenkte mir ein halbherziges Lächeln, das viel zu gut an ihm aussah.
»Vielleicht ein anderes Mal.«
»Klar«, sagte ich ungläubig. Wann hatte mir dieser Typ jemals irgendetwas erzählt?
»Also, ich habe Geschichte und Spanisch studiert, wie jetzt auch, aber zusätzlich noch Kunst. In den ersten paar Monaten hat uns ein Mann unterrichtet, der kurz vor dem Ruhestand war. Sein Nachfolger war ein gewisser Hugo Morgan.« Anscheinend
war ich nicht die Einzige, auf die dieser Name eine Wirkung hatte, denn Draven erstarrte. Sein intensiver Blick irritierte mich, also senkte ich den Kopf, bevor ich fortfuhr.
»Er war bekannt für seine Liebe zum Surrealismus, für den ich damals auch eine Leidenschaft hatte.« Mir lief es kalt den Rücken hinunter beim Gedanken an diesen Tag. Ich war so ahnungslos gewesen … Dravens Augen hafteten auf mir, was ich sowohl tröstend als auch nervenaufreibend empfand.
»Zuerst wirkte er charmant. Seine Liebe zur Kunst hatte ihn zu einem beliebten Tutor unter seinen Schülern gemacht, einschließlich mir.« Ich lachte humorlos.
»Ich erinnere mich, wie eifersüchtig meine Freunde waren, da ich mich schnell als seine Lieblingsschülerin entpuppte. Die Zeit verging, und die Sache wurde ernster. Er verfolgte mich, überall. Jedes Mal, wenn ich mich umdrehte, war er da. Zuerst dachte ich, ich wäre paranoid, aber bald wurde mir klar, dass er mich stalkte. Letzten Endes schwänzte ich einige seiner Kurse, um mich von ihm zu distanzieren, aber kurze Zeit darauf konfrontierte er mich damit.« Ich schloss kurz meine Augen, während mich meine Erinnerungen zu jenem Tag zurücktrieben.
»Er tischte mir eine Geschichte auf. Meinte, es täte ihm leid, wenn er zu weit gegangen sei, doch ich würde ihn an jemanden erinnern, der ihm lieb war und er wolle nicht, dass es meine Arbeit beeinflusste. Ich hatte Mitleid mit ihm und entschied mich, das Ganze zu vergessen. Also besuchte ich die Kurse wieder regelmäßig, da alles geregelt schien. Leider hatte ich keine Ahnung, dass das erst der Anfang war«,
fügte ich leise hinzu.
»Auch meine Mitbewohnerin Charlotte traute ihm nicht. Sie meinte, ich solle zur Polizei gehen oder mit jemandem an der Universität sprechen. Aber ich wollte kein Drama daraus machen. Dumm wie ich war, ignorierte ich ihren Rat. Ich hatte keine Ahnung, dass ich im Begriff war, den größten Fehler
meines Lebens zu begehen. Einen Fehler, für den ich bald teuer bezahlen musste.« Ich hielt kurz inne, um eine verirrte Träne wegzuwischen. Draven sah mich voller Mitleid an, stand auf und sagte:
»Ich denke, das reicht für den Moment. Wir sollten das später fortsetzen, nachdem du dich etwas ausgeruht hast.« Aber ich wollte mich nicht ausruhen. Ich musste hier so schnell wie möglich raus. Je länger ich hier war, desto geringer standen meine Chancen, Morgan zu entfliehen.
»Mir geht es gut. Ich würde lieber weitermachen. Wirklich.«
Ich nickte, also setzte er sich wieder hin, um dem Rest meiner dunklen Vergangenheit zu lauschen.
»Du hast gesagt, du weißt von meinen Visionen. Ich weiß nicht, woher, und selbst wenn ich dich fragen würde, bezweifle ich, dass du mir eine Antwort geben würdest. Aber ich bin es schon gewöhnt, dass du anscheinend unmögliche Dinge über mich weißt, ohne mir eine Erklärung zu liefern«, kommentierte ich. Er reagierte nicht so, wie ich es erwartet hatte. Nein, er lächelte und schockierte mich mit der Antwort:
»Du bekommst deine Antworten, wenn du bereit dafür bist.«
»Wirklich?« Ich konnte meine Überraschung nicht verbergen, aber mir wurde schnell klar, dass das nur eine seiner Taktiken war, um mich hier zu behalten.
»Ja. Aber erst, nachdem du die Geschichte zu Ende gebracht hast und ich mir sicher sein kann, dass es der Wahrheit entspricht«, sagte er. Ich glaubte ihm.
»Nun, eines Nachts änderte sich alles. Es war nämlich so … Ich hatte Visionen. Visionen von Dingen, die ich nur als Kreaturen beschreiben kann. Ich sehe normale Menschen, und dann, plötzlich, verwandeln sie sich in etwas anderes, das ich nicht erklären kann. Also dachte ich mir, wenn ich damit leben müsste, dann würde ich zumindest versuchen, einen Weg zu finden, es zu kontrollieren. Und nun … Ich habe einen
gefunden.« Draven sah mich mit einem faszinierten Grinsen an. Nicht so, als wäre ich verrückt, sondern beinahe schon mit Ehrfurcht und Erstaunen. Als hätte ich das Geheimnis der Unsterblichkeit gelüftet.
»Wie?« Er schüttelte verwundert seinen Kopf. Was mich zu der Frage führte – was wusste er darüber? War er wie ich?
»Ich zeichnete, was ich sah, sperrte es quasi weg, damit es nicht zurückkommen konnte. Nach einer Weile kamen die Visionen nur noch in meinen Träumen vor, und schon bald lernte ich, auch diese zu kontrollieren. Sie beruhigten sich nach Jahren der Konzentration und Beharrlichkeit. Aber in dieser einen Nacht verfolgte mich ein Alptraum, über den ich keine Kontrolle hatte. Das passiert manchmal und tut es leider immer noch …« Er nickte, und ich fuhr fort:
»In dieser Nacht sah ich Morgan nicht als Dämon, sondern wie er selbst von einem terrorisiert wurde. Er war überall, wo er hinging, verfolgte ihn wie die Pest. Es ist schwer zu erklären, aber ich hatte den Eindruck, als würde er ihm das Leben aussaugen.« Draven reagierte auf diese neue Information mit Schock. Offenbar hatte ich ihm etwas erzählt, das ihm neu war. Er sprang aus seinem Stuhl.
»Ich muss dich kurz verlassen, aber ich bin gleich zurück.« Er bewegte sich zur Tür, blieb aber stehen und drehte sich um. Dann kam er auf mich zu, stellte sich vor mich und fuhr mit einer Hand an der Seite meines Halses entlang. Als ich nach unten blickte, um dem intensiven Moment zu entkommen, benutzte er seinen Daumen, um Druck unter meinem Kinn auszuüben. Mir blieb keine andere Wahl, als aufzusehen.
»Bitte bleib hier und warte auf mich, Keira.« Damit ließ er mich zurück, während ich vergebens versuchte, mein Herzklopfen zu stabilisieren.
Ich stand auf und erkundete das Zimmer, das den Räumlichkeiten eines Königs ähnelte. Wandteppiche mit
verschiedenen Kriegsszenen hingen über Steinmauern. Sie zeigten Kämpfe von japanischen Kriegern auf Pferden, wie geflügelte Soldaten, die vom Himmel herabstürzten.
Der Sitzbereich bestand aus komfortablen Möbeln, die männlichen Charme versprühten. Schweres Holz, eisernes Inventar sowie Luxus mit satten Farben und dicken Materialien. Einer der schönsten Räume, die ich je gesehen hatte, aber irgendwie auch Jahre hinter seiner Zeit. Das fand ich ungewöhnlich.
Ich wagte mich zur Couch vor und bemerkte einen dunkelroten Fleck. Mein Blut? Ich streckte einen Finger aus, um ihn zu berühren, als mich das Geräusch der Tür erschreckte. Wider Erwarten war es aber nicht Draven.
Ein kleines Mädchen mit kurzen schwarzen Haaren und blauen Strähnen wuselte herein. Sie hatte ein junges, freundliches Gesicht und trug einen langen schwarzen Rock mit einem blauen Korsett. Sie hielt ein Tablett mit Obst und Getränken, das sie auf den Tisch neben meinem Stuhl stellte.
»Mein Name ist Candra. Mein Lord meinte, du hättest vielleicht Hunger und Durst. Wenn ich dir noch irgendetwas bringen kann, sag einfach Bescheid. Neben der Tür ist eine Sprechanlage installiert«, bot sie netterweise an.
»Danke, Candra«, sagte ich, obwohl ich mich unwohl fühlte, dass mir eine Dienerin Getränke servierte. Schließlich war es noch nicht lange her, dass ich in ihrer Position gewesen war. Lächelnd verließ sie den Raum, und ich hörte sofort, wie sie die Tür versperrte. Draven vertraute mir also nicht
. Natürlich nicht, warum sollte er? Ich meine, wie oft hatte ich vor dem Kerl Reißaus genommen?
Meine Kehle war trocken und ich ging zum Tisch, um mir ein Glas Wasser einzuschenken. Ich schnappte mir auch ein paar Trauben, bevor ich auf den Mahagoni-Schreibtisch zuging, auf dessen Oberfläche meine Akte verteilt war.
Ich schob die Blätter herum, bis ich auf zwei Fotos stieß. Terror jagte mir über die Wirbelsäule, als würde mir ein unsichtbarer Draht einen Elektroschock verpassen. Ich hob das erste Foto auf. Eine Krankenschwester hatte es für die Polizei geschossen. Es zeigte mich im Krankenhaus. Tot, aber lebendig.
Ich war übersät mit Schnitten und Prellungen, die meinen gebrochenen Körper marmorierten. Ein Laken bedeckte meine Brust, aber meine freien Schultern wiesen hässliche rote Beulen auf, die über meinen Hals liefen. Blaue Flecken markierten meine Arme wie BH-Träger, nur diese waren von einer anderen Art. Mein Gesicht zeigte die Spuren meines Traumas. Rote Augen, wund von den Tränen, die tagelang geflossen waren.
Aber das war nicht der schlimmste Anblick. Nein, es waren meine bandagierten Arme, die vom Handgelenk bis zum Ellbogen eingewickelt waren. Jeder Schnitt in meiner Haut drückte Blut durch die Mullbinden.
Ich warf es zu Boden, angewidert bei dem Gedanken, dass Draven mich so gesehen hatte. Das andere Bild hatte jedoch den gegenteiligen Effekt – Morgans Fahndungsfoto. Natürlich war Morgan nicht sein richtiger Name, aber ich kannte ihn nur unter diesem, also blieb er auch so in Erinnerung.
Er sah so aus wie an dem Tag, an dem er mich gekidnappt hatte – das reine Böse. Ich hatte ihn immer als sehr freundlich wahrgenommen, bis zu einem gewissen Grad auch gutaussehend. Jetzt wurde mir schlecht bei dem Gedanken daran, wie dumm ich gewesen war.
Er war jung für einen Tutor, erst in seinen späten Zwanzigern. Er hatte bronzefarbenes, kurz geschnittenes Haar. In die Kurse kam er immer mit einem Trilby Hut. Er besaß ein langgestrecktes Gesicht mit einem spitzen Kinn und einer langen, geraden Nase.
Doch seine Augen waren das herausragendste Merkmal, denn egal, welche Gefühle hinter seinem Lächeln steckten, seine
salbeigrünen Augen logen nicht. Sie waren immer kalt, wie erstarrt in einer schmerzhaften Zeit, die er nicht hinter sich lassen konnte.
Ich hatte dieses Gesicht zwei Jahre lang nicht gesehen, dennoch konnte ich mich an die Schrecken erinnern, die es verursacht hatte, als wäre es erst vor Stunden passiert. Die eiskalte Realität rammte mich wie ein Bus. Ich konnte nicht atmen.
Dieses Monster war zurück, und eins war klar …
Er war mir auf den Fersen.
»Alles okay?« Dravens Stimme brach durch meine dunklen Erinnerungen. Ich drehte mich um, mit dem Foto in meiner Hand. Langsam verringerte er die Distanz zwischen uns und sah besorgt auf meine weißen Knöchel, die das Foto in ihrer Faust zerknüllten. Er näherte sich vorsichtig, wie man sich an ein verängstigtes Reh heranpirscht, das in eine Falle getappt war. Ich biss auf meine Lippe und blickte auf, als er meine angespannte Hand in seine nahm. Eine hielt sanft mein Handgelenk, während die andere anfing, meine Finger mit etwas Kraft zurückzubiegen.
»Lass los, Keira«,
sagte er zärtlich, und ich wusste, dass er damit nicht nur das zerknitterte Gesicht in meiner Hand meinte. Ich nickte ihm kurz zu und überließ ihm das Objekt meiner Qual. Er ließ es zu Boden fallen. Ich konnte nicht anders, als mit meinem Fuß darauf zu stampfen und es hinter mich zu kicken, wo es auch bleiben sollte. Für immer.
»Keira, ich …« Seine Stimme brachte mich zurück zu dem, was noch vor mir lag, also fiel ich ihm ins Wort, bevor er mich noch einmal aus dem Konzept bringen konnte.
»Mir geht es gut, Draven. Lass uns das hier zu Ende führen.« Ich ging an ihm vorbei, setzte mich wieder hin und wischte wütend die Tränen mit meinem Handschuh weg.
»Ich bin mir nicht sicher, ob du dazu bereits bist. Warum …«
»Hör zu, ich will das einfach nur hinter mich bringen, damit ich endlich hier raus kann. Und wenn du mich nicht auf der Stelle gehen lässt, sollten wir weitermachen.«
»Wie du willst.« Seufzend nahm er seinen Platz wieder ein.
»Ja, wäre ja zu schön gewesen«,
murmelte ich, aber seinem Ausdruck nach zu urteilen, hatte er mich klar gehört.
»Also, wo war ich?«, fragte ich. Zum ersten Mal, seitdem ich Draven getroffen hatte, machte er einen unbehaglichen Eindruck. Er fuhr mit seiner Hand durch sein dickes, dunkles Haar. Meine Augen weiteten sich. Unglaublich. Hier erzählte ich die schreckliche Wahrheit meines Lebens, während ich darüber fantasierte, mit meinen Händen durch sein Haar zu streifen. War es so weich, wie es aussah?
»Du hast Dämonen ausgesperrt«, sagte er ruhig.
»Ach ja, nun … Jetzt hatte ich eine Skizze des Monsters, das ihn täglich heimsuchte, fest verschlossen in meinem Notizbuch. Was mir jedoch einen Strich durch die Rechnung machte, war die Feuerwehrübung am nächsten Tag. Wir mussten alle unsere Taschen und Jacken im Klassenzimmer lassen. Natürlich hatte ich zu dieser Zeit gerade Kunst. Als ich zurückkam, waren mein Notizbuch und Morgan verschwunden. Ich habe mir nichts dabei gedacht, bis ich mich später auf den Weg zum Studentenwohnheim machte und er auf mich zukam.« Ich schüttelte meinen Kopf, als mir wieder einmal klarwurde, wie viele Fehler mir unterlaufen waren.
»Was hat er getan?«, knurrte Draven, als würde er gleich seine Fassung verlieren.
»Er wollte mich dazu bringen, mit ihm zu gehen, faselte etwas von gemeinsam durchbrennen. Das gab mir den Rest, und als ich schließlich von ihm loskam und zurück in meinem Zimmer war, erzählte ich Charlotte von meinen Plänen, mit den Behörden zu sprechen.« Ich neigte meinen Kopf. Was als Nächstes kam, war hässlich, und ich hasste es, so schwach auszusehen!
Ich fummelte am Saum meines Handschuhs.
»Wie ist es passiert, Keira?« Und da war es. Eine Frage in diesem sanften, aber fordernden Ton, und ich fand, dass ich ihm nichts ausschlagen konnte. Wie er meinen Namen sagte … Verdammt, ich hätte ihm die Welt geschenkt, mit meiner Seele, komplett verpackt mit einer Schleife obendrauf!
»Ich ging mit diesem Kerl, Tom Robertson, aus. Er war nett, lustig, intelligent … Der Typ, den man seinen Eltern vorstellen kann. Als er mir schrieb, dass er mich treffen wolle, stimmte ich zu. Ich brauchte dringend eine Ablenkung von Morgan.« Wenn ich nur zurückgehen könnte, hätte ich keine weitere Stunde verstreichen lassen, zur Polizei zu gehen, dachte ich bitter.
»Weißt du, ich hatte noch immer ein schlechtes Gewissen, Morgan das anzukreiden. Ich wusste, wie es sich anfühlte, Dinge zu sehen. Ich erinnerte mich daran, wie allein ich mich gefühlt hatte, wenn ich es nicht kontrollieren konnte. Was ich aber nicht wusste, war, dass Morgan seine eigenen Methoden hatte, damit umzugehen. Oder eher, mit mir umzugehen.«
Ich pausierte kurz, um mich zu räuspern. Draven sah aus, als wollte er mir näherkommen, hielt sich aber zurück.
»Trink«, sagte er in einem sanften Ton, der so flüssig klang wie das Wasser, das meinen Hals hinunterrann. Es kühlte meine Organe, die sich anfühlten, als hätten meine Erinnerungen sie in Brand gesetzt. Ich legte eine Hand auf meinen Nacken und schloss die Augen. Die Geschichte würde noch schlimmer werden. Draven analysierte mich mit sichtbarer Besorgnis, also versicherte ich ihm:
»Mir geht es gut.«
Das kaufte er mir nicht ab, seiner gehobenen Augenbraue nach zu urteilen, aber er akzeptierte meinen Kommentar mit einem Nicken.
»Er hat Toms Handy benutzt und vorgetäuscht, dass ich mich mit meinem Freund treffen würde, doch er lockte mich an
einen Ort, an dem er mich leicht überfallen konnte. Ich hatte keine Chance! Und bevor ich wusste, wie mir geschah, legte er seine Arme um mich und injizierte mir etwas. Du siehst also, wieso Spritzen mir ein Dorn im Auge sind«, stellte ich klar, in der Hoffnung, er würde es schnallen. Sein Blick sagte mir, dass meine Nachricht angekommen war.
»Ich wusste nicht, dass ich dir damit noch mehr Schmerzen zufüge«, sagte er mit einem betrübten Blick, aber ich entgegnete nur:
»Hätte das einen Unterschied gemacht?«
»Nein, das hätte es nicht«, war seine ungenierte Antwort.
»Dachte ich mir.«
»Ich tue, was ich tun muss, aber meine Beweggründe sind weit entfernt von deinen Alpträumen, Keira.« Die Art, wie er das sagte, reichte aus, um ihm zu glauben. Draven und Morgan konnten gar nicht unterschiedlicher sein. Gut und Böse. Oder so dachte ich zumindest, töricht wie ich war.
»Als ich aufwachte, war ich in meinem Gefängnis. Eine Hölle aus Beton – der Keller seines Hauses – in dem ich Tage festsaß, gefangen zwischen dem Wunsch zu sterben und für jede Stunde zu kämpfen.« Ich blickte auf meine verborgenen Narben und streichelte sie abwesend, als ob sie in diesem Moment eine liebevolle Berührung bräuchten.
»Er glaubte, ich wäre von demselben Dämon besessen, der ihn heimsuchte. Und egal, was ich sagte oder wie sehr ich bettelte, nichts drang zu ihm durch. Er war besessen von der Idee, dass er mich heilen konnte.« Draven sah aus, als ob er jede Träne fühlte, die mir aus den Augen tropfte.
»Er nannte es Rettung, aber ich musste nur vor dem Wahnsinn gerettet werden, der ihn verzehrte. Zuerst versuchte er es mit kleinen Ritualen, die hauptsächlich harmlos waren. Weihrauch, Bespritzen mit Heiligem Wasser, Lesen verschiedener Schriften, so ein Zeug. Aber weil sein Dämon ihn
nie verlassen hatte, bedeutete das seiner Ansicht nach, dass er mich auch nie verlassen hatte. Es wurde schlimmer. Die Wochen vergingen. Er begann zu recherchieren und stieß auf radikalere, gefährlichere Methoden.« Ich schloss kurz meine Augen.
»Ich verbrachte die Tage damit, darauf zu warten, dass mich endlich jemand fand. An den Wochentagen ging er zur Arbeit und ich schmiedete Fluchtpläne, aber es gab keinen Ausweg. Er hatte an alles gedacht! Ich schlief auf einem Luftbett, das er jede Woche neu aufblies. Er servierte mein Essen auf einem Kinderteller mit einem Plastiklöffel. Er sagte immer, er müsste das tun, damit der Dämon mich nicht zwingen könnte, mich selbst zu verletzen. Dass er mich nur so für immer behalten könnte.« Dieses Mal konnte Draven nicht mehr stillsitzen. Er sprang auf und eilte zu einem Tisch, auf dem ein großer Dekanter stand. Er goss die rote Flüssigkeit in ein Weinglas und kippte alles auf einmal runter, bevor er sich noch mal nachschenkte. Er spähte zu mir rüber, bevor er ein weiteres Glas füllte.
»Hier, trink das. Es wird helfen.« Er händigte mir das Weinglas aus. Ich beäugte die rote Flüssigkeit, während ich sie schwenkte. Draven bemerkte mein Zögern und sagte:
»Rotwein.«
Ich wagte einen Schluck. Die beerigen Aromen, gemischt mit einem säuerlichen Nachgeschmack, entfalteten sich in meinem Mund. Er beobachtete jede meiner Bewegungen, als ob er nur darauf wartete, dass ich gleich zusammenbrechen würde. Meine Haut brannte, als würde ich unter all meinen Schichten von Kleidung schmelzen, aber ich wollte sie nicht ablegen. Ich musste ihm zeigen, dass sich an meinem Entschluss zu gehen, sobald das alles vorbei war, nichts geändert hatte.
»Also, wie gesagt, die Wochen vergingen und noch immer war keine Rettung in Sicht. Und schon bald erkannte ich, warum. Er war clever. Hatte der Universität einen Zettel mit meiner
gefälschten Handschrift überreicht, auf dem stand, dass ich aus privaten Gründen exmatrikuliert wäre. Er hatte auch Briefe an meine Eltern geschrieben, dachte sich Ausreden aus, weshalb ich mich nicht mehr gemeldet hatte. Aber meine Eltern mussten sich Sorgen gemacht haben, denn eines Nachts setzte er mich unter Drogen und zwang mich dazu, etwas vorzulesen.«
»Was genau musstest du vorlesen?«, fragte Draven mit gefletschten Zähnen.
»Dass ich in Ruhe gelassen werden wollte. Dass es mir gut ginge, ich aber mit Tom durchgebrannt sei, um zu heiraten, und dass ich den Kontakt zu ihnen endgültig abbrechen wollte. Er ließ es mich immer und immer wieder vorlesen, bis es glaubwürdig klang.«
»Das muss hart gewesen sein«, sagte er mitfühlend, als ich an meinem Wein nippte.
»Das war es. Manchmal rief ich um Hilfe, aber mir wurde schnell klar, dass das keine gute Idee war.« Ich zitterte.
»Was hat er getan?« Die Armlehnen protestierten unter der Kraft seiner Hände.
»Tja, sagen wir einfach, nach ein paar heftigen Schlägen ins Gesicht habe ich gelernt, meinen Mund zu halten.«
»Я буду ему подавить!« (»Ich werde ihn zermalmen!«, auf Russisch) Er sprang aus seinem Stuhl und brüllte in einer Sprache, die sich nach Russisch anhörte. Er lief vor und zurück, eine Hand fest in seinen Nacken gepresst, als ob er kurz davor wäre, etwas mit seiner Faust zu zerstören. Nach einer Minute traf mich sein Blick wieder.
»Verzeih mir, es ist nur … Nun, es ist nicht leicht für mich, das zu hören.« Er versuchte, sein Temperament zu zügeln, so viel war klar. Und wieder einmal konnte ich meine Augen nicht von seinem Rahmen aus Muskeln abwenden, der sich unkontrolliert anspannte. Als würde er jede Sekunde vor Wut
explodieren. Er bemerkte meine besorgte Mimik und glättete seine Gesichtszüge.
»Bitte fahr fort.«
Ich runzelte meine Stirn.
»Bist du sicher, dass du das verkraften kannst, oder brauchst du
etwas Zeit?«, fragte ich mit einem kleinen Lächeln, um den Spieß umzudrehen und uns etwas die Spannung zu nehmen. Das brauchten wir anscheinend beide. Er nahm einen tiefen Atemzug und ließ ihn mit einem schweren Seufzer los.
»Es geht mir gut, danke«, sagte er und senkte seinen Kopf, als ob ich ihm dabei geholfen hätte, sein Temperament unter Kontrolle zu bringen. Ich fuhr fort.
»Ich dachte, das war‘s. Dass er alle getäuscht hätte. Die Leute auf dem College dachten, ich wäre zu Hause, und meine Familie dachte, ich wäre mit Tom durchgebrannt. Ich wusste, ich konnte mir nur noch selbst helfen, indem ich auf eine Chance wartete, zu fliehen. Aber dann wurde alles noch schlimmer.«
»Wie?«
»Er begann wieder mit den Ritualen. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, dass ich vielleicht doch nicht besessen, sondern eine Hexe war. Natürlich kannte ich meine Geschichte über die Hexenjagd und wie sie in der Regel endete. Aber hier stieß er auf ein Problem. Die meisten Hexen wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt, ertränkt oder gefoltert, bis zum Tod. Er wollte mich aber am Leben lassen. Eines Nachts kam er mit einer Alternative, und diese Nacht konnte ich nie wieder vergessen.«
Mein Weinglas war leer, und Draven schenkte mir schnell nach. Er wusste, dass ich es dringend brauchte, und es half. Mein Körper erholte sich mit jedem Tropfen, der meine Kehle hinunterlief. Es musste ein starker Wein gewesen sein, um so schnell seine Wirkung zu entfalten. Draven stand noch immer
neben mir. Ich konnte spüren, wie sein Blick von oben in mich eindrang.
»Keira.«
Er sagte meinen Namen wie eine warme Liebkosung, und ich wollte in dem Trost versinken. Ich versuchte, auf meine Füße zu schauen, aber seine Hand schoss hervor, was mich daran hinderte, meinen Kopf noch mehr zu senken. Er nahm mein Kinn fest in die Hand und hob mein Gesicht, damit ich zu seiner hochragenden Gestalt aufschauen musste.
»Du musst das nicht tun, Keira«, sagte er so leise, dass es kaum mehr ein Flüstern war, und ich schloss meine Augen, um ein paar Tränen fallen zu lassen. Seine Finger verließen mein Kinn, um sie mit einer Berührung aufzufangen.
»Du wolltest das, Draven, also bekommst du es auch. Alles davon.
Ich bin den Deal, dir meine zermürbende Vergangenheit zu offenbaren, willentlich eingegangen. Also egal, wie schwer das für mich ist, ich werde jetzt bei Gott nicht aufhören«, sagte ich mit Nachdruck. Etwas in mir war übergeschnappt. Wenn ich das jetzt nicht zu Ende brachte, würde Draven es nie voll und ganz verstehen. Er würde niemals wirklich die blinde Gerechtigkeit für meine Taten sehen, und ich wollte sie nicht länger in den Schatten stellen.
»In Ordnung, Kleine.« Seine Berührung verschwand, und ich wartete, bis ich hörte, wie er seinen Platz wieder einnahm, bevor ich meine Augen öffnete.
»In dieser Nacht wachte ich an einen Stuhl gefesselt auf. Meine Handgelenke, Füße, sogar mein Hals waren angekettet. Die Fesseln liefen unter meine Arme und um die Schultern. Ich konnte mich kein bisschen bewegen. Ich fühlte mich immer noch etwas benommen. Er hatte wahrscheinlich etwas unter mein Essen gemischt, da ich mich an nichts mehr erinnern konnte, was danach passiert war. Ich hatte Todesangst und war völlig außer mir. Ich glaube, ich habe die ganze Zeit geschrien. Ich erinnere
mich nur an den Schmerz auf meiner Haut und den Geruch meines eigenen verbrannten Fleisches. Irgendwann verlor ich das Bewusstsein.« Automatisch gingen meine Hände zu den kleinen Brandmalen auf meinem Rücken und kratzten sie durch meine Kleidung.
»Als ich aufwachte, waren meine Wunden verbunden. Er strich meine Haare zurück. Sagte mir, wie leid ihm das alles täte. Ich meine, ich wünschte ihm den bitteren Tod, und er tat so, als wollte er mir helfen! Aber in seinen eigenen Wahnvorstellungen half er mir auch. Er meinte, es hätte funktioniert, da er die Dämonen nicht mehr sehen könne. Er erzählte mir, er habe gelesen, dass Hexen etwas besaßen, das man ›das Teufelsmal‹ nannte. Es entsteht, wenn sie von einem der Lakaien des Teufels berührt werden. Ein glühender Schürhaken würde helfen, sie auszutreiben.«
»Vade Retro Satana!«, fluchte Draven angewidert.
»Was bedeutet das?«, fragte ich ihn. Ich wollte mich ihm nähern und sein Gesicht berühren, so, wie er es schon so viele Male bei mir getan hatte. Die Linie zu glätten, die sein Stirnrunzeln zwischen seinen Augenbrauen hervorbrachte.
»Es bedeutet, ›Weich zurück, Satan.‹ Eine mittelalterliche, katholische Exorzismusformel. Aber in meinem Fall meinte ich etwas anderes, denn es bedeutet auch: Führe mich nicht in Versuchung!« Ich verstand nicht ganz, was er mit diesem letzten Teil meinte, aber ich wollte nicht nachhaken, da er ziemlich aufgebracht wirkte. Also kam ich zum Ende meiner schrecklichen Geschichte.
»Dann sprach er darüber, dass wir für immer zusammen sein könnten und er mich bald an einen anderen Ort bringen würde, wo wir heiraten und ein neues Leben beginnen könnten. Ich wollte ihn anschreien, ihn vernichten, aber ich musste clever sein. Also spielte ich mit, tat so, als ob ich das auch wollte, in der Hoffnung, bald eine Chance zu bekommen. Aber wieder lag ich
falsch.« Ich nahm mir einen Moment Zeit, um meinen Wein zu trinken.
»Er sprach davon, dass meine Familie zu einem Problem würde, das er lösen müsste. Das versetzte mich in Panik, mehr noch als in all der Zeit, die ich dort unten eingesperrt war. Ich wusste, wozu er fähig war, wusste, dass meine Familie in Gefahr war. Das gab mir also die Kraft, das zu tun, was ich letzten Endes auch tat.« Ich blickte hinab zu meinen verdeckten Narben und wünschte mir, sie würden für immer so bleiben.
»Er wollte das Haus verkaufen und begann, Boxen nach unten zu schleppen, um sie dort lagern. In einer von ihnen fand ich etwas. Etwas, das mir die Chance gab, alles ein für alle Mal zu beenden. Ich wartete darauf, bis er zur Arbeit ging und durchsuchte die Boxen eine nach der anderen. Die meisten waren voll mit alten Zeitungsausschnitten und Kinderspielzeug. In einer davon war etwas verstaut, das so aussah, als hätte es einmal einem kleinen Mädchen gehört. Ich fand ein Bild von ihr. Sie war mir sehr ähnlich, mit langen blonden Haaren und den gleichen Augen. Sie saß neben einem jungen Morgan und hatte ihre Arme um ihn geschlungen. Am Boden fand ich eine Holzschatulle. Der Schlüssel steckte im Schloss. Es war eine Musikbox, mit einer dieser kleinen Ballerinas, die sich zum Lied des Nussknackers drehte. Aber ich interessierte mich nicht für die Ballerina, sondern für den quadratischen Spiegel dahinter.« Ich senkte meine Augen vor Scham. Ich wusste, wohin ihn seine Gedanken führen würden, und seine nächsten Worte belegten meine Theorie.
»Also hast du ihn benutzt, um dir das Leben zu nehmen«, beendete er die Geschichte für mich in einem traurigen Ton. Aber mein Zorn ging durch die Decke, und ich sprang wutentbrannt aus meinem Stuhl.
Er war sichtlich schockiert über meine Reaktion.
»Ich habe niemals versucht, mir das Leben zu nehmen!«